Die Cäcilienmesse von Charles Gounod

Im Rahmen der Veranstaltung "Kitsch oder Klasse? Die Cäcilienmesse von Charles Gounod", 17.05.2018

Im Rahmen der Veranstaltung "Kitsch oder Klasse? Die Cäcilienmesse von Charles Gounod", 17.05.2018

I.

„Bravo, mein lieber junger Mann, den ich schon als Kind gekannt habe, Ehre sei dem Gloria, Credo und vor allem dem Sanctus! Das ist schön, das ist wahrhaft religiös! Bravo! Ich danke Ihnen; Sie haben mich wirklich glücklich gemacht.“ Das schrieb August Poirson (1795–1870) in einem Dankesbrief an seinen ehemaligen Schützling Charles Gounod, dem er schon sieben Jahre zuvor geraten hatte: „Geh, mein Junge, und komponiere!“

Der junge Gounod hatte gerade seine erste Messkomposition in der Pariser Kirche Saint-Eustache dirigiert, sein erstes Werk dieser Gattung. Der damalige Organist an Saint-Eustache und Kapellmeister an der Pariser Oper, Pierre-Louis Dietsch (1808–1865), hatte ihn fünf Monate zuvor dazu aufgefordert: „Schreiben Sie doch eine Messe, ehe Sie nach Rom reisen; ich lasse sie in Saint-Eustache aufführen“. Nur wenige Tage später verließ der frischgebackene Rom-Stipendiat Paris, um seinen Aufenthalt in Rom zu beginnen. Auch dort sollte er geistliche Musik komponieren und sich mit der Stilistik großer Meister wie Palestrina, Bach und Mozart vertraut machen. Zurück in Paris, begann er ab 1843 als Maître de chapelle an der Kirche der Missions étrangères seine gewonnenen Erkenntnisse in die liturgische Praxis zu übertragen In diese Zeit fällt auch das Bestreben Gounods Priester zu werden, ein Ansinnen, welches er nach kurzem Studium am Karmeliter-Seminar an Saint-Sulpice im Frühjahr 1848 wieder aufgab. Nach dieser ersten Schaffensperiode mit geistlichen Werken betrat Gounod die Welt des Musiktheaters. Seine erste Oper Sapho (1851) hatte keinen durchschlagenden Erfolg, der Durchbruch auf diesem Gebiet gelang ihm erst mit Faust im Jahr 1859. Dennoch konnte Gounod vor allem durch die aktive Hilfe seines Schwiegervaters Pierre-Joseph-Guillaume Zimmerman (1785–1853), Klavierlehrer am Conservatoire, einen festen Platz im Pariser Musikleben besetzen. Er übernahm die Leitung der Pariser Chorvereinigung Orpheón von1852 bis1859 und die Zuständigkeit für den Vokalunterricht an den öffentlichen Pariser Schulen.

 

II.

 

In diese Zeit fällt die Entstehung seines bedeutendsten geistlichen Werkes, der Messe solennelle zu Ehren der Hl. Cäcilie. Erste Skizzen und Werkteile entstanden vermutlich bereits 1849 im Blick auf die jährlich am 22. November erstmals zelebrierte Cäcilienfeier an Saint-Eustache, bei der die Association des artistes musiciens jährlich in Verehrung ihrer Schutzheiligen eine Messkomposition zur Aufführung brachte. Musiziert wurde 1849 jedoch stattdessen eine Komposition von Louis Niedermeyer. Gounod komponierte wahrscheinlich zunächst Sanctus und Benedictus, möglicherweise existierten zu dieser Zeit auch schon Skizzen von Credo und Kyrie. Sanctus und Benedictus gelangten in der Londoner St Martin’s Hall am 15. Januar 1851 als Messfragment zur ersten Aufführung und wurden in der Fachpresse überschwänglich gelobt: „Wir erinnern uns keiner schlichteren, süßeren und erhabeneren Melodie als der des Sanctus. […] Es ist das Werk eines vollendeten Künstlers.“

Die erneuten Aufführungen der beiden Stücke am 4. Januar 1852 und des Sanctus am 6. April 1855 durch Jules Pasdeloup (1819–1887) waren wohl der Anlass für Gounod, seine bisher entstandenen Sätze zu einer vollständigen Missa zu komplettieren. Der Verleger Lebeau verfügte im Sommer 1855 über mindestens drei Stücke (Kyrie, Sanctus und Benedictus), welche durch die Zusendung des Credo am 15. August 1855 ergänzt wurden.

Im Sommerurlaub entstanden dann Gloria und Agnus Dei. Gounods Respekt vor dieser Aufgabe war groß. So schrieb er Ende August an seine Mutter: „Die Messe! In Musik! Durch einen armen Mann! – mein Gott! Hab Erbarmen mit mir!“ Ein Hinweis für die Einbindung des „Domine, non sum dignus, ut intres sub tectum meum“ („Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehest unter mein Dach“), das laut der liturgischen Ordnung direkt nach dem Agnus gesprochen wird, könnte in der Ehrfurcht Gounods vor der Kompositionsaufgabe zu finden sein. Die Messe wurde am 21. September 1855 fertiggestellt, allerdings noch ohne das „Domine salvum“. Gounod widmete sie seinem am 29. Oktober 1853 verstorbenen Schwiegervater Zimmerman, dem er in Bezug auf seine Stellung im Pariser Musikleben viel zu verdanken hatte. Auch das Offertoire für Orchester existierte zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht.

Zur vollständigen Erstaufführung gelangte die Cäcilienmesse am 29. November 1855 in Saint-Eustache in Paris. Für die Erstaufführungsbesetzung wird von mehreren Dirigenten, M. Tilmant sen. für das Orchester, die Herren Cornette, Bousquet, Cacères und Hurand für die Chöre, und zwei Organisten, Batiste an der Hauptorgel und Henon an der Chororgel, berichtet. Andere Quellen hingegen schreiben: „Tilmond dirigierte das Orchester, während Gounod die Chöre leitete.“ Auch wenn sich aus den Berichten die genaue Erstaufführungssituation nur bedingt rekonstruieren lässt, bleibt doch festzuhalten, dass eine Aufführung auf der Orgelhauptempore aufgrund der beengten Platzverhältnisse ausgeschlossen werden kann. Die Existenz einer Chororgel lässt sich für das Jahr 1855 nur indirekt belegen, Informationen über Standort und Disposition sind nicht verfügbar. In der Partitur ist explizit nur die Orgue du chœur gefordert. Somit bleibt der Einsatz der Hauptorgel neben der Chororgel fraglich, wenn auch nicht ausgeschlossen.

Die zeitlich unterschiedliche Genese der Messe bringt eine nicht durchgängig konsistente Besetzung mit sich, die Gounod auch vor der Drucklegung nicht durch einen korrigierenden Eingriff zu vereinheitlichen suchte. So werden die Posaunen in einigen Sätzen gar nicht oder nur sehr spärlich verwendet, im Gloria fehlen sie im Stimmenvorsatz völlig und werden durch eine Bemerkung unter dem letzten Partitursystem für die Coda des Gloria angekündigt. Der Zusatz „6 Harfen“ lässt sich sicherlich mit der großen Zahl von 300 der an der Uraufführung beteiligten Instrumentalisten und Choristen erklären.

Die auffälligste Besetzungsvorschrift ist die Verwendung einer Octobasse in Benedictus und Agnus Dei. Dieses seltene Instrument – es wurden nur drei Exemplare gebaut – kommt in den anderen Sätzen der Messe nicht zum Einsatz. Es handelt sich um einen Spezial-Kontrabass mit geradezu gigantischen Abmessungen von bis zu 3,5 Meter Bauhöhe. Berlioz schwärmte von den klanglichen Möglichkeiten dieses Instruments. Ob zu den Aufführungen von Gounods Cäcilienmesse ein Oktobass überhaupt zum Einsatz gekommen ist, lässt sich nicht eindeutig belegen. In der gedruckten Partitur wird zu Beginn des Benedictus (B-Dur) ein Oktobass in B gefordert. Im Agnus Dei stehen keine Angaben zu einer möglichen Stimmung. In der Literatur werden Oktobässe nicht als Subkontrabass-Instrumente, sondern als besonders groß gebaute Kontrabässe, die tiefere Töne als die damals gebräuchlichen 4-saitigen Kontrabässe bei gleichzeitig gesteigerter Klangfülle zu spielen imstande waren (der Ambitus selbst lag nur eine Terz tiefer). Ob die Verwendung des Oktobasses nur in der Partitur gefordert ist oder ob ein solches Instrument auch tatsächlich eingesetzt wurde, ist in zeitgenössischen Berichten nicht belegt. Eine Aufführung heute ohne einen Oktobass ließe sich im Benedictus durch die Übernahme der Oktobass-Partie durch ein 32‘-Register der Orgel und im Agnus Dei durch einen 5-Saiter-Kontrabass realisieren.

 

Kyrie

Der erste Satz der Cäcilienmesse ist der Textbasis folgend dreiteilig aufgebaut. Vor den ersten Teil des „Kyrie eleison“ setzt Gounod eine verhaltene Einleitung mit starken Anklängen an ein gregorianisches Motiv,  wenngleich es sich hier um kein wörtliches Zitat handelt. Chor und Orchester tasten sich vorsichtig an diesen Ruf heran, um dann ab Takt 15 in den formal ersten Teil einzutreten. Auch hier ist die Wahl der Mittel noch sehr verhalten, ein ostinates Motiv mit minimalen harmonischen Veränderungen ist den Chorstimmen Sopran und Tenor als rhythmische Stütze beigegeben. Die Chorpassagen sind in ihrer Abfolge nicht sukzessiv, sondern melodisch und harmonisch aufeinander bezogen – sie kommentieren sich gegenseitig bzw. setzen die begonnene Linie konsequent fort. Das Solistenterzett kommentiert dieses noch sehr zurückhaltende Gebet durch homophone Darbietung des „eleison“ welches der Chor durch unisono-Einwürfe „Kyrie“ (Takt 37) und „eleison“ (Takt 40) abschließend bestätigt.

Mit dem Beginn des zweiten Teils ab Takt 42 ändert sich die Perspektive dieses Huldigungsrufes. In der zweiten Anrufung wird Gottes Sohn als Mensch zum personalen Gegenüber und findet in der deutlich bewegteren und emotional engagierteren Aktion des Chores seine Entsprechung. Die Solopassagen lösen die vom Chor aufgebaute Spannung über einige harmonisch stark gefärbte Zwischenstationen wieder auf und leiten fast nahtlos in die dritte Anrufung mit dem zweiten „Kyrie eleison“ über (ab Takt 79). Die abschließende Coda, welche auch die Motorik des Streicherostinato beendet, kehrt zum Charakter der Einleitung zurück. Am Ende steht eine bittende Zusammenfassung, erstmals über einem doppelt punktierten Rhythmus in einer Kadenz mit dem ungewöhnlichen Harmonieschema G-e-H-G.

 

Gloria

Gounod berichtet in einem Brief an seine Mutter vom 1. September 1855 über die fünfteilige Anlage seines Gloria. Eine langsame Einleitung zitiert den Gesang der Engel (Lk 2,14) über Bethlehems Feldern in der Geburtsnacht Christi. Horn und Solosopran geben diesem Engelchor über einem dichten und harmonisch kaum varianten Streichertremolo zusammen mit dem colla parte summenden Chor (à bouche fermée) ein klangliches Gewand. Die übrigen Orchesterinstrumente setzen an den textlichen Zäsurstellen leicht gegenrhythmische Akkordblöcke hinzu, die durch den Einsatz der Grosse Caisse selbst im vorgeschriebenen pianissimo deutlich akzentuiert erscheinen.

Der zweite Teil von „Laudamus te“ bis „Pater omnipotens“ umfasst den lobpreisenden Anrufungsteil des Gloria-Hymnus bis einschließlich der Anrufung Gottes des Vaters als ersten Teil des trinitarischen Gottesbildes. Der große hymnische Lobpreis erklingt mit homophon geführtem Chor über einem markanten rhythmischen Motiv in den tiefen Instrumenten (Takt 37–53). Im „Gratias agimus tibi“ tritt das Solistenterzett als eine Art Vorsängergruppe in den Satz ein. Alten liturgischen Gewohnheiten folgend entwickelt sich ein Dialog zwischen Soli und Chor in unterschiedlicher Intensität. Dieser Abschnitt geht, wiederum von der markanten Rhythmik der Bassinstrumente begleitet, durch das majestätische Bild des allmächtigen Vaters über einem leicht theatralisch wirkenden Plagalschluss zu Ende.

Die Christus-Komponente des Gloriahymnus bringt im dritten Teil ab Takt 96 einen völligen Wechsel des Ausdrucks. Ein „Gespräch“ zwischen den Celli und der Solo-Oboe bereitet den ersten solistischen Eintritt des Bass-Solos vor. Mit dem Einsatz des Solo-Tenors wechselt die Stimmung erneut. Hatte der Bass noch die Bezeichnung Jesu als „Filius Patris“ abgeschlossen, folgen nun die litaneiartigen Anrufungen mit der ersten Bitte „miserere nobis“. Dabei steigert Gounod die Rufe über die Anzahl der beteiligten Solisten. Die erste Anrufung „qui tollis peccata mundi“ singt der Solo-Tenor allein, die bei der Bitte der zweiten Anrufung „suscipe deprecationem nostram“ wird vom Bass thematisch geführt und durch den Tenor mit einer dezenten Gegenstimme ergänzt. In der dritten Anrufung „Qui sedes ad dexteram Patris“ vervollständigt der Solosopran die Solistenbesetzung. Dieses Terzett mit Chor bezeichnet Gounod als seinen vierten Gloria-Teil, obgleich in der musikalischen Anlage kein struktureller Einschnitt zu sehen ist. Die letzten Bitten „miserere nobis“ der durch den Chor repräsentierten Gemeinde sind ein sich steigenderndes Wechselspiel, welches in einer dreifachen Abstufung von forte über piano zu pianissimo verklingt.

Der letzte Teil des Gloria („Quoniam tu solus Sanctus“) beginnt mit einer Art Reprise und den musikalischen Mitteln von Teil 2 („Laudamus te“). Gounod verwendet in den Takten 156–170 die exakt gleiche Musik über dem veränderten Text, erst ab Takt 171 kommt über eine veränderte Kadenz der Wechsel in die Schlusscoda mit der Anrufung der dritten trinitarischen Ebene, dem Heiligen Geist. Hier komponiert Gounod in zwei Phasen hintereinander eine Steigerung aus dem piano bis hin zum fortissimo, welche durch eine imitatorische Anlage und eine rhythmisch gegenläufige Altstimme geprägt ist (Takte 173–182 und 194–202). Den Abschluss bildet ein mächtiges dreifaches Amen, welches Gounod ähnlich wie am Ende des zweiten Teils über eine mittelalterlich klingende und erweitert plagale Wendung setzt.

 

Credo

Ebenso wie im Gloria sind auch zwei Teile der Credo-Vertonung in Gounods Cäcilienmesse von einem rhythmischen Motiv in den tiefen Orchesterstimmen geprägt. Das reicht von „Credo in unum Deum“ bis „omnia facta sunt“ und von „et ascendit in coelum“ bis zu „in remissionem peccatorum“. Der erste Teil wirkt als mächtige Präsentation fast marschartig, unterstützt durch einen dem Text folgenden Spannungsbogen über fortissimo – forte – piano – forte und wiederum fortissimo. Die piano-Passagen als echter Gegenpol zur fast dogmatisch anmutenden Fortissimo-Prozession  verwendet Gounod bei den Textpassagen über Christus als menschgewordenen Gottessohn. Ausführende wie Zuhörer begegnen diesem gleichsam auf Augen- und Ohrenhöhe. Ein ähnlicher Effekt, wenn auch in der Kompositionsgeschichte bei zahlreichen anderen Komponisten oft zu beobachten, stellt sich in der Vertonung des „qui propter nos homines“ ein. Die Musik wird leiser und der markante Rhythmus verstummt. Zusätzlich scheint die Stimmung nun persönlich, ja sogar personal zu werden. Zuhörer und Musiker werden aktiv in das Geschehen der Glaubensaussage mit hinein genommen wenn gesagt wird: „für uns Menschen und zu unserem Heil herabgestiegen aus den Himmeln“.

Nicht nur ein faszinierender musikalischer Einfall bzw. kompositorische Gepflogenheit, sondern vielmehr ein Einblick in die tief verankerte Spiritualität Gounods. In seinem Glaubensverständnis steigt Gott nicht mit Pauken und Trompeten vom Himmel herab, sondern dieses Herabsteigen vollzieht sich im Wunder der Menschwerdung. So schafft er einen äußerst organischen Übergang zur intimsten Passage des Credo. Im „Et incarnatus“ gibt Gounod den Ausführenden neben Dynamik mit einem vierfachen pianissimo und musikalischer Struktur, teilweise a cappella, noch einen Aufführungshinweis in der Partitur mit, als wolle er ganz sicher gehen, dass seine Intention nicht missdeutet werden kann: „Dieser Bericht über das Mysterium der Inkarnation muss vom Chor so leise wie möglich gesungen werden, um durch die tiefe Andacht der Stimmen der undurchdringlichen Tiefe des Gegenstandes gerecht zu werden.“

Nach dem Geheimnis der Inkarnation beschreibt Gounod die Leidenspassage in einem sehr eindrücklichen Wechsel zunächst zwischen Soli und Chor, dann zwischen den Frauen- und Männerstimmen des Chores. Ein kurzes Hornsignal kündigt die Auferstehungssequenz an, zunächst noch zaghaft, dann aber mit einem großen und nicht mehr zu bremsenden Schwung, der in eine Art „Reprise“ hineinführt, in welcher Gounod die Himmelfahrt Jesu beschreibt. Die symmetrische Anlage des Credo reicht bis zur Textpassage „resurrectionem mortuorum“. Was den gläubigen Menschen nach der Auferstehung von den Toten zu erwarten hat, verklanglicht Gounod in einer über Harfenklängen schwebenden Vision vom „Leben in der kommenden Welt“. Eine kurze Amen-Coda rundet diese Ewigkeitsdarstellung ab.

 

Offertoire

Gounod entschloss sich erst kurz vor der Drucklegung der Messe, ein eigenes Orchesterstück hinzuzufügen. Seinen ursprünglichen Plan, eine Art „Ouvertüre“ zu komponieren, ließ er fallen. Die Vorlage stammt aus seinem wenige Jahre zuvor entstandenen kleinen Oratorium Tobie. Es handelt sich um eine Transposition des in G-Dur-stehenden Originals nach As-Dur, ergänzt um eine 4-taktige Einleitung. In Tobie verklanglicht Gounod mit dem als „Invocation“ (Nr. 6) überschriebenen Orchesterstück die Heilung des blinden Tobit durch seinen Sohn Tobias (Tob 11,7–12). Im Autograph der Cäcilienmesse erhält das erst kurz vor der Uraufführung mit der Nummer 4 in die Partitur eingefügte Stück die Überschrift „Priere pour l’orchestre seul“, im Erstdruck hingegen steht es als Nr. 3bis unter dem Titel „Invocation pour l’orchestre seul“. Am 7. Februar 1874 führte Gounod die Messe in London mit einem neuen Orchester-Offertoire auf. Der Verbleib von Partitur und Aufführungsmaterialen ist jedoch nicht bekannt. Möglicherweise handelt es sich bei dem in einer Quelle, nämlich bei Goddard (1874), zusätzlich abgedruckten Offertorium in A-Dur (Nr. 4b in der Orgelstimme der vorliegenden Neuausgabe) um die Orgelfassung dieses neuen Orchesteroffertoires. In der Goddard-Ausgabe findet sich zusätzlich das ursprüngliche Offertoire nach Tobie, hier allerdings in einer vierhändigen Fassung.

 

Sanctus und Benedictus

Die beiden folgenden Sätze der Messe reichen wie oben gesagt entstehungsgeschichtlich am weitesten zurück. Der Tenorsolist zeichnet über einem Streichertremolo die Tempelvision des Jesaja (Jes 6,3), und mit dem Einsatz der Chorstimmen scheint sich der klangliche Raum „mit Rauch zu füllen“. Eine fast unvermittelte Rückung aus dem „gewohnten“ harmonischen Umfeld der Ausgangstonart F-Dur nach Des-Dur markiert den Anlauf über ein sich dreifach steigerndes „Pleni sunt coeli et terra gloria tua“ zur majestätischen Wiederholung des Sanctus. Ein blockartig gesetztes kurzes „Hosanna in excelsis“ schließt nach ein paar ruhig und remineszent klingenden Orchestertakten den ersten Teil des Sanctus ab und leitet zum Benedictus über. Hier reduziert Gounod drastisch die musikalischen Mittel. Er teilt die con sordino spielenden Streicherstimmen und schafft so einen dichten Klangteppich für den Solo-Sopran, der ähnlich der Tenorpassage im Sanctus eine sehr verhaltene Beschreibung der Ereignisse aus Mt 21,9 (Einzug Jesu in Jerusalem) liefert. Der Chor singt mit geteilten Männerstimmen und wiederholt die Sopranpassage. An dieser Stelle, bei Takt 14, lässt Gounod zum ersten Mal den Oktobass einsetzen. Ein sehr schlichtes und choralartig gesetztes „Hosanna“ beschließt die Gesamtanlage „Sanctus-Benedictus“.

 

Agnus Dei

Den litaneiartigen Grundaufbau des Agnus ergänzt Gounod in seiner Cäcilienmesse durch den zweimaligen Einschub eines Textes, der in der liturgischen Abfolge der Messe erst nach dem Agnus Dei folgt. „Domine, non sum dignus, ut intres sub tectum meum“ („Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehest unter mein Dach“). Gounod lässt dieses Zitat aus Mt 8,8 zunächst den Solo-Tenor, dann, nach der zweiten Agnus-Anrufung durch den Solo-Sopran singen. Die Versionen könnten charakterlich kaum unterschiedlicher sein: Die Tenorpassage klingt zweifelnd und unsicher. Eine fast kindliche und auch vertrauende Zuversicht strahlt hingegen die Sopran-Version aus. Eine letzte Steigerung mit der um das „dona nobis pacem“ erweiterten Agnus-Anrufung, die dem Ende des Credo nicht unähnlich ist, beschließt den letzten Teil des Ordinarium Missae.

 

Domine salvum fac

Das in der französischen katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts übliche Gebet für Kirche, Armee und Vaterland komplettiert Gounods Messe solennelle. Die drei Verse sind ihrer Intention nach sehr unterschiedlich vertont; für die Kirche: ein schlichter einstimmiger Choral a cappella; für die Armee: ein Marsch mit klingendem Spiel; für die Nation: eine triumphale Hymne.

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