Lukas gilt weithin als der erste christliche Historiker, die Apostelgeschichte dementsprechend als historiographisches Werk. Darüber kann man natürlich trefflich streiten – und die exegetische Literatur gibt Zeugnis von den Debatten, die darüber geführt wurden.
Zum Beispiel wäre zu fragen, ob es nicht auch in den Vorgängerwerken des Lukas – vor allem im Markusevangelium – Elemente von Geschichtsschreibung gibt, und man wird sicher fündig werden. Ist also Lukas wirklich der erste?
Weiter: Ist das, was Lukas bietet, wirklich Geschichtsschreibung, oder ist es nicht vor allem von seiner Verkündigungsabsicht geprägt? Ist also Lukas nicht eher ein Erbauungsschriftsteller, wie es besonders Ernst Haenchen in seinem Kommentar zur Apostelgeschichte betont hat? Auch dies ist nicht restlos von der Hand zu weisen.
Fragen wir also für eine erste Orientierung danach, was Geschichtsschreibung kennzeichnet. Der Althistoriker Joachim Molthagen will dann von einem Geschichtswerk sprechen, „wenn es, gestützt auf sorgfältiges Bemühen um verlässliche Kenntnis, einen größeren Zusammenhang von vergangenem Geschehen darstellt, dabei die Einzelheiten zu einem größeren Ganzen verbindet und eine verstehende Deutung bietet, deren besondere Akzente sich (…) aus der Auffassung des jeweiligen Verfassers von der dargestellten Sache und aus seinem Verständnis von Geschichte ergeben.“
Die Apostelgeschichte als Geschichtswerk
Diese Merkmale lassen sich in der Apostelgeschichte durchaus beobachten. Schon der Anspruch, den Lukas im Proömium des Lukasevangeliums formuliert, weist ihn als einen Schriftsteller aus, der sich sorgfältig um verlässliche Kenntnis bemüht. In Lk 1,1–4 präsentiert er sich als ein akribischer Arbeiter, der gründliches Quellenstudium betrieben hat und nun alles, was ihm zur Verfügung steht, als einen sinnvollen, zusammenhängenden und zuverlässigen Entwurf präsentiert, eine diēgēsis, was in der Einheitsübersetzung als „Erzählung“ wiedergegeben ist, aber besser als historische Monographie zu bezeichnen wäre.
Als Ziel seiner Darstellung gibt Lukas an, seinen Adressatinnen und Adressaten – konkret angesprochen in der Person des Theophilus – wieder Boden unter den Füßen zu geben und die Zuverlässigkeit dessen, worin sie bereits unterrichtet sind, aufzuweisen.
An dieses erste Proömium knüpft das Proömium seines zweiten Bandes an (Apg 1,1). Zwar weist Lukas hier nicht mehr explizit auf sein Quellenstudium hin; doch ist davon auszugehen, dass er auch für diesen Band Quellen verarbeitet hat, wenngleich diese kaum mehr zu rekonstruieren sind. So ist der Anspruch aus Lk 1,1–4 gewiss auch auf den zweiten Band zu beziehen.
Auf dieser Basis erzählt Lukas also die Geschichte von der Ausbreitung der Christusbotschaft von Jerusalem aus, über Judäa, Samaria „bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). Zwar endet die Apostelgeschichte nicht wirklich „an den Grenzen der Erde“, doch zumindest in Rom, wo die Verkündigung des Paulus am Schluss des Buches eine Perspektive in die Zukunft eröffnet.
In vielen Aspekten arbeitet Lukas so, wie es sich für Geschichtswerke gehört. So ordnet er das Geschehen, von dem er erzählt, gleich zu Beginn des Lukasevangeliums in die Weltgeschichte ein, indem er die Namen der Machthaber, zu deren Zeit sich dies alles ereignete, nennt: Neben den römischen Kaisern Augustus und Tiberius und deren Statthaltern sind dies vor allem die judäischen Klientelkönige Herodes und seine Söhne (Lk 1,5; 2,1–2; 3,1–2).
Auch in der Apostelgeschichte flicht Lukas an geeigneten Stellen die Namen entsprechender Regenten und Repräsentanten der römischen Staatsmacht ein: So erwähnt er in Apg 18,2 das Edikt des Kaisers Claudius aus dem Jahr 49 n. Chr., das zur Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus Rom führte und das auch der römische Historiker Sueton in seiner Vita des Kaisers Claudius erwähnt (Claud 25,4). Ebenfalls in Apg 18 wird der Prokonsul Gallio in Korinth erwähnt (Apg 18,12). Die hier geschilderte Begegnung des Paulus mit Gallio in Korinth hat sich – vorausgesetzt, dass sie als historisch plausibel anzusehen ist – zu einem Fixpunkt der Paulus-Chronologie entwickelt.
All die erzählten Ereignisse verbindet Lukas zu einem zusammenhängenden Ganzen. Zu Beginn seines Werkes gibt er die Perspektive vor und gibt Leserinnen und Lesern auch im Verlauf seines Werkes immer wieder Deutungshilfen an die Hand, um das, was erzählt wird, richtig zu verstehen. Es ist also durchaus sinnvoll, das Werk des Lukas als ein Geschichtswerk zu betrachten. Doch hat es natürlich seine Besonderheiten. Diese zeigen sich, wenn man die Apostelgeschichte mit anderen antiken Geschichtswerken vergleicht.
Antike Geschichtswerke zwischen fact und fiction
Zuerst eine Klarstellung: Auch wenn die Apostelgeschichte als Geschichtswerk einzuordnen ist, bedeutet dies nicht, dass allem, was in der Apg erzählt wird, der Status tatsächlich geschehener Ereignisse zuzuweisen ist. Denn schon in der Antike war man sich bewusst, dass jeder Geschichtsschreiber – von Geschichtsschreiberinnen werden wir vermutlich weniger ausgehen dürfen – auch kreativ tätig ist, den Stoff auswählt, arrangiert, erklärt und mit Bedeutung versieht.
Ein Beispiel dafür ist der Redner, Schriftsteller und Satiriker Lukian von Samosata. Er hat im zweiten nachchristlichen Jahrhundert – also etwas später als Lukas – ein eigenes Werk darüber verfasst, wie man Geschichte schreiben soll. Darin grenzt er zunächst die Geschichtsschreibung von der Dichtung ab. Das zeigt zwar einerseits, dass die Geschichtsschreibung von der Dichtung zu unterscheiden ist, zeigt aber andererseits auch, wie nah die beiden Bereiche einander auch stehen.
Lukian führt weiter aus: Ein Geschichtsschreiber müsse zwar sorgfältig das historische Material zusammentragen, müsse es prüfen und sich entweder selbst von der Zuverlässigkeit überzeugen oder sich an verlässliche Augenzeugen halten, und daraus solle er einen Rohentwurf herstellen, der ein zusammenhängendes Ganzes bilde, aber den Ansprüchen der Schönheit noch nicht genügen müsse. Erst danach solle er das Material ordnen und „sich um die Schönheit der Darstellung bemühen und der Sprache Farbe, Form und Rhythmus verleihen“. Dabei solle er zwar ausgewogen darstellen, sich aber auf das Wichtige konzentrieren, Maß halten, für Abwechslung sorgen, gut anordnen und möglichst klar darstellen. Dabei dürfe Unwichtiges nur angedeutet oder sogar weggelassen werden, und immer solle er wieder auf den roten Faden zurückkommen.
Bezeichnend ist, dass Lukian für die Arbeit des Historikers das Bild eines Spiegels verwendet, der ein Bild scharf zurückwirft. Das macht deutlich: Es handelt sich um ein Bild, das durch den Historiker erzeugt wird, indem er den Stoff ordnet und darstellt. So komme „es den Historiographen nicht auf das was, sondern auf das wie an.“
Wie sehr die Geschichtsschreibung auch der Literatur zugehört und sowohl non-fiktionale wie fiktionale Elemente enthält, zeigt der alexandrinische Rhetor Ailios Theon (Zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr.) in seinen Vorübungen (Progymnasmata) zur Ausbildung von Rhetoren. Hier definiert er die Fachtermini diēgēma und diēgēsis als „eine entfaltende Darlegung über Dinge, die geschehen sind oder als wären sie geschehen.“
Zwischen den Geschichtsschreibenden und ihren Adressatinnen und Adressaten gibt es also so etwas wie einen „Fiktionalitätsvertrag“, wie es Umberto Eco in seinem Text Six Walks in the Fictional Woods genannt hat. Der Verfasser führt die Adressatinnen und Adressaten in eine Vergangenheit, die allerdings nur im Status der Imagination existiert – und die Adressatinnen und Adressaten willigen ein, daran zu glauben.
So kann Plutarch (ca. 45–125 n. Chr.) dieses Abkommen in seiner Biographie über den sagenhaften Athener König Theseus folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Möge uns also gegeben sein, durch Vernunft das sagenhaft Erzählte blank zu putzen, dass es gehorche und das Aussehen von Geschichte annehme. Wo es indes eigensinnig verschmäht, sich glaubwürdig zu machen, und die Zumischung zur Wahrscheinlichkeit nicht annehmen will, wollen wir um geneigte Hörer/Leser bitten und (um) solche, welche die Altertumskunde in wohlwollendem Sinn aufnehmen.“
Wie weit antike Leserinnen und Leser ihren Autoren gefolgt sind und ihnen ihre Darstellungen abgenommen haben – oder: wie weit sie das Spiel mit der Fiktionalität tatsächlich durchschaut haben – das mag sich durchaus differenziert gestaltet haben. Halten wir aber fest: Was der modernen Geschichtswissenschaft längst selbstverständlich ist – dass nämlich keine historische Darstellung einfach objektiv wiedergibt, wie es wirklich gewesen ist, sondern dass jede Darstellung aus einer bestimmten Perspektive heraus auswählen und eine Ordnung finden muss, dass sie die Ereignisse zu bedeutsamen Zusammenhängen verknüpft, dadurch interpretiert und Geschichte nicht nur re-konstruiert, sondern genauso sehr auch konstruiert –, das können wir bereits bei antiken Autoren angedeutet und sogar reflektiert finden.
Trotz alledem: Streben nach Genauigkeit
Dennoch: Am Anfang antiker Geschichtsschreibung stand durchaus das Streben nach Genauigkeit, gerade im Unterschied zur Dichtung, die mehr die Schönheit ins Zentrum stellen darf. So beschreibt es Lukian als die eine Aufgabe des Geschichtsschreibers, „zu melden, wie ein Ereignis verlaufen ist“. Dies könne man allerdings nicht, so legt er überzeugend dar, wenn man in Abhängigkeit zu den dargestellten Protagonisten stehe oder auf den Beifall des zeitgenössischen Publikums spekuliere. Daher solle ein Geschichtsschreiber „furchtlos, unbestechlich, unabhängig, ein Freund der freimütigen Rede und der Wahrheit“ sein und ohne Rücksicht auf die Mächtigen und das Publikum seinen Stoff darbieten.
Ein solches Streben nach Genauigkeit ist bereits vom Beginn der griechischen Geschichtsschreibung an zu finden. Schon Herodot (ca. 484/3–425 v. Chr.), der von Cicero als der „Vater der Geschichtsschreibung“ (pater historiae) bezeichnet wird, will in seinem Werk, so sagt er es im Proömium, eine „Darlegung seiner Forschung“ bieten. Und so bemüht er sich um gesicherte Kenntnis, unterscheidet in seinen Darstellungen zwischen zuverlässigen und fragwürdigen Angaben und forscht auch nach den Ursachen der Geschehnisse. Für die Darstellung der Perserkriege musste er noch weitgehend auf schriftliche Quellen verzichten, weil noch keine solche Quellen existierten. So war er auf Gewährsleute angewiesen, die zum Teil Augen- und Ohrenzeugen waren, zum Teil aber auch ohne eigene Anschauung der Ereignisse.
Mit Blick auf solche Gewährsleute beschreibt er seine Aufgabe so: „Doch ist meine Pflicht, alles, was ich hörte, zu berichten, freilich nicht alles Berichtete zu glauben.“ Zum Teil suchte er daher noch nach einem zweiten Zeugnis, um ein Ereignis, das allzu unwahrscheinlich klang, zu beglaubigen. So stützt er die Geschichte, dass der Sänger Arion nach einem Schiffbruch von Delphinen gerettet wurde und wohlbehalten an Land kam, sowohl auf Aussagen der Korinther, als auch der Lesbier. Wo etwas allerdings allzu fragwürdig scheint oder sich gar Widersprüche auftun, da überlässt er die Bewertung nicht selten den Leserinnen und Lesern. Nicht umsonst bescheinigt ihm Cicero, dass er auch zahllose fabelhafte Geschichten (innumerabiles fabulae) überliefere.
Noch stärker stellt Thukydides (ca. 460/454 – nach 400 v. Chr.) die Gründlichkeit seiner Nachforschungen zu seinem großen Thema, dem Peloponnesischen Krieg, heraus: „Für das Niederschreiben des tatsächlichen Kriegsgeschehens aber hielt ich nicht die Befragung jeder sich zufällig bietenden Quelle für die richtige Grundlage und auch nicht meine eigene Einschätzung, sondern die mit aller nur möglichen Genauigkeit (akribeia) geführte Untersuchung jeder Einzelheit sowohl der Geschehnisse, bei denen ich selbst zugegen war, als auch der von anderen mir mitgeteilten. Dies erwies sich in der Regel als schwierig, weil die jeweiligen Augenzeugen nicht dasselbe über dieselben Vorgänge berichteten, sondern so, wie es bei jedem um seine Sympathie für die eine oder andere Seite stand oder auch um sein Gedächtnis“.
Ebenso bemüht sich Polybios (ca. 200–120 v. Chr.) um verlässliche Kenntnisse und legt zum Teil sogar Quellen offen, zu denen er in römischen Archiven Zugang hatte. Auch für ihn geht es darum, die Wahrheit zu erforschen und darzustellen.
Das zeigt: Schon das Werk des Herodot, vor allem aber die Geschichtsschreibung in der Weise des Thukydides und Polybios zeichnen sich durch eine genaue und methodisch reflektierte Recherche zu den Ereignissen aus. Beide sind sensibilisiert gegenüber Aussagen von Quellen und bewerten sie kritisch. Was erzählt wird, wird auf das Handeln von Menschen zurückgeführt, nicht jedoch metaphysisch, etwa durch das Eingreifen von Gottheiten, erklärt. Das Geschehen wird durch menschliche Beweggründe und Triebkräfte wie Habgier, Furcht, Ehrgeiz oder auch andere diagnostizierte menschliche Pathologien getragen. Auf diese Weise können Kausalitäten hergestellt werden, und es kann zum Beispiel zwischen den Anfängen eines Geschehens, seinen tatsächlichen Ursachen und den ins Feld geführten Vorwänden unterschieden werden.
Damit hängt zusammen, dass beide über das Stilmittel von direkten Reden nachdenken. Immer wieder bauen sie an entscheidenden Punkten ihrer Darstellung Reden ein. Sie dienen dazu, das Geschehen zu spiegeln, indem man sich an tatsächlich gehaltene Reden in diesen Situationen anlehnt. Weil aber natürlich keine Protokolle oder Mitschnitte dieser Reden existieren, kommt hier die Auffassung des Geschichtsschreibers ins Spiel, der mit Hilfe dieser Reden die Situation beleuchten und Kausalitäten und tiefere Ursachen herausarbeiten kann.
Keinesfalls aber, und darauf legen Thukydides wie auch Polybios Wert, sollen Reden als reiner Schmuck eingesetzt werden. Im Gegenteil: Auf rhetorischen Ornat, Effekthascherei und Ergötzung wird bewusst verzichtet. Stattdessen setzen die beiden Autoren auf die angestrengte Mitarbeit der Leserinnen und Leser. Als dauerhaften Gewinn für diese Mühen stellen beide die Belehrung und Anleitung für das eigene Handeln in Aussicht.
Nicht zu vergessen: das Bedürfnis nach Unterhaltung
Wenn die Lektüre von Geschichtswerken nun so viel Mühe kostet, ist es kein Wunder, dass diese Anstrengung zunehmend als Zumutung empfunden wird. Dionysios von Halikarnass (ca. 54 v. Chr. bis nach 7 n. Chr.) zum Beispiel sagt ganz unverblümt, dass Polybios zu den Historikern gehöre, die niemand bis zum Ende lesen könne.
So ist zu beobachten, dass in hellenistischer Zeit andere Weisen der Geschichtsschreibung gefunden wurden. Zum einen werden verstärkt einzelne Personen mit ihren Biographien ins Zentrum gestellt, zum anderen werden Synthesen gesucht und größere Einheiten in den Blick genommen. Die Gliederung solcher großen Einheiten bewerkstelligen die Historiker zum einen durch eine äußere Gliederung nach Büchern. Zum anderen finden sie eine innere Strukturierung nach geographischen Gesichtspunkten. Während Thukydides und Polybios noch versucht hatten, ihr Werk dadurch zu strukturieren, dass sie es unter eine leitende Idee stellten, wählten Historiker ab der hellenistischen Zeit die anschaulichere Geographie als strukturierendes Prinzip.
Wenn in dieser Weise verschiedene Weltgegenden in den Blick geraten, ist es nur noch ein kleiner Schritt dahin, staunenswerte Begebenheiten aus diesen Weltgegenden zu berichten – wobei dies bereits bei Herodot zu beobachten ist. Mit den besuchten Orte ließen sich sodann auch etwas wunderbarere Geschichten verknüpfen, so wie Theopomp (ca. 378/377–323/300 v. Chr.) in seinem Buch VIII über den makedonischen König Philipp eine Zusammenstellung von thaumasia, staunenswerten Begebenheiten aus verschiedenen Teilen der Welt, einfügt und beispielsweise die Auffassung von persischen Magiern referiert, dass die Menschen unsterblich seien und immer wieder zu neuem Leben erwachen würden, oder dass das All in einer Kreisbewegung immer dasselbe bliebe. Dieser Trend, solche staunenswerten Begebenheiten in die Geschichtswerke einzubauen, setzt sich fort. Sie werden den Leserinnen und Lesern wie eine Belohnung fürs Lesen angeboten.
Daneben gibt es seit frühhellenistischer Zeit Spezialgeschichten mit einem stark biographischen Fokus. Weichenstellend für die weitere Entwicklung sind besonders die biographischen Darstellungen Alexanders des Großen und die verschiedenen Versionen des Alexanderromans, in die etliche wunderhafte Episoden eingebaut wurden, bis hin zur Apotheose Alexanders.
Solche biographischen Darstellungen besonderer Menschen laden nun geradezu dazu ein, das Leben dieser Protagonisten dramatisch auszugestalten. Cicero rechtfertigt dies mit der Überlegung, dass es Rhetoren erlaubt sei, in Geschichtswerken zu lügen, damit sie bestimmte Dinge oder Aspekte deutlicher ausdrücken könnten. In diesem Sinne ermuntert Cicero in seinem Brief an Lucceius diesen, bei der Darstellung seines Konsulats ruhig etwas entschiedener auszuschmücken als es die Wahrheit zulasse. Denn: epistula … non erubescit – Papier errötet nicht, das heißt: Papier ist geduldig.
Überhaupt wurde die Geschichtsschreibung zunehmend mit Elementen der Tragödie ausgestattet. Damit gewannen die Historiker die Möglichkeit, um des Publikums willen und zur Verdeutlichung des Gesamtsinns etwas freier mit der Wahrheit umgehen zu können. Diese Möglichkeiten scheinen vor allem in der römischen Geschichtsschreibung genutzt worden zu sein; denn über die Frühgeschichte und weite Strecken der römischen Republik gab es bekanntlich kaum schriftliche Quellen. So galt es, aus den wenigen belegten historischen Erinnerungen eine zusammenhängende Geschichte zu formen. Dazu mussten die Geschichtsschreiber – trotz der strengen Form der Annalen, die sie wählten –, Daten erfinden und Zusammenhänge der Frühzeit konstruieren.
Dabei waren sie sich ebenso wie ihr Lesepublikum über diese Freiheit im Umgang mit ihrem Stoff bewusst. Schon beim griechischen Historiker Ephoros von Kyme (ca. 400–330 v. Chr.) ist zu lesen: „Die, die über die Begebenheiten unserer Zeit ganz präzise berichten, halten wir für höchst vertrauenswürdig, die, die über die alten Zeiten so handeln, betrachten wir als höchst unglaubwürdig, weil wir annehmen müssen, dass es unwahrscheinlich ist, dass alle Taten und die meisten Reden durch so lange Zeit hindurch in Erinnerung bleiben konnten.“
Auch Livius stellt in der praefatio seiner Geschichte Roms klar: „Was vor der Gründung der Stadt oder dem Plan ihrer Gründung mehr mit dichterischen Erzählungen ausgeschmückt als in unverfälschten Zeugnissen der Ereignisse überliefert wird, das möchte ich weder als richtig hinstellen noch zurückweisen. Man sieht es der alten Zeit nach, dass sie den Anbeginn der Stadt verklärt, indem sie das Menschliche mit Göttlichem vermischt.“
Trotzdem schreibt Livius nicht weniger als fünf Bücher über diese Anfänge der Stadt. Dabei macht er zwar nicht selten die Unsicherheit dieser oder jener dargestellten Episode deutlich und spart auch nicht mit Kritik an seinen Vorgängern. Dennoch beteiligt er sich damit an einer Geschichtsdarstellung, die das Wenige, das sicher in Quellen belegt war, durch Fiktionen ergänzte und so die Vergangenheit weniger erforschte, wie dies im modernen Sinne angestrebt würde, als vielmehr ein neues Bild der Vergangenheit schuf.
Zunehmend wurden also fiktionale Elemente in die Geschichtswerke einbezogen, wobei man genau das bei den Vorgängern kritisierte. Demgegenüber versuchte man die eigene Darstellung durch richtiggehende Beglaubigungsapparate als glaubwürdig darzustellen, bis dahin, dass nicht nur Ereignisse erfunden wurden, sondern gleich die zugehörigen Quellen mit dazu. So kommt der römische Rhetoriklehrer Quintilian (ca. 35–96 n. Chr.) zum Schluss: „Die Geschichtsschreibung steht der Poesie sehr nahe, ist in gewisser Weise ein Gedicht in ungebundener Form und will erzählen, nicht beweisen.“
All dies soll dazu dienen, Leserinnen und Leser zu erreichen. Nach Lukian werden Leserinnen und Leser „von selbst aufmerksam, sobald der Autor darlegt, dass er Gegenstände behandeln will, die bedeutsam und wichtig sind, sie selbst angehen und Nutzen bringen“.
Anleihen bei den alttestamentlichen Geschichtswerken
Es hat sich gezeigt: Das Spektrum der antiken Geschichtsschreibung ist weit, und sie verändert sich naturgemäß im Laufe der Zeit. In dieses weite Spektrum der antiken Geschichtsschreibung ist auch die Apostelgeschichte einzuordnen.
Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass die Apostelgeschichte auch eigene Wege geht. Vor allem macht sie Anleihen bei den Geschichtswerken des Alten/Ersten Testaments, die bislang noch nicht zur Sprache kamen. Lukas erweist sich in seinen Büchern als profunder Kenner der jüdischen Heiligen Schriften. In der Apostelgeschichte zeigt sich dies vor allem in den Reden der Apostel in Jerusalem oder in den Reden des Paulus, mit denen er seine Botschaft in den Synagogen verkündet.
Dieser Hintergrund ist mitzudenken, wenn man verstehen will, wie Lukas seinen zweiten Band konzipiert hat; denn die Geschichtswerke des Alten/Ersten Testaments und insbesondere das deuteronomistische Geschichtswerk erzählen Geschichte als Geschichte Gottes mit seinem Volk. Es geht um Geschichtsdarstellung in Auseinandersetzung mit dem Gottesglauben, es geht darum, zu verstehen, wie alles so gekommen ist, wie es gekommen ist, auch und gerade die großen Katastrophen wie die der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier, die Zerstörung des Tempels und die Deportation der Oberschicht nach Babylon. Es geht um Gottes Handeln in der Geschichte und um die Antworten Israels und Judas darauf, es geht um menschliches Versagen angesichts von Gottes Heilshandeln und um die Konsequenzen, die daraus folgen, die zum Teil so katastrophal sind wie das Babylonische Exil samt dem Ende des davidischen Königtums und so weiter.
Noch einmal: Die Apostelgeschichte als Geschichtswerk
Seinen zweiten Band präsentiert Lukas seinen Leserinnen und Lesern als Fortsetzung seines ersten Bandes, in dem er, wie er zu Beginn sagt, über alles berichtet hatte, „was Jesus von Anfang an getan und gelehrt hat, bis zu dem Tag, an dem er in den Himmel aufgenommen wurde“ (Apg 1,1f). Diese Fortsetzung ist nun zwar keine Geschichte der Urkirche im umfassenden Sinn; doch zeigt das Buch, wie sich die Botschaft von Jesus, dem Christus, ausbreitet, ausgehend von Jerusalem, über Judäa, Samaria, bis an die „Grenzen der Erde“ (1,8), und wie jüdische Menschen und Menschen, die nicht aus der jüdischen Tradition stammen, auf diese Botschaft reagieren, positiv oder auch ablehnend, bis hin zum Schlusskapitel, das zwar nicht gerade an den Grenzen der Erde endet, aber dafür im Zentrum des römischen Weltreichs, in Rom. Damit ist Lukas mit seinem Stoff und seiner Art der Darstellung der erste, der in der griechisch-römischen Antike eine religiöse Bewegung in Form eines historischen Berichts darstellte.
Doch wird bei dieser Art der Darstellung auch deutlich, wie sehr Lukas bereits eine Auswahl getroffen hat. Seine Geschichte ist angesiedelt zwischen Jerusalem und Rom. Was nicht zwischen diesen beiden Polen liegt, ist nicht im Blick.
Diese Auswahl ist zunächst der Überzeugung des Lukas geschuldet, dass das, worüber er erzählt, für seine Leserinnen und Leser wichtig ist. Dies verbindet ihn mit Herodot, Thukydides und Polybios und ihrer Überzeugung, dass ihr Stoff von herausragender Bedeutung für ihre Leserinnen und Leser ist. Um die Bedeutung dessen, was er erzählt, zu unterstreichen, lässt Lukas Petrus als einen wichtigen Protagonisten der Anfangskapitel vor dem Hohen Rat sagen: „Und in keinem anderem ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen.“ (Apg 4,12) Für seine eigene Zeit, der Zeit zwischen dem irdischen Wirken Jesu und seiner verheißenen Wiederkunft (Apg 1,11) ist die Ausbreitung der Christusbotschaft das wichtigste Thema.
Diese Ausbreitung der Christusbotschaft, ausgehend von Jerusalem über Judäa und Samaria bis nach Rom, wird gleichzeitig zum Ordnungs- und Strukturschema für die erzählte Geschichte. In diese Struktur passt Lukas die Überlieferungen, die es zum Teil schon gab, ein, und stellt so eine Ordnung her. Nach Daniel Marguerat, der seit Jahren zur Apostelgeschichte forscht und 2022 seinen umfangreichen Kommentar zur Apg veröffentlichte, wird Lukas gerade dadurch zum Historiker, dass er die ungeordneten Fakten in eine Ordnung bringe, die sie zu einer Gründungsgeschichte des frühen Christentums werden lassen.
Bei seiner Darstellung legt Lukas einen besonderen Akzent auf die Entstehung der christusgläubigen Gemeinschaften, insbesondere in den ersten Kapiteln und anhand der Gemeinde von Jerusalem. Vor allem in den Summarien zeichnet er ein beeindruckendes Bild dieser Jerusalemer Urgemeinde, von ihrem Gemeinschaftsleben und der Gütergemeinschaft, vom kraftvollen Zeugnis der Apostel samt ihren zahlreichen Wundern sowie vom Wirken der Geistkraft, durch die täglich mehr Menschen der Gemeinschaft hinzugefügt wurden. Diese Gemeinschaft wird gezeigt als sowohl unter der Gnade Gottes als auch in höchstem Ansehen bei den Menschen stehend, so dass das Bild einer goldenen und gleichzeitig normierenden Anfangszeit entsteht.
Demgegenüber endet die Apostelgeschichte mit der Verkündigung des Paulus in Rom und zieht eine durchaus gemischte Bilanz. Für uns heute überaus schmerzhaft zu sehen sind die harten Worte gegenüber dem jüdischen Volk, dessen Verhalten mit Hilfe des Verstockungsauftrags aus Jes 6,9f. interpretiert wird. Doch ist trotz alledem auch für Lukas darüber noch nicht das letzte Wort gesprochen, und die Perspektive am Schluss ist offen.
Der Schluss der Apostelgeschichte zeigt Paulus als beharrlichen Verkünder des „Reiches Gottes“ und der „Lehre über Jesus Christus, den Herrn“ an „alle, die zu ihm kamen“ (28,30f) – und er übergibt damit die Staffette an die Leserinnen und Leser, die eingeladen sind, dieser „Lehre über Jesus Christus, den Herrn,“ zu trauen und sie ihrerseits bis an die Grenzen der Erde zu tragen.
Diese Geschichte der Ausbreitung der Christusbotschaft erzählt Lukas so, dass deutlich wird, wie sehr Gott bei alledem seine Hand im Spiel hat: So wird das Programm der Apostelgeschichte vom Auferstandenen formuliert (1,8), und im gesamten Werk wird Gott selbst als Lenker der Geschichte erkennbar. Der Geschichtsverlauf wird von Gott mittels der Zeugen der Christusbotschaft gelenkt, wobei der Heilige Geist eine entscheidende Rolle spielt, der an Pfingsten verliehen wird und im weiteren Verlauf die Geschehnisse ebenso wie die Protagonistinnen und Protagonisten beeinflusst, lenkt und voranbringt und auch dafür sorgt, dass bestimmte Wege nicht gegangen werden.
Bei allem erscheint die Geschichte Israels als Deutungshorizont der erzählten Ereignisse, so dass Jens Schröter sogar sagen kann, dass die Geschichte der entstehenden Kirche als Fortsetzung der Geschichte Israels interpretiert werde. Dies zeigt sich besonders in den Reden des Petrus, Stephanus und Paulus, wenn sie sich jeweils an ein jüdisches Publikum wenden. So werden Ereignisse aus der Zeit der beginnenden Christusgemeinden als Teil des Geschichtsplanes des Gottes Israels erkennbar.
Zu dieser Geschichtsdarstellung passt es, wenn die Ausbreitung der Jesusbotschaft von Anfang an von zahlreichen wunderhaften Ereignissen – von „Zeichen und Wundern“ – begleitet wird. Zeichen und Wunder ist ein Begriffspaar, das besonders in der Exodustradition seinen Ort hat. Offenbar geschieht nun in den Augen des Lukas etwas Vergleichbares: Es geschehen Heilungen, ja sogar Totenauferweckungen, in der Anfangszeit gewirkt vor allem von Petrus, aber auch (zusammenfassend erwähnt) von den anderen Aposteln, im zweiten Teil des Buches von Paulus, der nicht nur heilt, Dämonen austreibt und einen Toten erweckt (Apg 20,7–12), sondern sogar selbst den Biss einer giftigen Viper unbeschadet übersteht (Apg 28,3–6). Daneben gibt es wunderbare Befreiungen aus dem Gefängnis (Petrus, Johannes und Paulus), das wunderbare Entschwinden und Wiederauftauchen des Verkünders Philippus nach der Taufe eines Äthiopiers (Apg 8,26–40), wunderbare und stets siegreiche Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Magiern (Apg 8,4–13), bis hin zu einem Schiffbruch und der wunderbaren Rettung auf dem Weg nach Rom (Apg 27).
Auf diese Weise erscheinen die Taten der Zeuginnen und Zeugen Jesu als Fortsetzung des machtvollen Handelns Gottes in der Geschichte Israels und im Wirken Jesu. Leserinnen und Leser können erkennen, wie Gott seine mächtigen Taten durch die Zeugen Jesu zunächst unter den Jüdinnen und Juden wirkt und dann auch unter den Menschen, die aus der nichtjüdischen Tradition stammen.
Auf diese Weise erzeugt Lukas Spannung: Wie oft ist Paulus kurz davor, einem Anschlag zum Opfer zu fallen – doch immer wieder kann er entkommen, wird gerettet, durch Menschen oder Engel, bis er zuletzt tatsächlich nach Rom gelangt. Damit bedient Lukas sicher auch das Unterhaltungsbedürfnis seiner Leserinnen und Leser. Diesem mögen auch so groteske Geschichten geschuldet sein wie die von Hananias und Sapphira, an denen ein Strafwunder vollzogen wird (Apg 5,1–11), oder die Erzählung vom Aufstand der Silberschmiede in Ephesus und dem riesigen Tumult, dem die Jesusboten nur knapp entkommen können, bei dem aber die Menge zwei Stunden lang schreit: „Groß ist die Artemis von Ephesus“ (Apg 19,23–40). Solche Elemente verleihen der lukanischen Darstellung durchaus romanhafte Züge; doch kennzeichnen ja, wie wir gesehen haben, solche Stilmittel auch die griechisch-römische Geschichtsschreibung seit hellenistischer Zeit.
Und das Ziel dieser Darstellung? All die Anleihen aus den Schriften Israels zeigen, wie die Adressatinnen und Adressaten in der Kontinuität zu Israel stehen. Gleichzeitig ist das in Jesus Christus geschenkte Heil offen für alle Völker. Dass es so kommen musste, zeigt die Geschichte der Ausbreitung der Botschaft, die eben auch eine Geschichte der Konflikte und Brüche – auch und gerade mit Angehörigen des Volkes Gottes – ist. Das Buch und die herangezogenen Schriften helfen zu verstehen, wie der Christusglaube zwar aus Israel entstanden ist, wie es nun aber zu dieser Trennung kam, obwohl es doch so viel Gemeinsames gibt.
Auf dieser Grundlage können die Adressatinnen und Adressaten, die wohl zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus den nichtjüdischen Völkern stammten, sich selbst in die Geschichte einordnen, mit Hilfe dieser Gründungserzählung ihre Gegenwart verstehen und zugleich Perspektiven entwickeln. Wenn die eigene Gegenwart unsicher ist (vgl. Lk 1,4), kann Geschichte dazu verhelfen, Identität zu klären, indem sie über die eigene Herkunft Rechenschaft ablegt. Das versucht die Apostelgeschichte.