Die DDR. Eine sozialistische Diktatur, die sich am 13. August 1961 einmauerte

Im Rahmen der Veranstaltung "Historische Tage 2019", 06.03.2019

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Die DDR wurde gerade einmal 41 Jahre – wenn man ihre Vorgeschichte einbezieht – 45 Jahre alt. Sie starb unverhofft und schnell, nach menschlichen Maßstäben im besten Alter, aber gemessen an weltgeschichtlichen Abläufen im Kindesalter. Sollten sich die Verhältnisse in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten nicht noch einmal radikal in Richtung Sozialismus/Kommunismus ändern, wird sie wahrscheinlich in der Geschichtsbetrachtung bald nur noch als Fußnote Erwähnung finden. Für die Zeitgenossen indes war und ist sie erstaunlicherweise auch knapp 30 Jahre nach dem Mauerfall äußerst lebendig – im positiven wie im negativen Sinn. Sie griff massiv in das Leben ihrer Bewohner ein, die nach der vollständigen Einbetonierung im Jahre 1961 ihr zudem weitgehend ausgeliefert waren. Aber auch für den Westen des geteilten Landes blieb die Existenz der DDR nicht ohne Auswirkungen; die bundesdeutsche Politik musste wichtige Entscheidungen immer auch in Hinblick auf die DDR als mögliche Alternative treffen.

 

Besatzungsherrschaft und sozialistische Umgestaltung

 

Nach der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands begann die Sowjetunion in den von ihr besetzten Gebieten unverzüglich mit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgestaltung. Dieser Transformationsprozess stand nur scheinbar im Konflikt mit ihren, speziell Stalins deutschlandpolitischen Optionen, ganz Deutschland in den eigenen Macht- bzw. Einflussbereich einzubeziehen. Die grundlegende gesellschaftliche Transformation in der SBZ sollte unumstößliche oder zumindest schwer überwindbare Fundamente für ein unter welchen konkreten Bedingungen auch immer vereintes Gesamtdeutschland legen. Schnelle Sowjetisierung sowie Vereinigungsangebote, die bis zur endgültigen Westintegration der Bundesrepublik immer wieder von sowjetischer Seite vorgebracht wurden, waren insoweit nur zwei Seiten der gleichen Medaille.

Die oberste Befehlsgewalt in der SBZ lag in den Händen der „Sowjetischen Militäradministration in Deutschland“ (SMAD), die mit ihren Befehlen und Anordnungen die Entwicklung in der SBZ steuerte. Die SMAD nutzte dabei alle ihr zu Gebote stehenden Möglichkeiten zur Gestaltung der Gesellschaft. Sie besaß die Verfügungsgewalt über die materiellen Ressourcen, das Organisations- und Informationsmonopol; sie konnte direkt befehlen oder auch nur konsultativ Einfluss nehmen. Da die deutschen Verwaltungsdienststellen monatlich Bericht zu erstatten hatten, war sie in der Lage, die Umsetzung ihrer Anweisungen flächendeckend im Detail zu kontrollieren. Die sowjetische Besatzungsmacht konnte sich bei der sozialistischen Umgestaltung auf die im April 1946 gegründete Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) stützen, die ihr bedingungslos ergeben war.

 

Die SED und ihr Führungsanspruch

 

Die aus dem auch mit Zwang erfolgten Zusammenschluss von KPD und SPD im April 1946 entstandene SED war keine, wie ihr Name suggeriert, sozialistische, sondern eine genuin kommunistische Partei. Sie besaß von der Gründung bis zum Untergang der DDR unter dem Schutz und nach Maßgabe der sowjetischen Besatzungsmacht unbeschränkte Macht, die sich auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft erstreckte. Die Partei legitimierte ihre „Führungsrolle“ durch die „historische Mission“, die der Marxismus-Leninismus der Arbeiterklasse und ihrer (vermeintlichen) Avantgarde, der kommunistischen Partei, zuschreibt. Demokratische Wahlen gab es nicht. Die DDR war eine Diktatur der Partei – der SED – über das Volk. Alle anderen politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen hatten sich ihrem Führungsanspruch zu beugen. In ihrem Selbstverständnis verkörperte die SED Wahrheit, Recht und Zukunft. Unter diesen selbst definierten Voraussetzungen betrachtete sie die DDR geradezu selbstverständlich als i h r e n Staat.

An Stelle der im politischen System moderner westlicher Gesellschaften vorhandenen Gewaltenteilung stand die Gewaltenkonzentration, d.h. die legislative, judikative und exekutive Macht lag in den Händen der SED-Führung. In ihrem Aufbau folgte die SED dem Vorbild der sowjetischen KPdSU. Im Zentrum der Macht agierte der Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) (von 1950-1971 Walter Ulbricht; von 1971-1989 Erich Honecker; im Herbst/Winter 1989 kurzzeitig Egon Krenz), der die wichtigsten Funktionen in Partei und Staat auf sich vereinte. Er leitete die Sitzungen des Politbüros (PB) und des ZK-Sekretariats und war Chef des zentralen Parteiapparates, der für die Umsetzung der Beschlüsse der obersten Parteigremien verantwortlich war. Seit 1960 fungierte der jeweilige Generalsekretär meist auch als Vorsitzender des Staatsrates und damit als formales Staatsoberhaupt der DDR.

Die im Politbüro getroffenen Entscheidungen waren sowohl für die Gliederungen der Partei in den Bezirken und Kreisen als auch für den gesamten Staatsapparat verbindlich. Der unbegrenzte Machtanspruch der SED floss zentral in die Bestimmungen der Verfassungen von 1968 und 1974 ein. Die SED übertrug ihr hierarchisches Organisationsprinzip, den demokratischen Zentralismus, auf alle anderen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen. Nach diesem Prinzip hatten nachgeordnete Instanzen die Beschlüsse der Zentrale und der jeweils untergeordneten Bereiche umzusetzen.

Zur Durchsetzung ihres umfassenden Führungsanspruchs baute die SED-Führung einen aus systematisch ausgewählten und geschulten Kadern bestehenden Herrschaftsapparat auf. Partei- und Staatsapparat waren personell und funktionell miteinander verflochten, wobei die Entscheidungsbefugnis über Zuständigkeiten immer bei der Parteiführung lag. Sie konnte sich auf eine ihr loyal ergebene Schicht von etwa 350.000 Funktionären stützen. Die Partei hatte zuletzt ca. 2,3 Millionen Mitglieder und Kandidaten, d.h. knapp jeder fünfte DDR-Staatsbürger über 18 Jahre besaß das Parteibuch der SED.

Dem Machtzentrum, dem Politbüro, gehörten 1989 21 Mitglieder (nur Männer) und fünf Kandidaten (darunter zwei Frauen) an. Der Altersdurchschnitt betrug 1989 etwa 67 Jahre. Ihrem Aufstieg ging in der Regel eine langjährige Arbeit im Partei- bzw. Staatsapparat voraus. Die Sekretäre des Zentralkomitees zählten zuletzt geschlossen zum Politbüro, ebenso die wichtigsten Vertreter aus Ministerrat, Nationalem Verteidigungsrat, Staatsrat und Volkskammer sowie der Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes und die ersten Sekretäre einiger SED-Bezirksleitungen. Das Zentralkomitee hatte vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten seiner Existenz (bis zum Mauerfall) nur noch akklamatorische Funktion und stimmte den Vorschlägen des Politbüros immer einstimmig zu. Gleiches gilt für den Parteitag, dem laut Statut höchsten Organ der Partei, das tatsächlich aber nur eine von der Parteiführung inszenierte Propagandaveranstaltung war.

Zuständig für die Umsetzung der Beschlüsse des Politbüros war der zentral und regional gegliederte Parteiapparat. Er war die unkontrollierte operative Exekutive des SED-Staates, der von der zentralen Ebene über die Bezirks- bis zur Kreisebene den Staatsapparat, aber auch die anderen Blockparteien und die Massenorganisationen lenkte und kontrollierte.

Zur Legitimierung ihres Herrschaftsanspruchs instrumentalisierte die SED Bildungswesen und Massenmedien ebenso wie Kultur und Wissenschaft und alle anderen Politikfelder. Wer sich ihrem Herrschaftsanspruch nicht unterordnete oder gar des oppositionellen Handelns verdächtigt wurde, geriet in die Netze des unter Honecker nahezu flächendeckend ausgeweiteten Repressionsapparates.

Die DDR war zuallererst eine „politische Gesellschaft“ (Agnes Heller), in der die Herrschenden eine weitgehende Identität von privater und öffentlicher Sphäre anstrebten und es keine staatsfreien Räume geben sollte. Mit dem Leitbild von der „politisch-moralischen Einheit des Volkes“ schloss die SED jegliches eigenständige Denken und abweichende Verhalten in den politischen Grundpositionen aus. Individualität ignorierte und unterdrückte sie, sofern diese nicht mit der Parteilinie übereinstimmte. Durch Einordnung in Kollektive, die die Werte der sozialistischen Gesellschaft vertraten, versuchte die Partei, die Entwicklung der Individuen zu steuern und zu kontrollieren. Die weitgehende Kollektivierung sozialer Beziehungen sollte Konformität jenseits repressiver Maßnahmen herstellen. Die SED strebte eine ideologiegeleitete Vervollkommnung des Einzelnen zum „neuen Menschen“ bzw. zur „sozialistischen Persönlichkeit“ an.

Eine zentrale Rolle bei der Absicherung des SED-Machtmonopols spielte die politische Justiz. Das sozialistische Recht galt als „Waffe im Klassenkampf“, Rechtsfragen waren Machtfragen. Die SED-Führung konnte jederzeit das „sozialistische Recht“ in ihrem Sinne auslegen. Es gab keine Kontrolle durch ein Verfassungsgericht oder Verwaltungsgerichte.

Über ein Nomenklatur-System besetzte die SED alle wichtigen Leitungsfunktionen in den Parteien sowie in Staat, Wirtschaft und in den gesellschaftlichen Organisationen. Die Auswahl der Kader erfolgte in einer mehrstufigen Hierarchie, nach der die jeweils zuständige SED-Gliederung immer die letzte Entscheidung traf. Das oberste Führungspersonal bestimmte das Politbüro und der ZK-Apparat.

Die SED konnte ihre Macht nur unter dem Schutz der Sowjetarmee und mit Hilfe eines gigantischen Sicherheitsapparates aufrechterhalten. Das 1950 institutionalisierte Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war nicht „Staat im Staate“, sondern ein Organ der SED. Es war politische Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde bei politischen Straftatbeständen und Nachrichtendienst in einem und steuerte Überwachung und Unterdrückung der eigenen Bevölkerung und externe Aufklärung- und Diversionsmaßnahmen, vor allem gegen die Bundesrepublik. Das MfS hatte nahezu unbegrenzten Zugang zum Umfeld der von ihm beobachteten Personen. Faktisch existierten weder Post-, Fernmelde- oder Bankgeheimnis noch eine ärztliche Schweigepflicht, es gab keine Unverletzlichkeit der Wohnung, keine Vertraulichkeit von Personalunterlagen. SED und Stasi hatten Zugang zu allen Daten.

Ende 1989 beschäftigte das Ministerium etwa 91.000 hauptamtliche und 190.000 Inoffizielle Mitarbeiter, d.h. auf 57 Einwohner (aller Altersklassen) kam ein MfS-Mitarbeiter. Im Zeitverlauf bespitzelten etwa 600.000 Personen „inoffiziell“ Freunde, Verwandte und selbst Ehepartner, Arbeits- und Studienkollegen. Bis in die 1960er Jahre hinein verfolgte das MfS politisch Andersdenkende mit zum Teil brutalen Methoden. Nach der internationalen Anerkennung und der Präsenz westlicher Medien in der DDR änderte die Stasi ihren Kurs. Eine flächendeckende Überwachung aller potenziellen Gegner sollte oppositionelle Aktionen schon im Vorfeld verhindern. Für als besonders gefährlich eingestufte Personen entwickelte sie Maßnahmenpläne, um diese zu „zersetzen“. Darunter verstand das MfS die „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte“ auf konspirativer Basis. Im Rahmen des „Politisch-operativen Zusammenwirkens“ arbeitete es eng mit anderen Institutionen und Organisationen zusammen.

Neben dem MfS gab es weitere Sicherheitsorgane. Während die Nationale Volksarmee (NVA) vorrangig Aufgaben für den äußeren Ernstfall wahrnahm, sah die SED für die Niederschlagung innerer Unruhen primär andere Sicherheitsorgane vor. Die Deutsche Volkspolizei war mit etwa 80.000 Beschäftigten in das flächendeckende Netz der Überwachung der Bevölkerung sowie der Verfolgung politisch Andersdenkender einbezogen. Außerdem konnte sich die SED auf weitere Sympathisanten stützen: die „freiwilligen Helfer der Grenztruppen“, Arbeiter-und-Bauern-Inspektionen, Arbeiterkontrolleure des FDGB, Kontrollposten der FDJ und vor allem auf die ca. 175.000 „freiwilligen Helfer“ der Volkspolizei.

Mit den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ in allen großen Betrieben und Verwaltungen schuf sie zusätzliche bewaffnete Formationen, denen über 200.000 Werktätige angehörten, die im Fall eines Bürgerkrieges gegen Aufständische und im Krieg zur „Heimatverteidigung“ eingesetzt werden sollten. Insgesamt waren etwa 750.000 Personen (jeder 21. Einwohner vom Baby bis zum Greis) haupt- oder nebenberuflich in das Netz der „Sicherheitsorgane“ eingebunden.

 

Der unterschätzte Aufstand am 17. Juni 1953

 

Im Juli 1952 hielt die SED-Führung die lange Jahre instabile Lage in der DDR für konsolidiert und wollte mit zum Teil brachialen Mitteln den Prozess der Sowjetisierung der Gesellschaft zu einem vorläufigen Abschluss bringen. Die noch vorhandenen wirtschaftlichen und sozialen Überreste einer nicht-sozialistischen Gesellschaft sollten beseitigt, der Klassenkampf forciert werden. Doch es kam anders: Die SED provozierte ein Anwachsen der Flüchtlingszahlen und einen Aufstand gegen ihr Gewaltregime, die gleichermaßen Ausdruck bereits vorhandener Unzufriedenheit und mangelnder Legitimation ihres Staates waren. Der 17. Juni 1953 sollte zum Symbol des fehlenden Rückhalts der SED-Diktatur und zu einem bis 1989 fortwirkenden Trauma für die Parteiführung werden. Gleichzeitig zeigte sich ein Freiheits- und Einheitswille in der ostdeutschen Bevölkerung, der erst gut 36 Jahre später erneut – dieses Mal erfolgreich – zum Ausbruch kam.

Die SED verabschiedete 1952 ein Sparprogramm, erhöhte die Normen um 10 Prozent und verschärfte die Repressionen gegen Andersdenkende. Nach dem Tod Stalins im März 1953 musste die Führung ihre Beschlüsse auf Weisung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zurücknehmen. In einer Analyse übten sowjetische Funktionäre eine schonungslose Kritik an den Zuständen in der DDR. Das zwang das SED-Politbüro am 9. Juni, einen „neuen Kurs“ zu verkünden. Neben ökonomischen Zugeständnissen an die Bevölkerung sollten u.a. eine Überprüfung aller Strafurteile erfolgen und die Kollektivierungen auf dem Land vorerst gestoppt werden. Nur die angeblich herrschende Arbeiterklasse bedachte die Partei nicht. Die Erhöhung der Arbeitsnormen blieb. Die Verkündung des „neuen Kurses“ am 11. Juni verfehlte nicht zuletzt deshalb die beabsichtigte Wirkung.

Vor allem Arbeiter in den Großbetrieben reagierten empört. Wie die von der Partei ermittelten Stimmungsberichte verdeutlichen, spitzte sich der Unmut in der Arbeiterschaft zumeist auf eine grundsätzliche Kritik an der SED zu. Schon am 11. und 12. Juni registrierte die Parteiführung Protestkundgebungen, vereinzelte Streiks und überall Forderungen an Partei und Regierung, die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Den Stimmungsberichten zufolge wertete die Bevölkerung den „Neuen Kurs“ als „Bankrotterklärung der SED“. Die Parteiführung reagierte jedoch nicht bzw. zu spät mit weiteren Zugeständnissen. Die Rücknahme der Normerhöhung am 16. Juni 1953 änderte an der Stimmung nichts mehr.

Streiks und Demonstrationen registrierten Partei und MfS in 700 Orten, darunter in 14 der 15 Bezirksmetropolen (einschließlich Ost-Berlin) und in 113 der 182 Kreisstädte. Die sowjetischen Kommandanturen verkündeten in 13 Bezirks- und 51 Kreisstädten den Ausnahmezustand. Am 17. Juni beteiligten sich knapp eine Million Menschen an Streiks und Demonstrationen. Allein in Ost-Berlin gingen etwa hunderttausend Menschen auf die Straße, in Halle ca. 60.000 und in Leipzig an die 40.000. SED-Funktionäre wurden beschimpft oder auch angegriffen, Betriebe bestreikt, Stasizentralen und Parteihäuser gestürmt. Vereinzelt gab es auch Plünderungen und Brandstiftungen sowie Gefangenenbefreiungen. Polizei- oder Sowjettruppen besetzten zur Niederschlagung der Proteste und zur Wiederherstellung von „Ruhe und Ordnung“ häufig sogar Großbetriebe. Am 18. Juni bestreikten Werktätige aber immer noch 126 Betriebe voll und 60 zum Teil.

Die Teilnehmer der Proteste kamen aus allen sozialen Schichten; zwar dürften Arbeiter in der Mehrheit gewesen sein, aber das Volk insgesamt war in Aufruhr. Die Forderungen waren überall allgemein-politischer Natur und galten als prinzipielle Ablehnung des SED-Regimes. Der Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, kommentierte die Situation mit den Worten: „Die Lage ist außerordentlich ernst. Es geht jetzt darum, wir oder sie.“

Der SED gelang es nicht, mit Hilfe ihrer „Sicherheitsorgane“ den Aufstand niederzuschlagen oder auch nur einzugrenzen. Nur die Ausrufung des Ausnahmezustandes durch die sowjetische Besatzungsmacht und der Einsatz ihrer Panzer und Truppen retteten die Partei vor dem Sturz ihres Regimes. Die Demonstranten, das vielbeschworene „Volk“, führten ihr vor Augen, dass sie weder Rückhalt in der Bevölkerung hatte noch in der Lage war, einen breiten Volksaufstand mit eigenen Mitteln niederzuhalten. In der Verkündung des Ausnahmezustandes und der Androhung von Bestrafung mittels Kriegsgesetzen durch die sowjetische Besatzungsmacht fand die DDR-Regierung keine Erwähnung. Damit demonstrierten die Sowjets, dass sie in der DDR das Sagen hatte.

Durch die Zerschlagung von Demonstrationen und einer Verhaftungswelle gelang es den sowjetischen Truppen, eine Ausweitung der Unruhen zu verhindern. Am Ende des Aufstands stand eine blutige Bilanz von mindestens 55 Toten und mehreren hundert zum Teil schwerverletzten Personen. Zur Abschreckung ließ die Rote Armee mehrere zumeist willkürlich festgenommene Aufständische standrechtlich erschießen.

Die offenen Proteste setzten sich dennoch bis zum 21. Juni und vereinzelte Aktionen bis in den Juli hinein fort. Den 3.000 Festnahmen durch sowjetische Truppen folgten einige Zeit später über 10.000 Verhaftungen durch DDR-Dienststellen. Etwa 1.600 Personen wurden anschließend verurteilt. Zwei Angeklagte erhielten die Todesstrafe, drei eine lebenslängliche Zuchthausstrafe; weitere 13 Angeklagte verurteilten DDR-Gerichte zu 10 bis 15 Jahren. Die Mehrzahl kam mit Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren davon. Unter den Verurteilten befanden sich nur 59 SED-Mitglieder, woraus sich schließen lässt, dass sich die SED-Basis aus dem Geschehen weitgehend herausgehalten hatte.

Die von der Dramatik der Ereignisse überraschte Parteiführung reagierte nach dem ersten Schock am Abend des 17. Juni mit Polemik gegen den Westen, der Provokateure und faschistische Agenten entsandt habe, um die Bevölkerung aufzuhetzen. Die Interpretation der Volkserhebung als „faschistischer“ oder „konterrevolutionärer Putsch“ hielt sich als Tenor offizieller DDR-Geschichtsschreibung bis in die späten 1980er Jahre hinein nahezu unverändert. Schuldig waren hiernach die „faschisierten Adenauer- und Eisenhower-Staaten“ sowie der West-Berliner Rundfunksender RIAS.

Die Wucht der Volkserhebung und das Zurückweichen von SED-Kadern zeigten der Parteiführung, dass die Arbeiter sie keineswegs als ihre Avantgarde ansahen. Hieraus zog die SED-Führung entsprechende Konsequenzen: Sie baute die Partei institutionell um und installierte ein Frühwarnsystem. Noch einmal wollte sie nicht von Protesten überrascht werden. Die parteiinterne Kontrolle verschärfte sie durch ein von unten nach oben reichendes Informationssystem. Die Parteimitglieder hatten alles Außergewöhnliche in ihrem beruflichen und privaten Umfeld zu melden.

Auch gegenüber den Blockparteien und den Massenorganisationen demonstrierte die Führung Härte und verhängte Sanktionen, die bereits im Herbst/Winter 1952 mit der Entlassung eines LDPD- und eines CDU-Ministers begonnen hatten. Aber die wichtigste Reaktion auf den 17. Juni bestand in der Straffung und dem Ausbau des Macht- und Disziplinierungsapparates. Zur Koordination möglicher Aktivitäten von Staats- und Parteiorganen im inneren und äußeren Spannungsfall ordnete die Parteiführung im Juli 1953 die sofortige Bildung von regelmäßig tagenden Einsatzleitungen in den Bezirken, Kreisen und Stadtteilen an. Diese setzten sich auf der Bezirksebene aus dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, einem beauftragten Offizier der Kasernierten Volkspolizei, dem Leiter der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei und dem Leiter der Bezirksverwaltung des MfS zusammen. Den Vorsitz der neu zu schaffenden Gremien übernahmen ab Ende Januar 1954 die 1. Sekretäre der SED-Bezirks- und Kreisleitungen.

Im September 1953 beschloss das Politbüro auf Veranlassung von Ulbricht, auf zentraler Ebene eine „Kommission für Sicherheitsfragen“ zu bilden. Die weitgehend konspirativ arbeitende Sicherheitskommission sollte sich mit generellen Fragen der „Sicherheit und Verteidigung des Landes“ beschäftigen; ihre Gründung zielte jedoch vorrangig gegen die „innere Opposition“ in der DDR und sogar in der Partei selbst. Mitglieder dieser wichtigen Kommission waren etwa zehn führende SED-Funktionäre. Die Sicherheitskommission stellte gleichsam die oberste Ebene des neu geschaffenen Repressionsapparates dar. Ihr unterstanden die Bezirks-, Kreis- und Stadteinsatzleitungen. Im Jahr 1960 benannte die Parteiführung die Kommission in „Nationalen Verteidigungsrat“ um.

 

Die Einbetonierung des SED-Staates

 

Als sich die Lage ab Mitte der 1950er Jahre wieder normalisierte, verkündete Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag im Juli 1958 in völliger Verkennung der wirtschaftlichen Realitäten die neue ökonomische Hauptaufgabe: „Die Volkswirtschaft der DDR ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, dass die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung […] gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolge dessen der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft.“

Mit diesem propagandistischen Paukenschlag folgte er der Devise Chruschtschows, der im Zeichen des Systemwettbewerbs die USA wirtschaftlich zu überholen trachtete. Aber Ulbricht erntete mit dieser kühnen Forderung selbst posthum nur Hohn und Spott, da sich der Abstand zur Bundesrepublik bis zum Ende der DDR unter Schwankungen kontinuierlich vergrößerte. Entscheidend für das erneute Anschwellen der Fluchtwelle Anfang der sechziger Jahre dürfte jedoch der von der SED-Führung mit härteren Bandagen aufgenommene Kampf um den „Übergang zur genossenschaftlichen Produktionsweise“ in der Landwirtschaft, wie die Kollektivierung in der SED beschönigend hieß, gewesen sein. Die unter Einsatz aller Mittel durchgeführte sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft führte zwar zu einem fast 90 prozentigen Anteil des sozialistischen Sektors an der gesamten landwirtschaftlichen Brutto-Produktion, aber als Folge verließen viele Bauern die DDR und es kam zu erheblichen Produktionsproblemen, die erst Jahre später überwunden werden konnten.

Die Hoffnungen der SED-Führung, den Wettlauf mit der Bundesrepublik gewinnen zu können, fanden schon einige Jahre später ein jähes Ende. Zu Beginn der sechziger Jahre deutete sich eine in mancher Beziehung dem Jahre 1953 vergleichbare Entwicklung an. Parallel zur Fluchtwelle wuchs die Unzufriedenheit der im Land Verbliebenen an, so dass Partei und Sicherheitsapparat erneut Unruhen und immer weiter steigende Flüchtlingszahlen befürchteten, die letztlich den wirtschaftlichen Kollaps bewirken würden.

Walter Ulbricht schrieb im Januar und August 1961 zwei alarmierende Briefe an den sowjetischen Parteichef, verwies auf den „Wettbewerb zwischen den beiden Systemen“ und erklärte, die offenen Grenzen, insbesondere in Berlin, seien nicht mehr zu akzeptieren, da sie die DDR zwingen würden, den Lebensstandard schneller zu erhöhen, als es den volkswirtschaftlichen Kräften entspreche. Die Wirtschaft litt zudem unter den hohen Kosten für die Machtsicherung, die Apparate von Parteien und Massenorganisationen sowie die Subventionierung der Wirtschaft. Der Anteil dieser „unproduktiven Ausgaben“ lag 1959/60 zwischen 25 und 30 Prozent des Nationaleinkommens (entspricht in etwa dem BIP im Westen). Von einem Ein- oder gar Überholen der Bundesrepublik war nun keine Rede mehr, im Gegenteil: Die SED-Führung musste eine zunehmende Wohlstandsdifferenz zur Bundesrepublik zur Kenntnis nehmen.

Nachdem der Westen auf das erneute Berlin-Ultimatum der Sowjetunion nicht einging und die Zahl der Flüchtlinge stark zunahm (1960: etwa 200.000; Januar-August 1961: knapp 160.000) gab die Sowjetunion dem Drängen der DDR nach und grünes Licht für die vollständige Abriegelung der DDR und den Bau der Berliner Mauer. Hierdurch war das Fortbestehen der DDR vorerst gesichert; eine Garantie für den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung war damit freilich nicht verbunden. Mit der Existenz der Mauer blieb die Bevölkerung der Staatspartei allerdings weitgehend ausgeliefert; dies ermöglichte der Parteiführung zunächst eine Lockerung der Einschränkungen des geistigen und kulturellen Lebens. Der weitere Aufbau des Sozialismus sollte von nun an den Individuen und Kollektiven einen freilich begrenzten Raum für Eigeninitiativen belassen.

Für die Sowjetunion hatte die DDR als westlicher Vorposten des sozialistischen Lagers eine besondere Bedeutung, wie der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Mikojan im Juni 1961 äußerte: „Die DDR, Deutschland, ist das Land, in dem sich entscheiden muss, dass der Marxismus-Leninismus richtig ist, dass der Kommunismus auch für die Industriestaaten die höhere, bessere Gesellschaftsordnung ist […] Wenn der Sozialismus in der DDR nicht siegt, wenn der Kommunismus sich nicht hier als überlegen und lebensfähig erweist, dann haben wir nicht gesiegt.“ Zu diesem Zeitpunkt ging es indes nicht um den Sieg des Sozialismus, sondern um sein (vorläufiges) Überleben.

Erst einige Tage nach dem 13. August begann der eigentliche Bau der Mauer. Der von der DDR errichtete Ring um West-Berlin hatte eine Gesamtlänge von 155 Kilometern, davon 43,1 Kilometer zwischen den beiden Teilen der Stadt. Die Mauersegmente aus Stahlbeton mit hoher Dichte waren in der „vierten Generation“ 2,4 bis 3,6 Meter hoch und 1,2 Meter breit. Der zwischen 15 und mehr als 150 Meter breite Todesstreifen bestand zudem aus KFZ-Sperren, Kolonnenwegen, Beobachtungstürmen, Grenzsignalzäunen und Hinterlandmauern. Im innerstädtischen Bereich wurden anders als bei der sonstigen innerdeutschen Grenze keine Erdminen verlegt und keine Selbstschussanlagen montiert. Nach Schätzungen kostete der Aufbau der Grenzanlagen allein von 1961 bis 1964 knapp 2 Mrd. DDR-Mark. Die laufenden Kosten für den Unterhalt stiegen von etwa 0,5 Mrd. Mark auf über 1 Mrd. Mark jährlich.

Für den „Schutz“ der Grenze zu West-Berlin war in der DDR das Grenzkommando Mitte der Grenztruppen zuständig, dem im Frühjahr 1989 rd. 11.500 Soldaten und 500 Zivilbeschäftigte angehörten. Das Grenzkommando Mitte verfügte darüber hinaus über 567 Schützenpanzerwagen, 48 Granatwerfer, 48 Panzerabwehrkanonen und 114 Flammenwerfer sowie 156 gepanzerte Fahrzeuge bzw. schwere Pioniertechnik und knapp 2.300 Kraftfahrzeuge. Etwa 2.300 Soldaten der Grenztruppen und mehrere hundert Hunde waren täglich zum „Schutz“ des SED-Staates im Einsatz.

Mehrere Tage nach der Grenzschließung war Ida Siekmann, die aus einem Fenster in der Bernauer Straße in die Freiheit springen wollte, das erste Todesopfer nach der Schließung der Grenze in Berlin. Zwei Tage später erschossen DDR-Grenzer im Humboldthafen hinterrücks den 24-jährigen Günter Litfin bei seinem Versuch, schwimmend West-Berlin zu erreichen. Der Berliner Regierende Bürgermeister Willy Brandt appellierte in einer Rede vor dem Rathaus Schöneberg an die Grenzpolizisten, sich nicht zu Lumpen machen zu lassen und auf eigene Landsleute zu schießen. Brandt wertete das Verhalten der SED-Führung als Eingeständnis des Versagens: „Eine Clique, die sich Regierung nennt, muss versuchen, ihre eigene Bevölkerung einzusperren. Die Betonpfeiler, der Stacheldraht, die Todesstreifen, die Wachtürme und die Maschinenpistolen, das sind die Kennzeichen eines Konzentrationslagers […].“

Die Reaktionen des Westens blieben im von der DDR und der Sowjetunion erwarteten Rahmen. Stellungnahmen und militärische Maßnahmen der Westmächte richteten sich ausschließlich auf die Sicherung der drei „essentials“ von Kennedy (Anwesenheit der Westmächte in West-Berlin, ihr freier Zugang nach Berlin und Schutz der West-Berliner Bevölkerung). Erst am 16. August (!) überreichten die Westalliierten in Moskau Noten, in denen sie die Sperrung der Sektorengrenze als „flagrante und besonders ernste Verletzung des Vier-Mächte-Status Berlins“ brandmarkten und die Aufhebung der „legalen Maßnahmen“ forderten.

Diese Beschwerden blieben jedoch ohne weitere Konsequenzen. Willy Brandts Forderung nach energischen Gegenmaßnahmen fand kein Gehör, da insbesondere die USA das östliche Vorgehen als weitgehend defensiv einschätzten. Kennedy setzte lediglich eine Kampftruppe von ca. 1.500 Soldaten nach Berlin in Marsch. Die Frage, ob er vorab über die Planungen zum Mauerbau informiert war, kann bis heute nicht eindeutig beantwortet werden, ist aber wahrscheinlich. Jedenfalls fanden Entflechtung und Abgrenzung der Einflusssphären der Großmächte in Europa im Spätsommer 1961 einen menschlich brutalen, aber politisch in der Logik der weltpolitischen Konstellation liegenden Abschluss.

Unter dem Schutz der Mauer und der weiterhin im Land stationierten Roten Armee überlebte die DDR noch 29 Jahre. Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und der nachfolgenden Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 verabschiedete sie sich in den Orkus der Geschichte.

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