Es ist ein gewisses Wagnis, sich als evangelischer Theologe mit Franz von Assisi zu beschäftigen. Aber es ist auch ein Zeichen, denn gerade in diesen Zeiten ist es wichtig zu betonen, dass zwischen unseren Kirchen das Gemeinsame überwiegt und dazu gehört auch die gemeinsame Vergangenheit von 1.500 Jahren. Dabei ist es nicht einfach, sich Franz von Assisi historisch zu nähern: Seit über 100 Jahren begleitet die Forschung die franziskanische Frage, das heißt die Problematik nach der Zuverlässigkeit der reichlich sprudelnden Quellen. Da schon bald nach seinem Tod der Heiligsprechungsprozess einsetzte und schon die ersten biographischen Bemühungen seines Ordensbruders Thomas von Celano im Kontext dieser Heiligsprechung stehen, ist es aus der Perspektive des Historikers, der quellenkritisch arbeitet, von vorne herein eine Kärrnerarbeit, zu unterscheiden, was historisch greifbar und was Gestaltung ist, die dazu dienen soll, diesen Franz heilig darzustellen. Und die Problematik einer Einfärbung des Berichteten gilt erst recht für die weiteren prägenden Texte, vor allem die durch den Ordensgeneral Bonaventura verfasste Biographie, die im Grunde bis heute, zusammen mit den Fioretti, einer Sammlung von legendarischen Erzählungen, unser Bewusstsein von Franz von Assisi formt. Will man sich durch dieses Quellendickicht hindurch Franz näheren, so begegnen einem unterschiedliche Bilder, die von ihm gezeichnet werden.
I.
Eines dieser Bilder ist Franz von Assisi als ein Freund des Friedens und der Natur, und es hat Anhalt in dem, was er selbst berichtet: „Den Gruß hat mir der Herr offenbart, dass wir sagen: ‚Der Herr gebe dir Frieden‘.“ Das ist offenbar prägend gewesen für die frühe franziskanische Bewegung. Wo immer die Franziskaner, die zu dem Zeitpunkt noch gar nicht Franziskaner heißen, sondern die minderen Brüder, die fratres minores, hinkommen, da treten sie ein und sagen „Friede sei mit dir“. So stellten sie den Frieden Gottes voran in einer Zeit, die alles andere als friedlich war, herkommend aus einer Stadt, aus Assisi, die in seiner Lebenszeit schärfste Auseinandersetzungen erlebt hat, Auseinandersetzungen, die auch in seine Biographie hineinspielen. Denn die bürgerlichen und die adeligen Eliten lagen in einem scharfen Konflikt miteinander. Sozialhistorisch gesprochen, musste diese Stadt mit dem neuen und irritierenden Phänomen leben, dass sich in den Augen der aufsteigenden bürgerlichen Schichten Status durch wirtschaftliche Leistung erweisen sollte und nicht wie beim Adel durch Herkunft. Und der Konflikt hierum wurde auch gewaltsam ausgetragen.
Andere Kämpfe, die Franz am eigenen Leib erlebt hat, waren die zwischen den einzelnen Städten. Er ist früh in Kriegsgefangenschaft gekommen und hat auch – das ist glaubhaft – in dieser Kriegsgefangenschaft unter den Umständen schwer gelitten. Ihm war also bewusst: Es war eine äußerst konfliktreiche Zeit, in die hinein er diesen Ruf erschallen ließ: Friede.
Das macht das Großartige von Franz von Assisi aus. Aber das Großartige ist nicht immer das Einzigartige und Alleinige. In einer kleinen Randbemerkung in der Dreigefährten-Legende wird erzählt: „Wundersam ist es gewiss, und nicht ohne Wunder zuzulassen, dass er in der Verkündigung dieses Grußes noch vor seiner Bekehrung einen Vorläufer hatte, der häufig durch Assisi ging und auf diese Weise grüßte: Frieden und Gutes, Frieden und Gutes.“ Da begegnet jemand, der in ganz ähnlicher Weise wie Franz von Assisi den Frieden in den Mittelpunkt gestellt hat. Wir wissen nicht, wie er hieß. Er hat keine Wirkung gehabt wie Franz von Assisi; wir wissen nicht, warum. Wir wissen auch nicht, ob die Entsprechung Zufall ist oder Franz diesen Vorgänger nachgeahmt hat; vielleicht war es einfach Zeitgeist, vom Frieden zu sprechen. Und so fangen wir an, Franz etwas stärker einzuordnen. Er war in seiner Zeit jemand, für den es zumindest einen gewissen Resonanzraum gegeben hat, der etwas getan hat, was anderen auch plausibel erschien.
Ein ganz anderer Friedensaspekt hat in diesem Jahr 2019 gewissermaßen Jubiläum: das berühmte Gespräch mit dem Sultan al-Malik (Malek) al-Kamil. Bei Bonaventura läuft dieses Gespräch darauf hinaus, dass Franz eine Feuerprobe anbietet: Er werde nicht vom Feuer verbrannt werden, wohl aber die arabischen Gelehrten, mit denen er debattierte. Und die Pointe ist: Der Sultan lies diesen Test lieber nicht machen, weil er, so der Bericht von Bonaventura, ahnte, dass das für seine Leute kein gutes Ende nehmen werde. Dieser Bericht, zwei Generationen nach Franz von Assisi verfasst, ist schon offenkundig vom biblischen Vorbild des Kampfes Elijah mit den Baals-Priestern auf dem Berg Horeb geprägt. Diese Erzählung ist wohl mehr theologische Gestaltung als historische Erinnerung, und das gilt für viele Elemente der Erzählung von der Begegnung zwischen den Religionen. Wir wissen über Franz von Assisi nicht einmal genug, um sagen zu können, dass es ihm tatsächlich um eine Friedensbotschaft ging – und wenn es eine solche war, dann doch wohl vor allem die: Den Frieden bringt euch Jesus Christus. Es kann ihm nur um eine missionarische Friedensbotschaft gegangen sein. Ganz ungebrochen wird sich daher heutiges Bemühen um ein Gespräch zwischen den Religionen nicht auf Franz berufen können.
Man darf dabei auch nicht vergessen, von wo aus Franz von Assisi in das Lager des Sultans ging: Er befand sich im Lager der Kreuzfahrer vor Damiette, in einer der brutalsten Phasen der Kreuzzüge, und ist von dort hinübergegangen zum Sultan. Irgendwie ist er, so sagen es die Berichte, wenn auch mit unterschiedlichen Umständen, tatsächlich bis zu dem orientalischen Herrscher vorgedrungen. Wahrscheinlich wurde er für einen Botschafter gehalten, vielleicht auch für einen Überläufer. Vielleicht ist er deswegen vor den Sultan selbst gebracht worden, weil er sich auf diesen berufen hat: Nach einem Teil der Berichte hat er, als er im Lager ergriffen wurde, auf Lateinisch, also für die arabischen Soldaten unverständlich, gesagt: „Ich bin Christ“. Nach den wahrscheinlicheren Berichten hat er „Sultan“ gerufen.
Auch was dann stattgefunden hat, wird in den Berichten höchst unterschiedlich geschildert. Das Erstaunlichste war eigentlich, dass Franz von Assisi am Ende heil wieder aus dem Lager des Sultans herauskam, obwohl er offenkundig kein Botschafter mit einem Mandat für Friedensverhandlungen und auch kein Überläufer gewesen ist. Die wahrscheinlichste Interpretation dafür ist schlicht, dass der Sultan ihn für ungefährlich gehalten hat, vielleicht schlicht für einen Narren, dem man nichts weiter antun musste. So banal könnte der Kern jenes Gesprächs gewesen sein.
So wie in der Frage des Friedens wird man auch im Blick auf Franz‘ Verhältnis zur Natur manches relativieren müssen, was die Überlieferung stark hervorgehoben hat. Ökologische Bemühungen heute können manches bei ihm finden, woran sie anknüpfen können – vorweg genommen hat er sie nicht. Im Grunde sind es zwei Episoden, an denen sich die Naturfreundschaft des Franz im allgemeinen kulturellen Gedächtnis festmacht: die Vogelpredigt und der Sonnengesang. In der Vogelpredigt soll er, so wird es schon in der ersten Vita von Celano, der frühesten Biographie, als wörtliches Zitat berichtet, gesagt haben: „Meine Brüder Vögel, ihr müsst euren Schöpfer sehr loben und ihn stets lieben, der euch Gefieder zum Anziehen gegeben hat, und Federn zum Fliegen, und was immer auch Not getan hat. Mit besonderem Adel hat Gott auch unter seinen Geschöpfen ausgestattet und euch in der Reinheit der Luft ein Haus bereitet, da er euch, obwohl ihr weder sät noch erntet, dennoch um nichts weniger, ohne dass ihr euch sorgen müsst, schützt und leitet.“
Die Schlussverse enthüllen den theologischen Sinn. Dass die Vögel nicht säen und nicht ernten und doch schöner gekleidet sind als Salomo, ist Jesu Aussage über sie – sie gibt Franz weiter, sei es in seinen eigenen Worten, sei es in solchen, die Celano ihm in den Mund gelegt hat. Nur schwer ist der historische Hintergrund des Geschehens zu erahnen – dann etwa, wenn man Erzählungen einbezieht, nach welchen Franz durch den Wald geht und singt. Die Natur, so scheint es, fordert ihn heraus, einen Lobpreis Gottes von sich zu geben. So mag er auch tatsächlich segnend auf die Vögel zugegangen sein, und vielleicht ist es tatsächlich einmal vorgekommen, dass eine Schar Vögel erstaunlicherweise nicht davongeflogen ist, als er auf sie zukam. Ein solcher Kern mag ausgeschmückt worden sein, immer mehr und immer weiter, bis dahin, dass in einem Erzählstrang die Vögel nach beendeter Predigt als Vogelschar in der Form eines Kreuzes gen Himmel fliegen.
Bleibt hier manches im Vagen, so verfügen wir hinsichtlich des Sonnengesangs über einigermaßen gesicherte Kenntnisse. Hier handelt es sich, lässt man einmal die Unsicherheit fort, die mit Handschriften und den Zuweisungen von Autoren verbunden ist, um einen Text, der mit großer Sicherheit von Franz von Assisi stammt. In ihm hebt er sein Lob an: „Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne, welcher der Tag ist, und durch den du uns leuchtest, und schön ist er und strahlend mit großem Glanz, von dir, Höchster, ein Sinnbild.“ Dieses Lob Gottes im Spiegel der Natur ist nicht ganz vorbildlos. Vielmehr steht im Hintergrund ein Text, der katholisch heute als deuterokanonisch, evangelisch als apokryph eingeordnet wird: ein Zusatz zum Daniel-Buch, der Gesang der drei Männer im Feuerofen. In ihm ist ein solches Lob, das die ganze Schöpfung umfasst, ausgedrückt. Franz dürfte die Verse gut gekannt haben, weil der Gesang der Männer im Feuerofen zur Osterliturgie gehörte. Er nahm ihn auf und variierte ihn, indem er nun die Geschöpfe direkt anredete.
Ihm ging es darin nicht um eine sich in irgendeiner Weise verselbständigende Vorstellung von der Natur, sondern die Natur ist Sinnbild Gottes, sie ist Abbild Gottes. Und sie ist selbstverständlich für uns da. „Durch den du uns leuchtest“, das ist der Sinn der Sonne. Alles, die ganze Natur, ist klar auf den Menschen bezogen. Auf die Frage, um die wir heute ringen, ob der Mensch im Mittelpunkt des ökologischen Systems steht oder ob er nur ein Teil des ökologischen Systems ist, hat Franz von Assisi eine ganz klare Antwort: Der Mensch steht aus göttlicher Perspektive im Mittelpunkt des Systems, und Gott selbst ist es, der alles umfasst. So ordnet Franz die Natur ein und schätzt und preist und lobt sie, und stellt sie vor allen Dingen hinein in das Lob Gottes. Denn er lobt Gott mit, oder wie es immer wieder in diesem Text heißt, durch die einzelnen Geschöpfe: die Natur ist Ort und Ursprung und Grund des Lobes. Blickt man auf das Dargelegte, so zeigt sich, dass sich das Bild von Franz als Freund des Friedens und der Natur auch durch historische Forschung nicht verliert, dass es aber doch an manchen Stellen weicher zu zeichnen ist, als man es gewohnt ist.
II.
Das zweite Bild ist eines, mit welchem man diesem Menschen Franz von Assisi besonders nahe kommt. Es ist das Bild vom Aussteiger. Das ist ganz grundlegend prägend für Franz. Im Grunde handelt es sich hier um ein sehr typisches Problem zwischen den Generationen. Da ist einer, der mit der Generation seiner Eltern, der mit seinen Eltern nicht mehr zufrieden ist. Ich nenne das die Diskrepanzerfahrung des Franz. Er erlebt seine Eltern als Menschen, die von sich sagen, dass sie gute Christen sind, regelmäßig in die Messe gehen und den Armen und Bedrückten helfen. Es dringt auch noch in den Erzählungen über Franz durch, dass er zu Beginn seiner Jugend genau an diesem Verhalten der Eltern teilgenommen hat: dass man als reicher Bürger von Assisi ausreitet, und Pestkranken, wenn man sie jenseits der Stadt am Rande des Weges sieht, durch seinen Bettler Almosen zukommen lässt – und so die direkte Berührung vermeidet.
Da setzte bei Franz von Assisi das Empfinden ein, dass diese Distanzierung nicht dem Auftrag Christi gerecht werde. Eine der eindrucksvollen Erzählungen berichtet davon, dass in einer solchen Situation der junge Kaufmannssohn Franz selbst vom Pferd geglitten ist und den Pestkranken umarmt und geküsst hat. Das ist die Änderung des Verhaltens: Der Sohn findet den direkten Weg zu den Betroffenen und den Bedrückten, den die Eltern bei aller Fürsorge vermieden hatten. Das ist einer der ersten Schritte, in denen sich jene Diskrepanzerfahrung ausdrückt. Sie formt sich immer mehr zu der Erfahrung, dass das frühkapitalistische Wirtschaften, das er bei seinen Eltern erlebt, nicht zu der Botschaft passt, die er im Evangelium hört, etwa in der Erzählung über den reichen Jüngling, der all sein Geld, das er geerbt hat, nehmen und es den Armen geben soll.
Das ist die Erfahrung, die Franz von Assisi als ein reicher Kaufmannssohn macht, der eine Karriere vor sich hat. Es kann kaum wundern, dass der Vater den Protest, der hieraus entstand, als ungerecht wahrnahm. Er hatte ja alles getan, um seinem Sohn eine wirtschaftlich gute Zukunft zu ermöglichen, und nun erntete er nur Undank. Der Konflikt verdichtete und verschärfte sich, als Franz auf einer dieser Reisen dann tatsächlich zusätzlich zu den Stoffen, die er verkauft hatte, auch noch sein Pferd verkaufte und den ganzen Batzen Geld nicht seinem Vater zurückbrachte, sondern in die Kirche San Damiano – mit der berühmten Geschichte, dass er es dort in einen Fenstersims warf, weil der dortige Priester sich nicht traute es anzunehmen.
Diese Handlung provozierte den Bruch. Franz versteckte sich erst einmal mehrere Wochen lang allein in einer Höhle, die er kaum einmal, um seine Notdurft zu verrichten, verlassen hat. Man kann erahnen, wie er nach vier Wochen ausgesehen, gerochen hat. Entsprechend berichtet Celano: Als er sich dann doch den Bürgern von Assisi unter die Augen traute, begannen alle, die ihn kannten und seine Anfänge mit dem Ausgang verglichen, ihn mit Vorwürfen anzuklagen. Sie nannten ihn wahnsinnig und verrückt, und warfen Dreck aus den Gassen und Steine nach ihm.
Darin drückt sich die Wahrnehmung des Aussteigers aus: Als reicher Kaufmannssohn war er ausgeritten, und vier Wochen später kommt er dreckig zurück in diese Stadt. Das bildete den weiteren Hintergrund für den Konflikt mit dem Vater, und zugleich für das positive Verhältnis, das Franz dann zu seiner Kirche entwickelte. Der Vater verlangte das Geld auf juristischem Wege zurück, und den städtischen Behörden wurde die Sache zu heikel, sie verwiesen ihn an den Bischof. Die Konflikte in der Stadt Assisi zwischen den Adeligen und den Bürgern hatten sie wohl vorsichtig, ja, ängstlich gemacht. Also kam die Sache vor den Bischof, und es spielte sich, wieder, eine berühmte Szene ab: Franz von Assisi warf dem Vater seine ganze Kleidung hin, selbst die, die er am Leib trug, um zu zeigen, dass er nichts, aber auch gar nichts von ihm haben wollte. Das war quasi eine umgekehrte Enterbung: Der Erbe verzichtete auf allen Besitz. Und dann, so die Berichte, wurde der nackte Kaufmannssohn Franz durch den Mantel des Bischofs in seiner Blöße bedeckt. Der Bischof beschützte ihn. Das scheint der Moment in dieser Biographie zu sein, in dem Franz seine Diskrepanzerfahrung mit den kapitalistisch wirtschaftenden Eltern umwandelte und einen neuen Vater fand: den Bischof und mit ihm die Kirche. Sie wurde ihm diejenige Instanz, die ihn beschützte und bewahrte.
III.
Zu den Bildern gehört auch: Franz als Geliebter. Es gab eine Phase der Forschung, da hat die Geschichte zwischen Franz von Assisi und Klara von Assisi Hochkonjunktur gehabt mit Spekulationen über mögliche sexuelle Aspekte. In den 1970er und 1980er Jahren fand man diese Frage spannend. Man hatte Freud intensiv gelesen und Franz und Klara mit einer riesigen Entdeckerfreude entsprechend analysiert. Nur, diese Entdeckerfreude wird dann rasch relativiert, wenn man sieht, dass die Ahnung, zwischen Franz und Klara könnte etwas Anrüchiges geschehen sein, schon von den ersten Biographen selbst erahnt und gelegt worden sind.
Franz wird in seinen Begegnungen mit Klara von Assisi als ein Paranymphus geschildert; das ist das lateinische Wort für den Brautwerber. Es wird berichtet von heimlichen Treffen zwischen Franz und Klara; im Letzten ist es philologisch nicht herauszufinden, aber es ist relativ wahrscheinlich, dass sie dabei nur zu zweit waren. Gelegentlich wird noch eine Freundin, ein Freund erwähnt. Es gibt aber, in den Prozessakten von Klara von Assisi, auch die Möglichkeit, das Geschehen so zu verstehen, dass sie wirklich zu zweit waren. Celano berichtet auch, dass es einen rumor publicus, eine öffentliche Aufregung, darüber gegeben hat. Das heißt, die Autoren des 13. Jahrhunderts wussten, dass man das Verhältnis der beiden als anstößig verstehen konnte. Und natürlich war es anstößig: Klara war viel jünger als Franz; man hatte sich nicht heimlich zu treffen als unverheirateter Mann und als unverheiratete Frau; auch das war völlig klar. Dazu kam auch noch, dass sie aus einer adeligen, er aus einer bürgerlichen Familie stammte.
Für die Zeitgenossen war das Geschehen also in jedem Falle anrüchig. Aber müssen wir daraus im 21. Jahrhundert eine sexuell erfüllte oder sexuell konnotierte Liebesgeschichte machen? Es dürfte reichen, es als eine besonders intensive Begegnung zwischen zwei Menschen stehen zu lassen, in der Franz tatsächlich dann als Brautwerber aufgetreten ist, nämlich als Brautwerber für Jesus Christus. Hier erlebten zwei Menschen eine intensive persönliche Nähe, sie mag erotisch konnotiert gewesen sein, aber es gibt nicht genügend Anhaltspunkte dafür, dass beide sich in einer Weise verhalten hätten, die sexuell die Normen ihrer Zeit gesprengt hätte.
Das heißt, wir haben hier eine Erzählung von zwei Menschen, in der der eine zum geistlichen Begleiter des anderen wird, und daraus resultiert eine lebenslange Beziehung, die allerdings dadurch, dass Franz relativ früh gestorben ist, an Jahren nicht sehr lang sein konnte. Klara hat nach seinem Tod immer sehr intensiv seiner gedacht und auch versucht, sich an ihm zu orientieren.
IV.
Sehr viel deutlicher erkennbar ist Franz von Assisi als Papstfreund. Das ist in mehrfacher Hinsicht das Irritierendste in dieser Biographie, gerade auch für einen evangelischen Theologen, der in Franz viele Identifikationsmöglichkeiten für sich selbst auch als evangelischer Christ sieht: Provokationen, Anregungen für das heutige Dasein als Christ. Und Franz war nicht nur allgemein Papstfreund, sondern er war Freund und Anhänger des mächtigsten und machtgierigsten Papstes, den es im Mittelalter gab. Innozenz III. war nicht irgendein Papst, sondern Innozenz III. war derjenige, der bei den Königswahlen, die praktisch auch Kaiserwahlen waren im Römischen Reich, die Kandidaten gegeneinander ausgespielt hat. Er war derjenige, der durch geschicktes Taktieren die formale Oberhoheit auch über England erlangt hat. Er war derjenige, der, als ein Kreuzzug nach Osten aufbrach und dann, angestoßen durch die Handelsinteressen der Venezianer, damit endete, dass Christen die Christen in Konstantinopel überfallen und ausgeplündert haben, diese Situation in einer geradezu genialen Weise genutzt hat. Er errichtete in Konstantinopel anstelle des oströmischen Kaisertums ein lateinisches sowie ein Patriachat und erhob in beispielloser Weise den Anspruch, dass der Papst die Oberhoheit der gesamten Christenheit auch im Osten besaß, nachdem von Seiten Konstantinopels nie eine rechtliche Oberhoheit des Bischofs von Rom akzeptiert worden war und seit dem 11. Jahrhundert mit dem Schisma zwischen Ost und West klar war, dass die beiden Kirchen unterschiedliche Wege gehen. Innozenz III. war ein Machtpolitiker sowohl gegenüber weltlichen wie kirchlichen Instanzen.
Und ausgerechnet er ist der Papst, der Franz von Assisi fördert und zu dem Franz mit einer Gruppe von Gefährten reist, um erste Anerkennung zu finden. Franz sah offenbar nicht, welchem Machtmenschen er da gegenübertrat. Hier wirkt wohl die oben angesprochene Erfahrung des Schutzes durch seinen eigenen Bischof nach. Die Kirche hatte sich als Vater, oder im Bild natürlich viel angemessener, als Mutter, als wahre Mutter erwiesen, die ihn schützte. Das galt für seinen Bischof, das galt auch für die Kardinäle, mit denen er zunächst in Rom zu tun hatte, ohne dass er sich von ihnen alles hat vorschreiben lassen. Ihren Rat, sich am benediktinischen Mönchtum zu orientieren, ignorierte er, weil er etwas Neues, eine fraternitas, eine Bruderschaft, gründen wollte. Er wollte in der Nachfolge Christi in einer Existenzweise leben, die nicht über große Klöster wie die Benediktiner verfügte.
Dem Papst selbst legte er dann etwas vor, was als Regel bezeichnet wird, was aber wahrscheinlich kaum mehr war als eine Sammlung von Bibelversen. Rechtliche Bestimmungen nahm er erst später auf. Zunächst bilden seine Regel Sammlungen von Versen, etwa aus der Aussendungsrede Jesu an die Jünger und dergleichen, die die Armut in den Vordergrund stellen. Es ging bei seiner Begegnung mit dem Papst gar nicht so sehr um die rechtliche Akzeptanz einer bestimmten Regel, sondern es ging darum, ob die Gruppe um Franz weiter das tun durfte, was sie bislang offenbar getan hatte, nämlich zur Buße zu rufen.
In seinem späten Testament erinnert sich Franz von Assisi daran, dass dies das Eigentliche in seiner Gemeinschaft war: ein Leben der Buße. Er und seine Jünger haben zur Buße gerufen. Genau das aber war heikel, denn den Bußruf auszusprechen war, zumal wenn er weiter ausgedeutet wurde, was Franz getan hat, tatsächlich ein Stück Predigt. Damit hatte die Kirche schwierige Erfahrungen gemacht. Die Waldenser hatten im 12. Jahrhundert den Streit um die Frage der Erlaubnis einer Predigt im Sinne der Armut, im Sinne der apostolischen Nachfolge, ausgefochten. Sie waren kurz damit akzeptiert worden unter der Voraussetzung, dass sie nicht lehrhaft predigen, aber am Ende sind sie dann aus der Kirche ausgegrenzt worden. Franz aber gelang es tatsächlich, von Innozenz III. die Erlaubnis zur Predigt zu bekommen; so wird es von dem ersten Biographen Thomas von Celano berichtet, wohl wieder nicht als wörtliche Aussage dieses Papstes: Geht mit dem Herrn, Brüder, und wie der Herr euch einzugeben geruhen wird, predigt allen die Buße.
Das heißt wohl, dass die Bußpredigt als eine nicht dogmatische Predigt verstanden wird, aber das immerhin gestand Innozenz III. der Gruppe um Franz offenbar zu, allerdings unter der Voraussetzung, dass man sehen wolle, ob daraus nun etwas Fruchtbares werde oder nicht. Fruchtbares heißt sicherlich aus der Perspektive von Innozenz III.: etwas Fruchtbares zum Erhalt der Kirche: Der berühmte Traum von Innozenz III., der in spätere Schichten der Biographien eindringt, erzählt davon, dass ihm deutlich geworden sei, dass in Franz vor ihm eben das Mönchlein stehe, das er schon einmal im Traum gesehen habe, und das seine einstürzende Lateran-Basilika gestützt habe. Dieser Traum von Franz von Assisi als Erhalter der Kirche nimmt eine sich durch die Biographien ziehende Metapher auf, wonach Franz dadurch, dass er die Kirche, indem er der Armut breiten Raum in ihr gab, als Institution insgesamt erhielt. Das entbehrt nicht der Tragik, denn was er erhielt, war eine Kirche des Reichtums und der Macht.
Innozenz III. hatte wohl durchschaut, dass man denjenigen, die man vorher mit dem Anliegen der Armut ausgrenzen konnte, nun einen Raum in dieser Kirche geben musste, möglichst nah an den traditionellen Formen des Mönchtums, und dadurch friedenstiftend. Das ist tatsächlich gelungen, auch wenn die Franziskaner mit ihrem Ruf zur Armut das folgende Jahrhundert hindurch zu einem der großen Störfaktoren innerhalb der Kirche geworden sind.
V.
Ein Bericht eines Engländers, der sicherlich nicht ganz historisch ist, aber doch schön und charakteristisch, erzählt über die Begegnung zwischen Franz und Innozenz: „Der Papst betrachtete daher an dem erwähnten Bruder sorgfältig das ungestalte Aussehen, das verächtliche Antlitz, den wallenden Bart, die verwilderten Haare, die herabhängenden schwarzen Augenbrauen.“ Dass Franz keine besondere Schönheit war, dringt durch verschiedene Berichte durch; hier ist es besonders drastisch ausgedrückt. Der Aussteiger-Typus erscheint hier, der ganz bewusst hässlich, unangenehm aussehen will.
Und das will er deswegen, weil die Stunde des Gerichts da ist. Die Predigten von Franz haben eben nicht nur die Zartheit eines Sonnengesangs aufgewiesen. In seinem Brief an die Gläubigen, der wahrscheinlich eine Zusammenfassung von Predigten darstellt, heißt es: „Alle aber, Männer wie Frauen, die nicht in Buße stehen, und Laster und Sünden ausüben, und in ihrem Leben der üblen Begierde und den üblen Sehnsüchten folgen, und nicht beachten, was sie dem Herrn versprochen haben, und leiblich der Welt mit fleischlichen Sehnsüchten und weltlichen Plänen und Sorgen um dieses Leben dienen, die sind vom Teufel festgehalten, dessen Kinder sie sind und dessen Werke sie tun.“
Auch das gehört zu Franz von Assisi dazu. Er war nicht einer, der es allen Recht und angenehm gemacht hat, beileibe nicht. Er hat nicht nur Kritik an sozialen Missständen und Strukturen geübt, sondern er hat ganz konkret Personen kritisiert, nicht nur diejenigen, die verantwortlich waren für das Elend, sondern auch diejenigen, die bloß bei dem Elend mitgemacht haben. Er hat ihnen mit dem Gericht gedroht, er hat sie dem Teufel zugeordnet. Das sind Franz-Zitate, die wir heute nicht so gerne wiedergeben, aber sie gehören zum Bild dieses Franz von Assisi dazu, und sie sind wahrscheinlich, wenn wir das ernst nehmen, dass die Erlaubnis des Papstes hieß, Buße zu predigen, sogar bestimmend für die Weise, wie er gepredigt hat.
Macht man sich das klar, so liest man auch den Sonnengesang noch einmal anders. Dessen Ende nämlich lautet: „Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod. Ihm kann kein Mensch lebend entrinnen. Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben. Selig jene, die er findet in deinem heiligsten Willen, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun. Lobt und preist meinen Herrn und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut.“ Das steht am Ende des Sonnengesangs die massive Drohung mit dem Gericht. Dass das Lob der Natur in die Warnung vor dem zweiten Tod, in die Warnung vor der Hölle mündet, gehört zur Realität dieses Sonnengesangs, zur Realität des Franz von Assisi. Wenn wir den ganzen Menschen Franz haben wollen, dann müssen wir uns auch dem stellen.
VI.
Zu Franz‘ Erbe gehört aber auch, dass er wie kein Zweiter als eine Verwirklichung Jesu Christi gesehen worden ist, lateinisch als alter Christus, also der zweite, der andere Christus. Prägnant drückt sich das in der berühmten Erzählung von der Stigmatisierung aus, in welcher sich Traditionen vermischt haben, die ursprünglich nicht zusammengehörten. Die Verbindung aus der Kennzeichnung des Körpers von Franz mit den Stigmata, mit den Wundmalen, mit seiner Vision eines Seraphen, einer engelhaften Gestalt mit mehreren Flügeln am Himmel, ist erst nach und nach entstanden. Vision und Stigmatisierung sind nach gegenwärtigem Forschungsstand ursprünglich selbständige Erzählungen. Es gibt eine Erzählung von Vision ohne Stigmatisierung, und eine Erzählung von Stigmatisierung ohne Vision. Das spricht dafür, dass beides zunächst unabhängig voneinander zu verstehen ist.
Alle damit verbundenen Probleme können hier nicht behandelt werden. Das Drängendste ist aber wohl, wie man die Stigmatisierung als biographisches Ereignis einschätzt. Dabei wäre es fatal, in der Rückschau aus dem 21. Jahrhundert Menschen des 13. Jahrhunderts vorschnell Erfindungen oder gar Lügen zu unterstellen.
Mit einem „Stimmt es oder stimmt es nicht“ kommen wir einem Phänomen wie der Stigmatisierung nicht näher. Es stimmt auf einer Ebene, die für uns heute als Wirklichkeitsebene nur noch schwer nachvollziehbar ist. Wir stellen uns die Stigmatisierung auch durch die frühen Berichte als einen sehr physischen Vorgang vor; so wird es auch bei Celano und bei anderen berichtet. Da wächst tatsächlich etwas aus der Haut heraus. Möglicherweise sind diese physischen Erzählungen aber nur ein Versuch, im Nachhinein etwas zu verarbeiten, das ursprünglich eine Vision gewesen ist. Und wenn man dies sagt, muss man bedenken: Nicht nur Fleisch und Muskeln waren für das 13. Jahrhundert echte Realität, sondern auch Visionen, weil in ihnen Gott selbst die Wirklichkeit erschloss.
Dass es bei der Stigmatisierung ursprünglich um eine Vision ging, zeigt der allererste Bericht über sie, das Rundschreiben des Ordensgenerals Elias von Cortona über den Tod des Ordensgründers. Darin heißt es ganz weihnachtlich: „Ich verkünde euch eine große Freude und eine wundersame Neuheit! Von der Welt wurde ein solches Zeichen noch nicht gehört, außer vom Sohn Gottes, welcher ist Christus der Herr. Nicht lange vor seinem Tod erschien der Bruder und Vater gekreuzigt und trug fünf Wunden, die wahrhaft wie Wundmale Christi sind, an seinem Körper. Denn seine Hände und seine Füße hatten so etwas wie (quasi!) Stiche von Nägeln, von beiden Seiten durchbohrt, die noch die Narben aufwiesen und die Schwärze der Nägel zeigten. Seine Seite aber wirkte wie (apparuit!) von einer Lanze durchbohrt, und oft dampfte Blut heraus. Als sein Geist noch im Körper lebte, war ihm keine Ansehnlichkeit, sondern unansehnlich war sein Antlitz und kein Glied blieb in ihm ohne übergroßes Leiden. Weil seine Sehnen zusammengezogen waren, waren seine Glieder so steif, wie sie bei einem toten Menschen zu sein pflegen, aber nach seinem Tod war der Anblick wunderschön. Er schimmerte in wunderbarem Glanz und erfreute die, die es sahen, und die Glieder, die vorher steif waren, sind überaus weich geworden. Sie wandten sich seiner Lage nach hierhin und dorthin wie bei einem zarten Knaben.“
In dieser Wahrnehmung des Elias von Cortona also war der Leichnam schön, nicht durch Leiden gekennzeichnet. Das wäre, wenn man sich die Stigmatisierung so vorstellt, dass am Leib Wunden erschienen, die den Tod überdauerten, wenigstens merkwürdig. Tatsächlich aber zeigen die Begriffe „apparuit“/„erschien“, „quasi“/„als ob“: Hier ging es nicht um ein physisches Phänomen, um eine Vision also: Visionär war Franz von Assisi wenigen Zeugen wie Jesus Christus erschienen. Das ist die eigentlich Botschaft der Stigmatisierung: Dass Franz von Assisi ein Mensch gewesen ist, in dem sich, bei aller Schwierigkeit, ihn historisch zu rekonstruieren, etwas von der Botschaft Jesu Christi in einer neuen Weise verwirklicht hat. Und das kann heute auch ökumenisch gemeinsam gesagt werden.