Eine kleine Geschichte der (Ir-)Rationalität

Im Rahmen der Veranstaltung "Philosophische Tage 2018", 11.10.2018

Seit den griechischen Anfängen gibt es viele Geschichten der Vernunft und der Unvernunft. Und diese Geschichten können sehr verschieden erzählt werden. Hier geht es um eine kleine Geschichte dieser vielen Geschichten, um eine von vielen möglichen. Unter den vielen Geschichten gibt es die der ständigen Perfektionierung, die des allmählichen Verfalls und der Unvernunft, die der fruchtbaren Diversifizierung und die der heillosen Verwirrung und Selbstzerstörung, die der Vollendung und die etwas kürzere Geschichte der Verkündigung des Endes der Vernunft als Metaphysik.

Für diese vielen Geschichten bietet sich – quasi im Zeitraffer – das statische Bild eines Baumes an. Aus dem Stamm dieses Baumes wachsen viele Äste immer höher in den Himmel und viele Wurzeln immer tiefer in die Erde. Je nachdem, was wir anschauen wollen, schauen wir nach oben oder nach unten, in den Himmel oder in die Erde, ins Licht oder ins Dunkel. Dieses Baum-Bild ist – wie alle Bilder für etwas, was sich bewegt und entwickelt – nur bedingt brauchbar. Das statische Bild ist genau genommen falsch, denn es suggeriert, dass wir alles auf einmal sehen können. Diesen Zeitraffer, der einen Blick auf das Ganze erlauben würde, gibt es aber nicht. In Wahrheit sitzen wir selbst auf einem Ast oder in einer Wurzel, und wir wissen nicht einmal genau, ob es ein Ast oder eine Wurzel und welche genau es ist. Dabei wüssten wir dies gerne, weil wir wissen wollen, wohin die Reise geht, nach oben oder nach unten, vorwärts oder rückwärts.

 

Eine Frage der Sichtbarkeit

 

Wenn wir zurückschauen auf die Anfänge, also auf den alten Stamm, fällt uns auf, dass das, was wir ‚Vernunft’, ‚Verstand’ oder ‚Rationalität’ nennen, viele Namen hatte. Die griechischen Worte logos, nous, phronesis, dianoia, sophia übersetzen wir mit dem den Worten ‚Vernunft’ und ‚Verstand’. Ähnlich verfahren wir mit den lateinischen Worten ratio, intellectus, mens, animus, spiritus. Dabei rechnen wir ratio und intellectus eher dem zu, was wir ‚Verstand’ und ‚Rationalität’ nennen. Wir sehen also gleich, dass das Bild des Baumes schon deswegen falsch ist, weil es gar nicht den einen einzigen Stamm gegeben hat. Zumindest hatte der Stamm einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil und der unsichtbare war der weitaus wichtigere. Es ist gerade das Unsichtbare, was mit ‚nous’ und ‚sophia’, aber auch mit ‚mens’ und ‚spiritus’ gemeint ist. Es ist das Seelische, also das, was wir heute kaum mehr verstehen und eher als etwas Literarisches und Fiktionales als etwas Reales deuten.

Dabei war es gerade das Unsichtbare, was die Griechen und das lateinische Mittelalter interessierte. Die Reinheit der unsichtbaren, aber denkenden Vernunft und der mit ihr verbundenen wahren Erkenntnis war das Anliegen Platons. Sokrates erklärt im Dialog Phaidon, wovon die Rede ist und wie die Reinheit der Vernunfterkenntnis bzw. wie wahres, wirkliches Wissen erreicht werden kann. Die Seele muss sich dazu vom Körper trennen. Das tut sie beim Sterben. In das Sterben sollen sich die Philosophen schon während sie leben einüben. Sie sollen sich von allen weltlichen Bedürfnissen schon im Diesseits befreien. Nur so kann wahres Wissen, wie Sokrates und Platon glauben, erreicht werden. Beide glauben, dass richtige Meinung und wahres Wissen zwei ganz verschiedene Dinge sind. Die Meinung ist noch mit unserer sinnlichen Natur verbunden und ganz diesseitig, das wahre Wissen ist dagegen von dieser vergänglichen Natur unabhängig. Es geht in die Höhe und gleichzeitig in die Tiefe in Platons Denken und in seinem Verständnis wahrer Erkenntnis.

Das hat Platons Schüler Aristoteles nicht mehr überzeugt. Er hat in seiner Seelenlehre nicht die Trennung der Seele vom Körper empfohlen, sondern die Stufen der Beseelung der ganzen Natur, nicht nur der menschlichen, beschrieben, von der vegetativen über die für die Tugenden so wichtige formbare bis zur reinen Denkseele. Er hat eine Geschichte der Seelenlehre erzählt, von Anaxagoras über Empedokles, Demokrit und Leukipp bis Platon. Die Lehren dieser Vorgänger überzeugten Aristoteles nicht. Er wollte sich auch nicht damit zufrieden geben, dass die Seele unsichtbar ist. Schließlich hält sie, wie er in De anima schreibt, den Körper, also das Sichtbare, zusammen. Die Seele sei „Erfüllung“ und „Wesenheit“ und „das, was Sein ist“ (tò tí en einai). Was nach dem Tod mit der Seele geschieht, sagt Aristoteles nicht, und von Philosophie als Einübung ins Sterben will er nichts wissen.

Die aristotelische Seelenlehre, die der Sinnlichkeit eine eigene Fähigkeit zu erkennen unterhalb der Fähigkeit des reinen Denkens, des reinen geistigen Schauens dessen, was unveränderlich ist, zuschreibt, können wir als einen Ast unseres imaginierten Vernunft-Baumes deuten, aus dem viele verschiedene metaphysische, ethische und nicht-metaphysische Äste wuchsen. Einer führte zur Metaphysik und Ethik von Thomas von Aquin, ein anderer zur nominalistischen Metaphysik von Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, ein weiterer zu den Metaphysik-kritischen britischen Empiristen. Ein besonders großer Ast führte in die Theologie, aber zu ihr führte nicht nur der aristotelische Ast.

Der erste Ast, der zur Theologie führte, war der platonische. Im Zeitraffer des Baum-Bildes sehen wir diesen großen, theologisch außergewöhnlich fruchtbaren Ast. Er führt über ein halbes Jahrtausend von Platon zu Plotin. Dieser Ast perfektioniert die Vernunft, macht sie zu etwas Göttlichem. Der Nous, die höchste Vernunft, bezieht ihre Erkenntnis von oben, von einem Jenseits der Vernunft, dem Einen, dessen Abbild (eikon) sie ist. Subjekt, Objekt und Denkakt verschmelzen zu einem Ganzen, das den Anspruch erhebt, die ganze Wirklichkeit zu erkennen.

Wir können uns die Wucht dieses Denkens heute aus theologischer Sicht besser als aus philosophischer vergegenwärtigen. Seine Strahlkraft reichte bis zu Schelling, der die kreative, die Wirklichkeit schaffende göttliche Kraft des Denkens ähnlich verstand wie Plotin. Sonst hätte er nicht den Magnetismus und andere physische Phänomene unmittelbar aus dem vernünftigen Denken abgeleitet. Schelling musste allerdings erleben, dass sein Denken in seinen letzten Lebensjahren kein Gehör mehr fand. Der Stern des einstigen Hoffnungsträgers, der 10 Jahre nach Hegels Tod, also1841 mit 64 Jahren nach Berlin berufen wurde, verblasste bereits vor seinem eigenen Tod. Schon davor hatte eine philosophische Schnelllebigkeit begonnen, in der wir bis heute leben.

 

Plötzlich irrational?

 

Es geht in dieser kleinen Geschichte nicht nur um Erinnerungen an die Traditionen der Vernunft, sondern auch um die Unvernunft, die Irrationalität. Das Wort ‚irrational’ wird erst im 19. Jh. gebräuchlich. Es wurde keineswegs abwertend gebraucht, sondern, ähnlich wie ursprünglich bei Platon das Wort ‚Seele’, für das Unsichtbare. Das Dunkle, Unsichtbare, Unbegreifliche war mit dem Irrationalen gemeint. Vertraut wurde das Wort durch die Art von Zahlen, die man wie die Zahl p nicht – wie die rationalen Zahlen – als Bruch darstellen kann, weil sie nach dem Komma kein Ende haben.

Hegel spricht im §231 der Enzyklopädie (1830) davon, dass das, was mit ‚irrational’ gemeint werde, „ein Beginn und Spur der Vernünftigkeit“ sei. Es geht ihm dabei um die Begriffsbildung in der Geometrie, nicht um die Vernunft. Denn mit der Vernunft kann auch dieses Irrationale aufgehoben und aus der Dunkelheit ans Licht gebracht werden, wie Hegel meinte. Anders als Schelling, der sich zuletzt nur noch mit Religionsphilosophie beschäftigte, wollte Hegel in seiner Enzyklopädie dem Denken und Wissen die endgültige Gestalt eines unveränderlichen Systems geben.

Dieser Ast der Vernunft sollte den alten Stamm ersetzen. Der Ast erwies sich als zu groß und zu schwer. Viele meinen, er sei längst unter seinem eigenen Gewicht abgebrochen. Schopenhauer, der parallel zu Hegel seine Vorlesungen anbot, geißelte die Dunkelheit Hegels. Damit meinte er nun aber nichts Positives, sondern etwas, was im heutigen Sinn ‚irrational’ genannt werden kann. Für Schopenhauer gibt es das Irrationale aber auch im positiven Sinn als „vernunftlosen Intellekt“, wie er in Die Welt als Wille und Vorstellung schrieb. Es ist das Bewusstsein der Tiere, für die es nur eine „Succession von Gegenwarten“ gebe. Die in Schopenhauers Augen wichtigste Kraft, der Wille, ist nicht etwa irrational, sondern als Alternative zur Vernunft grundlos, eine „blinde Thätigkeit“, wie er sagte.

Wir müssen uns nun vom Bild des Baumes der Vernunft mit seinen vielen Ästen und Wurzeln endgültig trennen. Dieses Bild wird dem, was in dieser kleinen Geschichte der (Ir-)Rationalität noch zu erzählen ist, nicht mehr gerecht. Der Grund ist, dass die Äste und Wurzeln eine Linearität der Entwicklung, mit einem alternativ gemeinten Aufstieg oder Abstieg und einem getrennten Vorher und Nachher suggerieren. Diese Trennung bestimmt von dem Moment an nicht mehr das Bild, in dem die Rationalität unvermittelt in Irrationalität umschlägt. Dann ist das eine vom anderen nicht mehr zu trennen. Rationalität wird irrational. Wo immer dies geschieht, wird die Irrationalität gefährlich, weil sie für etwas Rationales gehalten werden kann. Martin Heidegger schrieb sehr zutreffend im Brief über den Humanismus (1949), der Irrationalismus herrsche „unerkannt und unbestritten in der Verteidigung der ‚Logik’, die glaubt, einer Besinnung auf den logos … ausweichen zu können“. Er glaubte noch daran, die Vernunft vor dem Umschlag in die Irrationalität durch tiefes Bedenken des logos bewahren zu können.

Kant war der erste, der überhaupt die Gefahr des Umschlagens des vernünftigen Denkens ins Irrationale erkannte. Er warnte davor, die Grenzen der Erkenntnis, das, was der Verstand leisten kann, zu missachten und so zu tun, als könnten wir jenseits dieser Grenzen etwas erkennen. Die Vernunft kann mit ihren Ideen zwar zur eigenen Orientierung in Richtungen schauen, die mit den Namen ‚Freiheit’, ‚Gott’ und ‚Unsterblichkeit’ bezeichnet werden. Erkennen kann sie dabei aber nichts. Unmittelbar nach Kant wollten das die Philosophen des Deutschen Idealismus nicht mehr wahrhaben. Sie wollten Kant übertreffen und aus der Vernunft einen totalen Verstand machen. Sie wollten das Irrationale, das Dunkle, das Unerkennbare in ein umfassendes System der Erkenntnis integrieren.

Nietzsche erkannte, dass diese Integration scheitern muss. Er sah die Gefahr, dass in einem Vernunft-System Wahrheit zum Irrtum, Religion zum Aberglauben und Moral zur Amoral wird. Die Vernunft schlägt in ihr Gegenteil um, wenn sie hypertroph wird und ihre Kräfte überschätzt. Die Umwertung der Werte war keine Untat Nietzsches, sondern seine nüchterne Bilanz eines unaufhaltsamen Verfalls der Vernunft, den sie selbst verursacht. Er erkannte, dass das Streben nach einem System der Vernunft zum Scheitern verurteilt ist und die Vernunft sich darin selbst zerstört. Der Tod Gottes ist ein Delikt der Rationalität, nicht eine Untat Nietzsches.

 

Das Problem der Aufklärung

 

Die Metamorphose, der Umschlag der Rationalität in Irrationalität ist eine Gefahr geblieben. Adorno und Horkheimer haben diese Gefahr in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944) beschrieben. Die Rationalität der Aufklärung schlägt in Irrationalität um, der Mythos der Aufklärung wird selbst zu einer Mythologie, aus der Befreiung wird Unfreiheit. Die „mit Herrschaft verknüpfte Rationalität“ schafft die Leiden, die im Nationalsozialismus Normalität wurden, Antisemitismus und die massenhafte Vernichtung menschlichen Lebens.

Natürlich ist mit der dialektischen Wendung der Aufklärung gegen ihre eigenen Ideale die Aufklärung nicht als ganze diskreditiert. Klar ist nur, dass diese Ideale von Anfang an eine Kehrseite hatten. Friedrich der Große musste dies bereits erfahren. Er hatte Voltaire nach Berlin eingeladen und sich mit ihm lange in Briefen über die Ziele der Aufklärung ausgetauscht. Selbst der radikale Materialist und Atheist La Mettrie fand bei ihm Zuflucht als Leibarzt und Vorleser. Seine atheistischen Schriften durfte La Mettrie dann aber doch nicht in Berlin veröffentlichen, schließlich war Preußen die führende protestantische Nation. Erst als Friedrich dann Baron d’Holbachs System der Natur (1770) las, in dem es nicht nur um eine materialistische Naturphilosophie ging, sondern um deren Konsequenzen, den Untergang der Religion und der Monarchie, sah er, wohin die Reise der Aufklärung ging.

Solange es wie in Spinozas Tractatus Theologico-Politicus (1670) um die Befreiung von Aberglaube, Knechtschaft und von politischer Unterdrückung „unter dem Schein der Religion“ ging, waren die Ziele der Aufklärung vernünftig. Ganz besonders trifft dies auf Kants Diagnose der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (1784) zu. Sein Aufruf, sich mutig des eigenen Verstandes zu bedienen, hat nichts an Aktualität verloren. Es war ihm aber nicht entgangen, was fünf Jahre nach Veröffentlichung seines Aufsatzes in Paris begann. Die Aufklärung war dann für ihn auch kein Thema mehr, sondern das Staatsrecht und die Geltung von Rechtsverhältnissen (1797).

Von irrationalem Aberglauben sind wir keineswegs befreit, wie das tägliche Horoskop, die hohen Auflagen der Rezepte zum Glücklichwerden und vor allem die Wirksamkeit von Verschwörungstheorien zeigen. Ebensowenig befreit sind wir vom dialektischen Umschlag demokratischer Ideale in ihr Gegenteil, also von einem rationalen Aberglauben. John Gray, Autor der Seven Types of Atheism (2018), schrieb kürzlich einen Essay zum Thema „Un-liberty. Some problems with the new cult of hyper-liberalism“. Darin sucht er auf dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Verschiebungen in einigen europäischen Staaten Richtung Populismus und Faschismus nach den Gründen für den Umschlag des Liberalismus in sein Gegenteil. Liberalismus kombiniert mit Empirismus habe bei J.S. Mill bereits einen zweideutigen Anfang gehabt. Mill betrieb, wie Gray meint, die Umwandlung des Liberalismus in eine Art humanistischer Religion für eine individualistische Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft könne den populistischen Bewegungen und deren Intoleranz nichts entgegensetzen. Der Kern des Problems sei, dass dann, wenn die menschlichen Werte nichts weiter als soziale Konstruktionen sind, eine Gesellschaft, in welcher Überzeugungen unterdrückt werden, nicht von einer Gesellschaft unterscheidbar sei, in der dies nicht der Fall ist. Der Hyper-Liberalismus sei nicht weniger intolerant als der faschistoide Populismus. Denn der imaginäre Glaube an den Humanismus schwäche und zerstöre nationale und religiöse Traditionen, die Freiheit und Toleranz in der Vergangenheit gefördert hätten. So schwächt sich die liberale Gesellschaft selbst. Es fehle ihr an Lernfähigkeit. Soweit John Grays aktuelle Diagnose.

 

Ökonomische Rationalität?

 

Die Revolutionen haben in Frankreich und Russland ihre eigenen Kinder gefressen. Der Liberalismus, der die zerstörerische Intoleranz, die mit diesen Revolutionen in die Welt kam, verhindern sollte, kann offenbar nicht halten, was er versprach und verspricht. Dem Liberalismus ist die Gefahr des Umschlags von Rationalität in Irrationalität nicht auf den ersten Blick anzusehen. Nicht anders verhält es sich mit der theoretischen Rationalität in der Ökonomie. Sie gehört zum Kernbestand der weltweit anerkannten Mikroökonomie, die den individuellen Entscheidungsprozess analysiert. In der Mikroökonomie ist die Rationalität der Grundstandard. Er hat Merkmale, die unbestreitbar erscheinen: jeder Akteur folgt seinem Selbstinteresse (Egoismus), sucht nach dem größtmöglichen Nutzen für das Ganze (Utilitarismus) und folgt dabei einem Kalkül, das ein Ergebnis garantiert, das nicht verbessert werden kann (Pareto Optimum: niemand kann besser gestellt werden, ohne dass jemand dabei schlechter gestellt wird).

Zur rationalen Entscheidung gehört auch, dass jeder Akteur über alle Informationen verfügt, die er für die Optimierung seiner Entscheidung benötigt. Egoismus plus Utilitarismus plus Pareto-Optimalität sollen für alle Marktteilnehmer den größtmöglichen Nutzen bringen. Der berühmte Homo Oeconomicus agiert mathematisch berechenbar. Er folgt seinen Präferenzen isoliert als Einzelner und entscheidet auch so, ohne an das zu denken, was die anderen tun könnten. Eine Teiltheorie dieses Modells ist die der rationalen Wahl (rational choice) mit ihrem berühmten Gefangenendilemma. Das Dilemma besteht darin, dass der isolierte Entscheider immer seinen eigenen Vorteil sichern will und dabei sub-optimal entscheidet. Er wählt lieber einen kleinen Gewinn als den größeren, den er kooperativ erreichen würde. Er will das Risiko vermeiden, leer auszugehen, wenn der andere sich nicht kooperativ verhält. Also verhält er sich selbst nicht kooperativ und relativ zu dem, was er erreichen könnte, irrational.

Amartya Sen, der spätere Nobelpreisträger, ein Ökonom und Philosoph, schrieb Mitte der 70er Jahre einen Aufsatz mit dem Titel „Rational Fools“ (rationale Deppen). Er konnte dabei auf Einsichten anderer aufbauen, die bereits nachgewiesen hatten, dass die Theorie des rationalen ökonomischen Verhaltens inkonsistent ist. Sen beschränkte sich nicht darauf, die Unhaltbarkeit der Theorie der Rationalität nachzuweisen. Er lenkte den Blick auf das Ganze, in dem Menschen ihre Entscheidungen treffen. Wenn es darum geht, die Wohlfahrt aller zu sichern, so argumentierte er, seien wechselseitige Sympathie und moralische Verpflichtungen (commitments) unverzichtbar. Der Egoismus des Homo Oeconomicus gefährde, wie Sen meinte, die Wohlfahrt des Ganzen. Sen bezweifelte schon die Annahme, dass die Maximierung des persönlichen Gewinns immer etwas Gutes ist. Außerdem sei es ein hoffnungsloses Unterfangen, eine Organisation allein auf der Basis persönlicher Anreize zu leiten. Er kam zu dem Ergebnis, dass sämtliche Ansätze der ökonomischen Rationalitäts-theorie zu irrationalen Ergebnissen führen, weil sie nicht den Erfordernissen sozialer Normen entsprechen, die für das Wohl einer Gesellschaft unverzichtbar sind.

Diese Einsichten, die von vielen anderen Theoretikern gestützt werden, sind schon etwas betagt. Sie gehören auch zum Bestand der Mikroökonomie. Die Frage ist, ob sich das reale ökonomische Verhalten mehr an den ursprünglichen Standards der Rationalität oder an der Kritik daran orientiert. Entscheiden eher Rationalitäts-kritische Köpfe oder rationale Deppen? Wenn wir auf die finanzwirtschaftlichen Ereignisse der Jahre 2007/08 zurückschauen, sieht es eher so aus, dass letztere entscheiden. Manche meinen, daran sei allein die Finanzmathematik schuld. Das ist merkwürdig, weil es ja immer Personen sind, die sich ihrer bedienen.

Die selbstverschuldete Unmündigkeit ist nicht kleiner geworden, der Aberglaube auch nicht. Der Rationalitäts-Glaube ist ein Aberglaube. Es ist dann ein Aberglaube, wenn das Vertrauen in die menschliche Rationalität unkritisch und verantwortungslos ist. Wer die Verantwortung für die ärmer werdenden Menschen, für die Umwelt und für die Menschen, die vor Armut und Verzweiflung aus ihrer Heimat flüchten, ernst nimmt, verhält sich nicht ökonomisch rational. Er ist aber auch kein Opfer des Aberglaubens an die Rationalität. Wer jene Verantwortung gegen die ökonomische Rationalität annimmt, verhält sich in Wahrheit vernünftig und gut.

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