Der Weg einer frühjüdischen Gruppe in die Eigenständigkeit

Die Entwicklung des Christusglaubens zu einer neuen Religion

Im Rahmen der Veranstaltung Biblische Tage – Die Apostelgeschichte, 11.04.2022

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Den Weg von den Anfängen einer kleinen frühjüdischen Gruppierung von Christusgläubigen zur neuen, eigenständigen Religion des Christentums in einem einstündigen Vortrag vollständig nachzeichnen zu wollen, wäre ein unrealistisches Vorhaben. Denn dieser Weg verlief nicht linear und war nicht von vorneherein beabsichtigt oder alternativlos. Vielmehr gab es Weggabelungen, die eine Richtungsentscheidung forderten, ohne dass danach alle die gewählte Richtung einschlugen. Hinzu kommt, dass die Quellenlage bei weitem nicht für alle Etappen dieses Weges gut ist.

Auf relativ sicherem Boden bewegen wir uns dank der Paulusbriefe und der Apostelgeschichte bei der ersten Etappe zwischen ca. 30–60 n. C. Besonders informativ ist der autobiographische Rückblick Gal 1,13–2,14a. Hier lässt Paulus Ereignisse Revue passieren, die sich als richtungsweisend für den Weg der Christusgläubigen aus dem Frühjudentum heraus in die religiöse Selbständigkeit erweisen sollten. Insofern er jedoch selbst in diese Ereignisse involviert war, blickt er aus seiner subjektiven Perspektive darauf zurück. Doch auch die Apg berichtet gegen Ende des 1. Jh. nicht objektiv von den Anfängen der Bewegung der Christusgläubigen. Vielmehr nutzt ihr Autor den literarischen Gestaltungsspielraum antiker Geschichtsschreibung und schildert die Ereignisse gemäß seinem theologischen Konzept.

Paulusbriefe wie Apg haben also ihre je eigenen Besonderheiten, die bei der Bewertung ihrer Informationen zu berücksichtigen sind. Geschieht dies, ermöglichen sie es, ein historisch plausibles Bild vom Beginn des Weges zu konstruieren, der die frühjüdische Bewegung der Christusgläubigen in die religiöse Eigenständigkeit führte. Auf dieser ersten Wegetappe liegt hier der Fokus. Denn schon auf dieser Etappe erfolgen entscheidende Weichenstellungen für die weitere Entwicklung.

Jerusalem als erstes nachösterliches Zentrum der Christusgläubigen

Unter dem Eindruck der für sie traumatischen Ereignisse von Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung Jesu von Nazaret zerstreuten sich seine Gefolgsleute. Auch die Zwölf als der engste Kreis um Jesus sahen ihre Hoffnungen zerstört und flohen. Doch kurz danach finden sie wieder zusammen aufgrund von völlig unverhofften Begegnungen mit dem Gekreuzigten. Ihn erfahren sie als lebend und bezeugen, dass er durch Gottes Macht von den Toten auferweckt und in eine himmlisch–messianische Machtstellung zur Rechten Gottes erhöht wurde. Historisch vertrauenswürdig dürfte die Apg darin sein, dass sie Jerusalem als erstes nachösterliches Zentrum der Christusgläubigen ausweist. Hier – in der Stadt des Tempels als der Stätte der göttlichen Gegenwart und zugleich am Ort der erhofften endzeitlichen Königsherrschaft Gottes (vgl. Jes 52,7–10; Mich 4,6f; Zef 3,14–17) – sammelten sie sich um Petrus als Leitfigur.

Bereits im vorösterlichen Zwölferkreis war Petrus eine Führungsrolle zugewachsen, woran er bei den Passionsereignissen zunächst scheiterte. Dennoch wurde er rehabilitiert, indem der Auferweckte ihm als erstem der Zwölf erschien. Dies ist durch eine alte Bekenntnisformel verbürgt, die Paulus in 1Kor 15,3b–5 zitiert. Infolge dieser visionären Begegnung brachte Petrus die Mitglieder des Zwölferkreises (mit Ausnahme des Judas Iskariot) wieder zusammen, denen dann gemeinsam eine weitere Erscheinung zuteilwurde (vgl. 1Kor 15,5: „… und dass er erschien dem Kephas, dann den Zwölfen“).

Diese Erscheinung dürfte die Zwölf veranlasst haben, die vorösterliche Verkündigung Jesu an Israel wieder aufzunehmen. Denn nichts symbolisierte so sehr wie der Zwölferkreis die Absicht Jesu, Israel als Zwölfstämme–Volk für die endzeitliche Herrschaft Gottes zu sammeln. Diese Absicht fand nun offenbar durch die Erscheinung des Auferstandenen vor den Zwölfen ihre nachösterliche Bestätigung. Allerdings stand die Wiederaufnahme der Verkündigung an Israel unter einem neuen Vorzeichen: Gott hatte durch sein auferweckendes Handeln am gekreuzigten Jesus ihn und seine Botschaft bestätigt. Damit aber wurde Jesus selbst in die nachösterliche Verkündigung an Israel hineingenommen.

Die Kehrseite der erneuten Hinwendung zu Israel unter dem Eindruck der Osterereignisse ist, dass die Jerusalemer Urgemeinde die Frage nach dem Heil der Heidenvölker zunächst nicht reflektiert. Zwar gilt: So wenig Jesus bei seiner israelzentrierten Verkündigung (vgl. Mt 10,5) die Heiden kategorisch vom Heil ausgeschlossen hatte (vgl. etwa Mk 7,25–30; Lk 7,1–10 par. Mt 8,5–10.13), so wenig geschieht dies nachösterlich. Doch erfolgt in einer ersten Phase noch keine Hinwendung zur Völkerwelt. Zwar ist mit dem Motiv der endzeitlichen Herrschaft Gottes die Erwartung verbunden, dass sich Gott als König nicht nur über Israel, sondern über alle Völker erweisen wird (vgl. z.B. Sach 14,6–9; Mich 4,1–5.6f; Zef 3,9.14f; Dan 7,13f). Doch spielt dieser universale Aspekt in der frühen Verkündigung der Jerusalemer Urgemeinde, die zunächst wohl hauptsächlich aus vorösterlichen, galiläischen Gefolgsleuten Jesu bestand, keine Rolle.

Die Ausdifferenzierung der Jerusalemer Urgemeinde in „Hebräer“ und „Hellenisten“

Bald schon begann die Verkündigung der Jerusalemer Christusgläubigen Früchte zu tragen. Die Urgemeinde wuchs (Apg 2,47; 6,1.7), wenngleich wohl viel moderater, als es Lukas angibt (Apg 2,41). Zugleich entstanden zwei Gemeindegruppen, deren Mitglieder sich unterschieden in Herkunft und Sprache sowie in den theologischen Konsequenzen, die sie aus dem Christusglauben ableiteten. Unvermittelt führt Lukas in Apg 6,1 diese beiden Gruppen ein, die er als „Hellenisten“ und „Hebräer“ bezeichnet. Als unumstritten gilt, dass Lukas hier unter der Bezeichnung „Hebräer“ die aramäisch-sprachigen Christusgläubigen um Petrus und den Zwölferkreis versteht, unter „Hellenisten“ dagegen griechisch-sprachige Christusgläubige, die aus den Jerusalemer Diasporasynagogen zur Urgemeinde gestoßen waren.

Entgegen seiner sonst idealisierenden Darstellung der Anfangszeit (Apg 2,42–47; 4,32–37) verbindet Lukas die Ausdifferenzierung der Urgemeinde in Hebräer und Hellenisten mit einem sozialen Konflikt, der aus der Vernachlässigung der hellenistischen Witwen bei der materiellen Unterstützung durch die Gruppe der Hebräer erwuchs (Apg 6,1). Doch wird dieser Konflikt durch den Zwölferkreis (Apg 6,2) zügig beigelegt. Zunächst erklären sich die Zwölf für nicht zuständig, weil sie ihre genuine Aufgabe im Gebet und in der Verkündigung sehen (Apg 6,2.4). Deshalb empfehlen sie der Gemeindeversammlung, eine Siebenergruppe zu wählen, die sich um soziale Aufgaben in der Gemeinde kümmern soll (Apg 6,3). Die aufgrund dieser Empfehlung Gewählten mit Stephanus als Erstgenanntem tragen alle griechische Namen, was auf ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Hellenisten hinweist (Apg 6,5). Nach Einsetzung in ihre Aufgabe durch die Zwölf (Apg 6,6) ist der Frieden wiederhergestellt und die Gemeinde kann weiterwachsen (Apg 6,7).

Abgesehen vom Faible des Lukas für soziale Fragen kennzeichnet die Darstellung Apg 6,1–7, dass der Zwölferkreis das Verkündigungsmonopol für sich beansprucht. Allerdings berichtet Lukas nichts davon, dass die Siebenergruppe sich ihrer sozialen Aufgabe auch widmet. Stattdessen erzählt er sofort danach (Apg 6,8–10), dass Stephanus im Tätigkeitsfeld des Zwölferkreises „wildert“. Denn Stephanus verkündigt in den Diasporasynagogen (Apg 6,9f) und missachtet damit den Alleinanspruch des Zwölferkreises auf den „Dienst am Wort“, den dieser kurz zuvor für sich reklamiert hatte.

Das legt nahe, dass es sich bei der Siebenergruppe keineswegs um ein dem Zwölferkreis untergeordnetes Gremium für soziale Aufgaben („Dienst an den Tischen“) in der Urgemeinde handelte. Vielmehr bildete wohl diese Gruppe das Leitungsgremium der griechisch-sprachigen Christusgläubigen Jerusalems, und zwar mit Stephanus an der Spitze – analog der Rolle des Petrus im Zwölferkreis. Für die weitere Entwicklung der Urgemeinde erwies sich jedoch nicht die Koexistenz von Hebräern und Hellenisten als problematisch. Vielmehr formierte sich eine Konfliktlinie innerhalb der Diasporasynagogen in der Tempelstadt, die zwischen ihren christusgläubigen und ihren nichtchristusgläubigen Mitgliedern verlief und schließlich eskalierte.

Der Tod des Stephanus und die Vertreibung der Hellenisten aus Jerusalem

Bei den Jerusalemer Diasporajuden handelte es sich um fromme, toratreue Menschen, die bewusst in die Tempelstadt Jerusalem als dem religiösen Zentrum ihres Glaubens übersiedelt waren. Da sie im Unterschied zur einheimischen Bevölkerung griechische Muttersprachler waren, organisierten sie sich in eigenen, oft nach ihrem Herkunftsgebiet unterschiedenen Synagogengemeinden. Apg 6,9–14 erzählt nun vom Ausbruch der Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern dieser Diasporasynagogen und dem Stephanus als Sprecher der Christusgläubigen unter ihnen.

Der Hauptvorwurf gegen Stephanus lautet (Apg 6,13b–14): „Dieser Mensch hört nicht auf, gegen diesen heiligen Ort und das Gesetz zu reden. Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort zerstören und die Bräuche ändern, die uns Mose überliefert hat.“ Lukas etikettiert diesen Vorwurf gegen Stephanus als Falschzeugnis. Doch dürfte der Vorwurf historisch zutreffend den Kern der Kontroverse innerhalb der Jerusalemer Diasporasynagogen erfassen. Ihre Mitglieder verbanden nämlich mit dem Tempel die entscheidende heilsvermittelnde Funktion, galt er doch als Ort der Gegenwart Gottes (Ps 68, 25–30; 76,3; Weish 9,8) und zudem als Wohnsitz der präexistenten göttlichen Weisheit (Sir 24,8–12; Weish 9,9), die mit der Tora identifiziert wurde (Bar 4,1; Sir 24,23).

Als nun aus ihren Reihen Menschen zum Christusglauben fanden, reflektierten sie den Tod Christi gerade im Hinblick auf dessen heilsvermittelnde Kraft. Damit gerieten zwei Konzepte der Heilsvermittlung (durch Tempel und Tora bzw. durch den Tod Christi) in Konkurrenz. Entsprechend entwickelten die Hellenisten um Stephanus eine tempel- und torakritische Position. Daraus erwuchs ein heftiger Konflikt zwischen den christusgläubigen und den nichtchristusgläubigen Diasporajuden Jerusalems, der in der Steinigung des Stephanus (Apg 6,8–8,1a) sowie in der Vertreibung der hellenistischen Christusgläubigen aus der Stadt (Apg 8,1b–3; 11,19) eskalierte. Damit gelangte die Christusbotschaft erstmals über die Grenzen des jüdischen Mutterlandes hinaus in die Diaspora, und zwar in der den hellenistischen Christusgläubigen eigenen tempel- und torakritischen Interpretation.

Die Gemeinde in Antiochia am Orontes als erster Hotspot der Verkündigung unter den Heiden

Die tempel- und torakritische Interpretation des Christusglaubens barg das Potential in sich, die Verkündigung über Israel hinaus universal auszuweiten. Programmatischen Charakter gewinnt die Verkündigung an nichtjüdische Menschen zuerst im syrischen Antiochia. Dort begannen laut Apg 11,19f einige der aus Jerusalem vertriebenen hellenistischen Christusgläubigen, die aus Zypern und Zyrene stammten, das Evangelium auch an Heiden zu verkünden. Interessanterweise findet sich in Apg 13,1 eine als historisch belastbar geltende Namensliste von Propheten und Lehrern, bei denen es sich wohl um die Mitglieder des Gemeindeleitungsteams in Antiochia handelt. An erster Stelle steht hier der Name Barnabas, der nach Apg 4,36 ein aus Zypern stammender Jerusalemer Disporajude war und wohl früh zur Jerusalemer Gemeinde fand.

Theologisch stand Barnabas vermutlich dem Stephanuskreis nah und war daher wohl auch betroffen von der Vertreibung der christusgläubigen Diasporajuden aus Jerusalem (Apg 8,1b). Zudem ist in der Liste Apg 13,1 ein Lucius aus Zyrene genannt. Kombiniert man die Informationen aus Apg 11,20 und 13,1, dann dürfte es sich also bei Barnabas und Lucius um Gründungsmitglieder der Christengemeinde von Antiochia und um Protagonisten der dort betriebenen Heidenmission handeln, die nachfolgend mit weiteren Personen gemeindliche Leitungsverantwortung trugen.

Dazu steht allerdings Apg 11,22–24 im Widerspruch. Demnach nämlich wäre Barnabas erst einige Zeit nach Gründung der antiochenischen Gemeinde durch die in Jerusalem verbliebene aramäisch-sprachige Gemeindegruppe um Petrus nach Antiochia entsandt worden. Doch spiegelt diese Passage unverkennbar die Intention des Lukas wider, eine Rückbindung der antiochenischen Gemeinde und das von ihr betriebene Projekt der Heidenmission an Jerusalem und Petrus sicherzustellen. Dazu passt, dass Lukas direkt vor der Notiz über die Anfänge der antiochenischen Gemeinde in Apg 10,1–11,18 ausführlich Petrus als Protagonisten und theologischen Befürworter der auflagenfreien Heidenmission präsentiert hat. Als historisch glaubwürdig darf man der Darstellung des Lukas wohl Folgendes entnehmen: 1. Unter den in Jerusalem verbliebenen aramäisch-sprachigen Christusgläubigen, die auf der gemeinsamen Basis einer Akzeptanz der Tora teils strengere, teils weniger strenge Positionen vertraten, nahm Petrus eine eher gesetzesliberale Haltung ein. 2. Barnabas besaß bereits in Jerusalem, aber auch später während seiner Zeit in Antiochia gute Kontakte zum Kreis der Christusgläubigen um Petrus, die über das Haus der Maria und ihres Sohnes Johannes Markus, die mit Barnabas verwandt waren, verlaufen sein dürften (vgl. Apg 12,12–17; 13,5; 15,36–39).

Die Mitgliederliste des antiochenischen Gemeindeleitungsteams (Apg 13,1) weist an ihrem Ende noch den Namen einer der prominentesten Personen des Urchristentums auf: Saulus/Paulus. Einen beachtenswerten Hinweis, wie Paulus nach Antiochia kam, bietet er selbst in seinem autobiographischen Rückblick Gal 1,13–2,14a. Nachdem er sich nämlich unmittelbar nach seinem Offenbarungserlebnis zunächst für gut zwei Jahre in die Nabatäerstädte Arabiens zurückgezogen hatte, wohl um das Geschehnis zu verarbeiten und in seinen theologischen Konsequenzen zu reflektieren, beginnt er zurückgekehrt nach Damaskus nicht sofort mit seiner Verkündigung in Syrien und Kilikien (Gal 1,15–17.21).

Stattdessen reist Paulus zuvor nach Jerusalem, und zwar mit dem erklärten Ziel, Petrus kennenzulernen (Gal 1,18). Ob sein Interesse an Petrus aus dessen vorösterlicher und/oder nachösterlicher Rolle erwächst, erscheint fraglich angesichts seiner fehlenden Hochschätzung menschlicher Autoritäten unter den Christusgläubigen (Gal 2,6; vgl. 1Kor 3,21–23). Plausibel erklären lässt sich das Interesse jedoch, sofern Paulus von der gesetzesliberalen Einstellung des Petrus gehört hatte und sich von ihm Unterstützung versprach bei der Umsetzung seiner göttlichen Beauftragung, Gottes Sohn „als Evangelium unter den Heiden zu verkünden“ (Gal 1,16a). Diese Unterstützung könnte Petrus ihm dadurch geleistet haben, dass er Barnabas, der in Antiochia ja ebenfalls das Projekt der Heidenmission betrieb, auf Paulus aufmerksam machte. Ein Indiz dafür ist die unvermittelte Feststellung in Apg 11,25f, dass Paulus auf Initiative des Barnabas nach Antiochia kam und sie dort gemeinsam wirkten.

Diese Zusammenarbeit war für Paulus attraktiv, weil die in Antiochia betriebene Heidenmission seinem Verständnis des eigenen Berufungsauftrags entsprach. Während seiner antiochenischen Jahre (ca. 35–48 n. C.) wurde Paulus einerseits durch die theologischen Traditionen der Gemeinde geprägt und bestimmte andererseits selbst als Mitglied im Gemeindeleitungsteam (Apg 13,1) ihre theologische Entwicklung mit. Dabei führte die konsequente Öffnung der Gemeinde für heidnische Menschen unter Verzicht auf deren Konversion zum jüdischen Glauben die antiochenischen Christusgläubigen bereits über die Grenzen der jüdischen Gemeinschaft hinaus. Insofern ist es historisch glaubwürdig, wenn Lukas in Apg 11,26 vermerkt, dass in Antiochia die Christusgläubigen erstmals als eigenständige religiöse Gruppierung wahrgenommen wurden.

Die Grundsatzentscheidung des Jerusalemer Aposteltreffens

Der missionarische Kurs Antiochias stieß alsbald auf den Widerstand der streng toraobservanten Christusgläubigen Jerusalems (Apg 15,1f., vgl. Gal 2,4). Dabei protestierten sie wohl nicht gegen die Heidenmission an sich, sondern dagegen, Christusgläubige heidnischer Herkunft ohne Verpflichtung auf Beschneidung und Toragehorsam in die religiöse Gemeinschaft des jüdischen Volkes zu integrieren. Dafür konnten sie gewichtige Argumente anführen: Wenn Menschen heidnischer Herkunft zum Glauben an Jesus als den Messias/Christus Israels gelangen und sich damit eine jüdische Heilshoffnung zu eigen machen, dann müssen sie auch Mitglied der jüdischen Volks– und Glaubensgemeinschaft werden, um dieses Heil zu erlangen. Verschärfend kam hinzu, dass Israel als Adressat der Botschaft Jesu nachösterlich durch die Erscheinung des Auferstandenen vor dem Zwölferkreis bestätigt worden war.

Die Gemeinde von Antiochia wählte den Weg offensiver Verteidigung und schickte eine Delegation nach Jerusalem, zu der Barnabas, Paulus und Titus als ein unbeschnittener antiochenischer Christusgläubiger gehörten (Gal 2,1.3; Apg 15,2). Dort legte Paulus als Mitglied dieser Delegation das in Antiochia den Heiden verkündete Evangelium dar. Auf der argumentativen Basis der inzwischen in ihrer Gemeinde geleisteten theologischen Arbeit versuchten die Antiochener also, in der Streitfrage um die Konditionen der Heidenmission einen Konsens mit Jerusalem zu erzielen. Denn eine Zustimmung der Jerusalemer Urgemeinde als Ausgangspunkt und Zentrum (nicht Zentrale!) des nachösterlichen Christusglaubens war für die antiochenische Gemeinde wichtig, um die eigene Verkündigung nicht zu schwächen.

Interessant ist nun, wem die theologischen Argumente für die auflagenfreie Heidenmission präsentiert werden. Laut Gal 2,2 zuerst „ihnen“ – wobei Paulus hier wohl die Vollversammlung der Jerusalemer Gemeinde im Blick hat (revEÜ übersetzt entsprechend interpretierend mit „Gemeinde“) – und anschließend den „Angesehenen“, d. h. dem dreiköpfigen Leitungsteam, bestehend aus Jakobus, Petrus und Johannes (vgl. Gal 2,9). Damit gibt Paulus zu erkennen: Die Vollversammlung der Jerusalemer Gemeinde machte sich die theologische Argumentation zugunsten der auflagenfreien Heidenmission nicht zu eigen.

Die erhoffte Einigung wurde erst auf der Leitungsebene erzielt (VV.6–10). Sie bestand 1. in einer grundsätzlichen Akzeptanz der antiochenischen Heidenmission, verbunden 2. mit einer Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche. Dabei sollten Petrus/Jerusalem für die Verkündigung unter jüdischen Menschen, Paulus/Antiochia aber für die Verkündigung unter heidnischen Menschen verantwortlich sein. Schließlich wurde 3. eine materielle Unterstützung der Jerusalemer Urgemeinde durch die antiochenische Gemeinde als Ausdruck der wechselseitigen Verbundenheit (Gal 2,10; vgl. 2Kor 9,12–14; Röm 15,25–27) vereinbart.

Vergleicht man die Darstellung des Jerusalemer Aposteltreffens durch Paulus als Beteiligtem (Gal 2,1–10)
mit der späteren historiographischen Darstellung des Lukas (Apg 15,1–29), so stimmen beide Versionen in der Grundsatzentscheidung zugunsten der auflagenfreien Heidenmission überein. Lukas übergeht jedoch die Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche, präzisiert aber die Grundsatzentscheidung durch die Verpflichtung der Christusgläubigen heidnischer Herkunft auf die Beachtung ritueller jüdischer Mindeststandards (Jakobusklauseln) (Apg 15,19f. 28f.). In diesem Punkt besteht ein unlösbarer Widerspruch zwischen der Version des Lukas und der paulinischen Version. Denn Paulus betont, dass die Jerusalemer Grundsatzentscheidung mit keinen Einschränkungen verknüpft wurde (Gal 2,6). Seiner Version
als der eines Teilnehmers am Treffen ist historisch der Vorzug zu geben.

Mit der Jerusalemer Entscheidung zugunsten einer auflagenfreien Heidenmission war der nächste richtungsweisende Schritt in die religiöse Eigenständigkeit der Christusgläubigen gemacht. Denn mit dieser Entscheidung wurde den Antiochenern die Verantwortung für die Heidenmission übertragen, die sie von da an engagiert und erfolgreich unter deutlicher geographischer Ausweitung ihres Aktionsradius wahrnahmen.

Die erste und zweite Missionsreise des Paulus

So beauftragte die antiochenische Gemeinde Barnabas und Paulus zu einer ersten größer angelegten Missionsreise, die sie nach Zypern und Südgalatien führte (Apg 13f.). Nach Darstellung der Apg fand diese 1. Missionsreise allerdings vor dem Jerusalemer Aposteltreffen (Apg 15) statt. Doch widerspricht die Chronologie des Lukas dem Selbstzeugnis des Paulus. Denn laut Galaterbrief beschränkt sich seine Missionstätigkeit zwischen seinen beiden Jerusalembesuchen (1,18; 2,1) auf Syrien und Kilikien (1,21). Historisch ist die Abfolge Jerusalemer Aposteltreffen – 1. Missionsreise sehr plausibel. Denn auf der Basis der Jerusalemer Entscheidung konnte die antiochenische Gemeinde auf ihre spezielle Verantwortung für die Heidenmission verweisen und diese forciert vorantreiben.

Bereits die 2. Missionsreise (49–51 n. C.) unternahm Paulus ohne Barnabas, nachdem es im Vorfeld zu einem Dissens zwischen ihnen um die erneute Mitnahme von Johannes Markus als Begleiter gekommen war (Apg 15,36–40). Verbunden sind mit dieser Reise (Apg 15,40–18,22) Gemeindegründungen u.a. in den Metropolen Philippi, Thessaloniki und Korinth.

Als Paulus im Winter 51/52 n. C. nach Antiochia zurückkehrte (Apg 18,22), war sein Verhältnis zur Gemeinde und zu Barnabas noch nicht zerrüttet. Zum Bruch kam es wohl erst während dieses Winteraufenthaltes, und zwar verursacht durch den antiochenischen Zwischenfall. Dieses konfliktive Ereignis trieb die Entwicklung der frühjüdischen Bewegung der Christusgläubigen zu einer neuen, eigenständigen Religion entscheidend voran.

Der Konflikt in Antiochia

Der Konflikt in Antiochia, der an der Frage der Tischgemeinschaft zwischen Christusgläubigen jüdischer und heidnischer Herkunft entbrannte, gründete in zwei Schwachstellen der Jerusalemer Vereinbarung: 1. Über die auflagenfreie Heidenmission war nur im Grundsatz positiv entschieden worden, Fragen des gemeindlichen Zusammenlebens beider Gruppen blieben ausgeblendet. 2. Das Jerusalemer Leitungsteam versäumte es, die Gemeindebasis, an der es offenbar massive Bedenken gegen diese Form der Heidenmission gab, in die Entscheidungsfindung einzubinden.

Als nun die Delegation aus Antiochia mit dem Ergebnis des Jerusalemer Treffens in ihre Gemeinde zurückkehrte, sah man dort den eigenen theologischen Standpunkt durch die Vereinbarung bestätigt. Wenn aber heidnische Menschen ohne Auflagen getauft und in die Gemeinde aufgenommen werden durften, war es nur folgerichtig, dass sie auch gleichberechtigt mit den christusgläubigen Juden in der Gemeinde zusammenlebten. Ein solches Zusammenleben konkretisierte sich besonders durch die Tischgemeinschaft bei der Feier des Herrenmahls. Die christusgläubigen Juden mussten dazu jedoch die religionsgesetzlichen Hürden, die ein gemeinsames Essen mit nichtjüdischen Menschen zumindest erheblich einschränkten, missachten. In Antiochia sah man dies offenbar durch die Jerusalemer Vereinbarung gedeckt.

Dieser Sichtweise schloss sich Petrus an. Denn als er einige Zeit nach dem Jerusalemer Treffen nach Antiochia kam, aß auch er zusammen mit den Gemeindemitgliedern heidnischer Herkunft (Gal 2,12a). Dann aber treffen aus Jerusalem einige Leute aus dem Umfeld des Jakobus in Antiochia ein. Daraufhin gibt Petrus die zuvor praktizierte integrative Tischgemeinschaft auf (Gal 2,12b). Seinem Beispiel schließen sich die christusgläubigen Juden Antiochias inklusive Barnabas an (Gal 2,13). Sie alle distanzieren sich damit von ihrer bisherigen Interpretation der Jerusalemer Vereinbarung und schwenken auf die offenbar engere Auslegung der Jakobusleute ein. Demnach forderte der Verzicht auf die Beschneidung von Christusgläubigen heidnischer Herkunft, diese Gruppe aufgrund des jüdischen Religionsgesetzes von den christusgläubigen Juden innergemeindlich zu separieren.

Möglicherweise wollten Jakobus und sein Kreis mit dieser restriktiveren Auslegung der Vereinbarung verhindern, dass die Situation in Jerusalem innergemeindlich wie nach außen zu den nichtchristusgläubigen Juden hin eskalierte. Dies könnte die paulinische Bemerkung erklären, der Rückzug des Petrus von der Tischgemeinschaft sei dessen Furcht „vor denen aus der Beschneidung“ geschuldet (Gal 2,12b). Für Paulus allerdings rücken damit Petrus und alle anderen von der „Wahrheit des Evangeliums“ ab (Gal 2,14a).

Um dieser Wahrheit gerecht zu werden, gehört für Paulus zum Verzicht auf Beschneidung von Christusgläubigen heidnischer Herkunft deren vollständige, auflagenfreie Integration in die Gemeinde dazu, die durch die judenchristlichen Mitglieder zu gewährleisten ist. Während dieser Aspekt der Gemeindepraxis für Paulus unverzichtbar ist, wird er von den Jakobusleuten, Kephas sowie den antiochenischen Judenchristen um Barnabas offenbar als nachrangig eingestuft.

Dennoch haben sie angesichts des paulinischen Protestes wohl nach einer Konfliktlösung gesucht. Und hier kommen die Jakobusklauseln (Apg 15,19f. 28f.; vgl. 21,25) ins Spiel, die historisch zum Kontext des antiochenischen Zwischenfalls gehören dürften. Diese Klauseln formulieren religionsgesetzliche Mindestanforderungen an die Christusgläubigen heidnischer Herkunft, um judenchristlichen Gemeindemitgliedern die Tischgemeinschaft mit ihnen zu ermöglichen.

Der Katalog dieser Mindestanforderungen umfasst auf der Basis von Lev 17f. den Verzicht auf Götzendienst/Götzenopferfleisch, den Verzicht auf Unzucht (= Verpflichtung auf die strengen sexualethischen Bestimmungen der Tora) sowie den Verzicht auf Blut und Ersticktes (= nicht koscher geschlachtetes Fleisch). Dieser Kompromissvorschlag ließ die Jerusalemer Grundsatzentscheidung (Verzicht auf Beschneidung und auf Beachtung der gesamten Tora) unangetastet. Zwar legte er den Christusgläubigen heidnischer Herkunft Einschränkungen auf, sollte jedoch die integrative Gemeindepraxis dauerhaft garantieren. Paulus allerdings ließ sich auf diesen Kompromiss nicht ein und nahm für seine Unnachgiebigkeit den Bruch mit der antiochenischen Gemeinde in Kauf.

Fazit

Mit der exklusiv christologischen Heilskonzeption der Jerusalemer Hellenisten, mit der Entscheidung pro Heidenmission in Antiochia und mit der Jerusalemer Vereinbarung gab es schon zuvor richtungsweisende Entwicklungen und Entscheidungen. Mit der Kompromisslosigkeit des Paulus beim Konflikt in Antiochia aber wurden die Weichen unumkehrbar auf die Entwicklung des Christusglaubens hin zu einer neuen, eigenständigen Religion gestellt, auch wenn es neutestamentliche Spuren dafür gibt, dass die antiochenischen Klauseln noch jahrzehntelang in gruppeninternen Debatten und Auseinandersetzungen von Christusgläubigen (vgl. etwa die korinthische Kephasgruppe und die in 1Kor 5–10 erörterten Themen, die Unzuchtsklausel Mt 5,32; 19,9 oder die in den Sendschreiben nach Pergamon und Thyatira erhobenen Vorwürfe Offb 2,12–17.18–29) eine Rolle gespielt haben.

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