Zum Wandel der zeitgenössischen Trauer- und Gedenkkultur gehört, dass ihre Rituale längst nicht mehr nur in der analogen, sondern zunehmend auch in der digitalen Welt vollzogen werden. Dies eröffnet zum einen Möglichkeiten der emotionalen Begleitung, Unterstützung und Verbundenheit über räumliche Distanzen hinweg, zum anderen ergeben sich neue Varianten der sozialen Präsenz von Verstorbenen. Das Bewahren persönlicher (analoger wie digitaler) Spuren, die Auskünfte über ein vergangenes Leben geben und den Toten hierdurch eine fortwährende Erscheinung verleihen, ist prinzipiell kein neues Phänomen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) wird Menschen heute indes eine bisher nie dagewesene Form der interaktiven Existenz nach dem Tod in Aussicht gestellt. Innerhalb der Bevölkerung ruft dies nicht nur Neugier und Faszination, sondern auch Zweifel und Unbehagen hervor. Die damit verbundenen Fragen betreffen das gegenwärtige und künftige zwischenmenschliche Zusammenleben sowie den Umgang mit neuen Technologien, über die bislang noch relativ wenig Wissen besteht. Medien der Präsenz Das Bedürfnis nach einer sinnlich erfahrbaren Präsenz über das physische Lebensende hinaus weist eine lange Kulturgeschichte auf, in deren Verlauf immer wieder andere Praktiken, Techniken und Medien zum Einsatz kamen. Die Bandbreite erstreckt sich von Höhlenmalereien über Skulpturen und Gemälde, dem gesprochenen und geschriebenen Wort bis hin zu modernen Bildtechnologien wie der (digitalen) Foto- und Videografie. Auch und vor allem der Umstand, dass immer mehr Menschen im Laufe ihres Lebens immer mehr digitale Daten produzieren, die etwas über sie verraten und sie potenziell überdauern können, spielt eine zunehmend größere Rolle für die Art und Weise, wie sie umeinander trauern und einander erinnern. Obwohl Friedhöfe als traditionelle Stätten der Trauerbewältigung und des Gedenkens für viele Menschen weiterhin eine große Bedeutung haben, zeichnet sich seit geraumer Zeit ein Trend zur Delokalisierung ab. Damit sind zum einen die generelle Loslösung von vormals verbindlichen räumlichen Fixierungen und zum anderen ein allgemeiner Relevanzverlust des toten Körpers und dessen Verortung im Kontext von Trauer und Erinnerung gemeint. Diese Entwicklung wird durch das Aufkommen digitaler Angebote und deren Vorzüge weiter forciert. Schon seit etwa 30 Jahren ist eine wachsende Verflechtung von digitalen Technologien mit Trauer- und Erinnerungspraktiken zu beobachten – etwa in Form von virtuellen Friedhöfen, Online-Memorialseiten oder spezifischen Trauerforen. Mittlerweile zählen dazu auch diverse Social-Media-Plattformen, wo neben unzähligen anderen Lebensthemen auch der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in Wort und Bild behandelt wird. Profilseiten verstorbener User verwandeln sich bisweilen in virtuelle Gedenkstätten, indem sie von anderen Personen weiterhin (bzw. umso häufiger) besucht und mit spezifischen trauer- und erinnerungsbezogenen Inhalten versehen werden. Auf YouTube finden sich inzwischen zahlreiche Videos, die Nutzer:innen zum Gedenken an verstorbene Freunde oder Familienmitglieder erstellt haben. Darüber hinaus werden individuell gestaltbare virtuelle Erinnerungsräume angeboten, in die man ,eintauchen‘ kann, um dort verschiedenen Spuren der Verstorbenen zu begegnen (etwa in Form von Foto-, Video- und Audioaufnahmen oder digitalen Nachbildungen persönlicher Gebrauchsgegenstände). Noch einen Schritt weiter gehen Dienste der Digital Afterlife Industry, die auf Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI) zurückgreifen und ein postmortales Weiterleben als Avatar versprechen, der sich mit den Weiterlebenden unterhalten kann. Hierzu werden das Kommunikationsverhalten, Persönlichkeitsmerkmale (Einstellungen, Überzeugungen, Geschmackspräferenzen, Hobbys usw.) und mithin auch die äußere Erscheinung einer Person anhand enormer Mengen der von ihr hinterlassenen digitalen Daten (z. B. E-Mails, Messengerverläufe, Social-Media- Postings, Kalendereinträge, Fotos, Videos, Sprachnachrichten usw.) simuliert. Neben vergleichsweise einfachen Formen, bei denen das zuvor gespeicherte Ursprungsmaterial während der Nutzung zwar selektiv ausgewählt, jedoch unverändert ausgegeben wird, existieren auch solche KI-Systeme, die aus den zugrundeliegenden Daten der Verstorbenen neuen Output generieren und in die Interaktion mit den Nutzer: innen einbringen. Der Avatar äußert dementsprechend Dinge, die die von ihm repräsentierte Person zwar nie so gesagt hat, es aber auf diese Weise sagen könnte, wäre sie noch am Leben. Formen des digitalen Weiterlebens und deren ethische Betrachtung Die KI-basierten Technologien des digitalen Weiterlebens finden breite Anwendungsbereiche. Einer davon ist die Populärkultur: Während verstorbene Künstler wie Michael Jackson oder Elvis Presley als virtuelle Animationen bereits ihr postmortales Bühnencomeback feierten, können Schauspieler: innen von ihren digitalen Doubles vertreten bzw. ersetzt werden. Auch andere öffentliche Persönlichkeiten erfuhren eine gewisse Fortexistenz im Digitalen. Am 22. November 1963 hätte der damalige US-Präsident John F. Kennedy in Dallas (Texas) eine Rede halten sollen, wäre er nicht kurz vor seiner Ankunft einem tödlichen Attentat zum Opfer gefallen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später – im Jahr 2018 – konnte die besagte Rede mit der synthetisierten Stimme Kennedys vertont werden. Weitere Anwendungen finden sich im Bereich der historisch- politischen Bildung, wo die digitalen Repräsentationen von Holocaustüberlebenden in Museen, Klassenzimmern oder auf dem Display eines persönlichen Endgerätes auf Fragen der Anwender:innen antworten. Die betreffenden Zeitzeug:innen wurden vorab ausgiebig zu hunderten von Fragen interviewt und dabei von mehreren Kameras aus verschiedenen Perspektiven gefilmt. Das hierdurch entstandene Material kann mittels Spracherkennungssoftware so aufbereitet werden, dass die zur jeweils gestellten Frage passende Antwortsequenz im Stile einer Live-Konversation abgespielt wird. Neben dem digitalen Weiterleben öffentlich bekannter Personen bietet aber auch die Trauer um und die Erinnerung an Menschen aus dem privaten Umfeld einen lukrativen Geschäftszweig für die Digital Afterlife Industry. So sendet z. B. eine Smartphone-App Hinterbliebenen zu besonderen Anlässen oder, nachdem sie eine bestimmte Frage eingegeben haben, Text-, Sprachoder Videobotschaften der Verstorbenen. In Großbritannien wurde im Jahr 2022 kurz nach der Beisetzung einer älteren Dame deren digitales Pendant auf einem großen Bildschirm eingeblendet und stand den versammelten Trauergästen Rede und Antwort. Ein weiteres Beispiel stammt aus Südkorea, wo im Rahmen einer TV-Show die Begegnung einer Frau mit der dreidimensionalen Simulation ihrer verstorbenen siebenjährigen Tochter in einem virtuellen Park gezeigt wurde. Die Kommunikation mit ihren KI-Simulationen hilft, die Beziehung zu den Toten fortzusetzen und das Gefühl ihrer anhaltenden Präsenz zu erzeugen – so zumindest verspricht es die Marketingrhetorik einzelner Anbieter. Einer von ihnen wirbt gar mit dem Slogan „Never have to say goodbye“. Ob eine solche Entkopplung von Tod und Verabschiedung nun eine Verheißung oder eine Bedrohung bedeutet, wäre zu diskutieren. Schließlich birgt das so verstandene digitale Weiterleben nicht wenige Problematiken, die noch weitgehend ungeklärt sind und neben Fragen des Persönlichkeitsrechts bzw. der Datensicherheit einige ethische Dimensionen berühren: Wie kann etwa ein hinreichender Schutz der Privatsphäre von Verstorbenen und deren Hinterbliebenen sichergestellt werden? Woher genau stammen die für die Gestaltung des Avatars benötigten (und mithin höchst sensiblen) Daten und von wem werden sie ausgewählt? Von den Toten selbst, von ihren Angehörigen oder etwa von den Unternehmen, die den Dienst zur Verfügung stellen und deren wirtschaftliche Interessen nicht zwangsläufig im Dienste einer erfolgreichen Verlustbewältigung stehen? Inwieweit ist das digitale ,Danach‘ nicht per se von kommerziellen Aspekten der Gewinnmaximierung durchzogen – und welche Risiken der Manipulierbarkeit ergeben sich hieraus für die Interaktion mit den Avataren? Das Szenario, in dem die digitale Version der verstorbenen Großmutter ihren Enkeln zum Kauf eines bestimmten Produktes rät, mag etwas plakativ anmuten, doch lassen sich derartige, mithin subtilere Formen der Beeinflussung unter ökonomischen Vorzeichen nicht ausschließen. Mit diesen und weiteren Aspekten beschäftigt sich ein an der Universität Tübingen (in Kooperation mit dem Fraunhofer SIT in Darmstadt) durchgeführtes und vom BMBF gefördertes Forschungsprojekt zu Ethik, Recht und Sicherheit des digitalen Weiterlebens (2022–2024). Dessen Augenmerk lag auf der übergeordneten Frage, inwieweit der beschriebene technologische Wandel Gesellschaft und soziale Beziehungen auch und vor allem mit Blick auf die Endlichkeit des Lebens verändert. Expert:innen aus unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern rund um Sterben, Tod und Trauer (etwa aus dem Bestattungswesen, bestimmter religiöser Gemeinschaften, der Sterbe- und Trauerbegleitung usw.), aber auch Privatpersonen sowie Entwickler:innen von spezifischen IT-Angeboten wurden um ihre Einschätzung zu besagten Varianten des digitalen Fortlebens durch KI gebeten. Die Befragten äußerten sich überwiegend skeptisch. Größere Bedenken bestehen insbesondere hinsichtlich möglicher Effekte auf den Trauerprozess. Während die Realisierung und Anerkennung des unwiederbringlichen Verlustes als wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Trauerbewältigung ausgemacht wird, könnte die fortlaufende Interaktion mit einem Avatar, der den Eindruck des Weiterlebens der vermissten Person vermittelt, genau dies verhindern. Nutzer:innen könnte dadurch die Flucht in eine Art Scheinrealität ermöglicht werden, die zugleich mit einem Rückzug aus dem sozialen Umfeld der analogen Welt einhergehen könnte. Manche der Studienteilnehmer: innen vergleichen dies sogar mit dem Konsum einer Droge, die zwar kurzfristig emotionalen Schmerz betäubt, langfristig jedoch weitere, zum Teil noch gravierendere Probleme mit sich bringt. Auch wird vermehrt die Sorge geäußert, dass persönliche Erinnerungen an die verstorbene Person von alternativen Inhalten, die das schwer zu durchschauende KI-System hervorbringt, überschrieben werden könnten. Letzterem wird somit ein manipulatives Potenzial zugeschrieben, das sich negativ auf das Wohlbefinden der Trauernden und ihr Verhältnis zu den Verstorbenen auswirkt. Der Avatar könnte beispielsweise Unwahrheiten über sein analoges Vorbild verbreiten bzw. Äußerungen tätigen, die die Hinterbliebenen verletzen. Deren emotionale Abhängigkeit würde es ihnen wiederum erschweren, sich von dem Dienst abzuwenden oder ihn zu kündigen, da ein solcher Schritt gewissermaßen als „zweiter Tod“ der verstorbenen Person interpretiert werden könnte. Künftige Anwendungsszenarien Aufgrund der bislang geringen Verbreitung und Nutzung entsprechender Anwendungen im privaten Bereich mangelt es derzeit noch an belastbaren empirischen Erkenntnissen über ihre tatsächlichen Wirkungen auf den Trauerprozess von Angehörigen. Dennoch lassen sich einige Faktoren antizipieren, die diesbezüglich eine Rolle spielen könnten: etwa das jeweils erreichte Lebensalter der Verstorbenen, die näheren Umstände ihres Todes, die von den Hinterbliebenen empfundene Beziehungsqualität sowie der Zeitpunkt und die Dauer der Inanspruchnahme der KI-Simulation. Entscheidend dürften ferner die spezifischen Erwartungen der Anwender: innen sein: Was versprechen sie sich konkret von diesem oder jenem Dienst? Geht es ihnen tatsächlich darum, einen Menschen in all seiner Persönlichkeitskomplexität wiederzuhaben? Wird ein permanenter Austausch mit einem allzeit verfügbaren Avatar angestrebt, um die gemeinsame Kommunikationsgeschichte mit der verstorbenen Person mehr oder minder bruchlos fortzusetzen? Oder sind es eher temporäre Reminiszenzen, die jemanden zur Nutzung eines bestimmten digitalen Angebotes bewegen? Es braucht wohl nicht weiter betont zu werden, dass Trauer keinen statischen Zustand beschreibt, sondern einer gewissen Dynamik unterliegt und sich diesbezügliche Bedürfnisse – auch im Hinblick auf adäquate Formen des Gedenkens und der Interaktion – im Laufe der Zeit verändern können. Dessen ungeachtet wäre ebenfalls zu fragen, ob im Kontext des digitalen Weiterlebens von Privatpersonen überhaupt immerzu die Bewältigung von Trauer und Verlust zentral ist. Schließlich wären auch solche Anwendungen vorstellbar, die mit einer weniger großen Bedeutungsschwere aufgeladen sind und sich aufgrund ihres eher spielerischen Charakters leichter in den Alltag integrieren lassen. Hier ist z. B. an bestimmte Sprachassistenzsysteme zu denken, bei denen anstelle einer fremden fortan die vertraute Stimme einer verstorbenen Person erklingen könnte. Die in diesem Artikel behandelten Formen der digitalen Fortexistenz durch KI fordern zu einigen grundsätzlichen Überlegungen heraus. Diese betreffen u. a. die Frage nach der Definition von Lebendigkeit abseits biologischer Prozesse und entsprechenden Grenzverschiebungen. Besonders bemerkenswert erscheint dies in einer Gesellschaft, die als säkularisiert beschrieben wird, in der jedoch gleichzeitig eine anhaltende Transzendenzsehnsucht zu verzeichnen ist. Ferner wäre zu diskutieren, was die menschliche Persönlichkeit und Interaktion im Kern ausmacht und inwiefern sich all das in den Mengen hinterlassener Daten überhaupt adäquat abbilden lässt. Gewiss: Die Entwicklung steht noch am Anfang, viele Dienste (vor allem jene, die sich an Privatpersonen richten und auf die Erzeugung neuer Inhalte durch generative KI spezialisiert sind) befinden sich zurzeit in einer Testversion und werden bislang nur von wenigen Menschen angewandt. Doch weder die aktuellen technischen Einschränkungen noch die in der Studie zum Ausdruck kommenden Vorbehalte dürften letztlich etwas daran ändern, dass sich die betreffenden Angebote aller Voraussicht nach noch weiter verbreiten werden. Eine wesentliche Triebfeder hierfür ist neben dem technischen auch der demografische Wandel. Noch verbrachte die Mehrheit der jährlich Verstorbenen den größten Teil des Lebens in einer Zeit vor dem Durchbruch des Internets als omnipräsentem Alltagsmedium. Wie aber verhält es sich in einer zukünftigen Gesellschaft, die nahezu vollständig aus ,Digital Natives‘ bestehen wird? Das digitale Vermächtnis einer Person könnte dann auf einer sieben, acht oder gar neun Jahrzehnte andauernden Online- Existenz beruhen – und eine vielversprechende Grundlage für eine überzeugende KI-Simulation nach dem physischen Lebensende bieten. Dass aus einem Experimentierfeld für einzelne Technikpionier:innen ein vielseitig einsetzbares Werkzeug für eine breite Nutzer:innenschaft werden kann, ist, so gesehen, vielleicht auch schlichtweg eine Frage der kulturellen Gewöhnung daran, dass 1) Ko-Präsenz zunehmend digital vermittelt wird, 2) die Interaktion mit künstlichen virtuellen Personen reale emotionale Folgen hat und 3) Lebensverläufe digitale Manifestationen erhalten, die über den Tod hinaus wirksam sind. Angesichts dieser Entwicklungspotenziale erscheint es umso wichtiger, sich nicht erst in Zukunft, sondern bereits frühzeitig Gedanken über ihre gesellschaftlichen, kulturellen und ethischen Implikationen zu machen.