Ausgang jedes Schreibens ist die Neugier

Einführung in die Lesung von Arno Geiger

Im Rahmen der Veranstaltung Literatur im Gespräch, 11.07.2024

© congerdesign, canva

Geboren wurde Arno Geiger 1968 in Bregenz am Bodensee. Aufgewachsen ist er in Wolfurt im Vorarlberger Land „zwischen mehreren Grenzen – der schweizer, der liechtensteiner und der deutschen“. Er studierte Deutsche Philologie, Alte Geschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Innsbruck. Von 1986 bis 2002 arbeitete er in den Sommermonaten als Ton- und Videotechniker auf der Seebühne der Bregenzer Festspiele.

Als Schriftsteller debütierte er 1996 mit einer Lesung beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. 1997 veröffentlichte der Hanser-Verlag seinen ersten Roman Kleine Schule des Karussellfahrens. Sein zweiter Roman Irrlichterloh (1999) ist „ein Liebesroman fast ohne Liebe“, der dritte Roman Schöne Freunde (2002) erzählt von den Folgen eines schrecklichen Grubenunglücks und dem Aufbruch der Überlebenden ins Ungewisse. Der Durchbruch gelang Arno Geiger mit dem Roman Es geht uns gut, der zu den bedeutendsten Geschichts- und Familienromanen der Gegenwart gehört und mit dem 2005 erstmals verliehenen Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

Der Prosaband Anna nicht vergessen (2007) erzählt in zwölf Geschichten von gescheiterten und unglücklichen Menschen, von Lebensträumen und Lebensdesastern. Geigers fünfter Roman Alles über Sally (2010) ist ein einfühlsames Porträt einer Ehe in den mittleren Jahren. Es ist ein „Abenteuerroman“ über den Ehebruch mit Happy End, ein Roman, „an dem etwas Alltagsdreck klebt“, wie Geiger in einem Interview sagte. Der sechste Roman Selbstporträt mit Flusspferd (2015) erzählt die Trennung Julians von Judith, von seinem Sommer bei Professor Beham und dessen Flusspferd, das er pflegt und seiner geheimnisvollen Tochter Aiko, die ihm den Kopf verdreht.
Julian erfährt: Leben lernen heißt auch, das Ambivalente und Schwere zu begreifen lernen.

 

Demütiger Schreibgestus

Arno Geigers Buch Der alte König in seinem Exil (2011) verzichtet auf eine Gattungsbezeichnung. Es ist weder ein Roman noch eine Novelle, weder ein Sachbuch noch eine wissenschaftliche Abhandlung. Und dennoch ist es vieles zugleich: Autobiografie, Familiengeschichte, Vatererzählung, Dorfchronik, vor allem aber ein autobiografischer poetischer Essay und eine zeitgeschichtliche Erzählung über den 1926 geborenen Vater August Geiger, bei dem sich 1995 erste Anzeichen der Alzheimer-Erkrankung zeigten. Arno Geiger behandelt das Thema auf gänzlich neue Weise: Er stellt keine Diagnosen wie Jonathan Franzen in dem Essay Das Gehirn meines Vaters und dem Roman Die Korrekturen. Er rechnet nicht ab wie Tilman Jens in Demenz. Abschied von meinem Vater, der dem Vater vorwirft, er habe sich aus Scham über seine Mitgliedschaft in der NSDAP in die Demenz geflüchtet. Er unterscheidet sich durch seine einfühlsame Sprachhaltung auch von Burkard Spinnens Die letzte Fassade. Wie meine Mutter dement wurde (2016). Arno Geiger begegnet dem an Alzheimer Erkrankten mit Empathie, in einer mitfühlenden, geradezu ehrfürchtigen Haltung, die auch das Familienleben grundlegend verändert: eine neue Solidarität entsteht untereinander.

Das Buch ist ein Sprach-Ereignis, ein völlig neuer Ton in der Literatur über Väter. Es ist keine „nachgetragene Liebe“, sondern eine zu Lebzeiten des Vaters geübte. Dem Autor geht es nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, er beschwört vielmehr die Würde dementer Menschen und „schafft dem König so ein Reich, in dem er in Würde nicht nur alt werden kann, sondern auch irre sein darf“. Dabei blendet er die Nachtseiten nicht aus: „Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus“ (12).

In der Dankrede zum Hölderlin-Preis sagte Geiger: „Mein Vater würde gerne die Wörter finden, die er braucht, um zu sagen, was er wahrnimmt und empfindet. Sein Sprachverlust verschluckt die Welt mit langsamen Bissen.“

Sein Schreibgestus ist ein „demütiger, bescheidener, liebevoller, dankbarer“. „Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesellschaft, ist er noch immer ein beachtlicher Mensch“ (11) – eben ein König in seinem Exil.“

 

Schreiben ist ein Hinübergehen

Diese Schreibhaltung hat Arno Geiger in seiner Dankrede zur Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises so formuliert: „Das Schreiben eines Romans ist immer ein Hinübergehen. Ausgangspunkt jedes Schreibbeginns ist bei mir Neugier, der Impuls: Ich verstünde es gerne besser, ich muss hinübergehen. Wüsste ich viel oder sogar sehr viel, dann ließe ich das Schreiben vielleicht.“ Zum Glück weiß Arno Geiger nicht alles und schreibt weiter.

Sein letzter Roman Unter der Drachenwand ist der Versuch, ein Kriegsjahr, das Jahr 1944, nicht nur aus der Perspektive des Helden Veit Kolbe, sondern multiperspektivisch einzufangen.
Alles „Totale“ ist ihm verdächtig. So sind seine Figuren keine Hundertprozentigen, sondern Graue. Extremisten sind besessen, sie kennen nur Schwarz und Weiß, sie weigern sich, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten als der eigenen. Deshalb seine Vorliebe für Vielstimmigkeit in Romanen. Deshalb seine Vorliebe für gemischte Charaktere.

„Kunst ist nicht rechts oder links auf eine ganz grundsätzliche Art, sie schlägt sich nicht auf eine Seite, sie setzt sich zwischen die Stühle. Kunst ist nicht objektiv, aber in der Tiefe des Erzählten, in der Tiefe der Gestalt, stößt Literatur, wenn sie großartig ist, auf grundsätzlich Menschliches. Und im grundsätzlich Menschlichen hat Literatur Anteil am Objektiven. Aber das Objektive ist nicht ihr oberster Anspruch, ihr oberster Anspruch ist das Individuelle.“

 

Poetologische Selbstauskunft

Heute Abend liest Arno Geiger aus dem Buch Das glückliche Geheimnis. Es ist 2023 erschienen und ist so etwas wie eine poetologische Selbstauskunft. Seit Jahren habe ich versucht, Arno Geiger in die Katholische Akademie einzuladen. 2020 hatten wir sogar schon das Programm gedruckt und dann kam die Corona-Pandemie dazwischen.

Der heutige Abend hat deshalb einen besonderen Kairos: Arno Geiger nimmt uns noch einmal mit in seine Tauchgänge in die Papiercontainer Wiens und zugleich ist schon sein neuer Roman Reise nach Laredo fertig, der für den Herbst angekündigt ist. Mir schien es aber wichtig, den persönlichsten Geiger, sein glückliches Geheimnis noch einmal zu Gehör zu bringen, weil es das Gesamtwerk von Arno Geiger entschlüsselt.

Mir erzählte eine Buchhändlerin, sie sei in eine Lesekrise geraten, sie konnte keine Bücher mehr lesen. Und das als Buchhändlerin! Eine Art von Berufsunfähigkeit! Da kam ihr das Buch von Arno Geiger in die Hände und die Faszination der Literatur war für sie wieder da. Wie es zu dieser Metamorphose kam, wird hoffentlich der heutige Abend enträtseln.

 

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