(Ir-)Rationalität in der Wirtschaft und den Wirtschaftswissenschaften

Im Rahmen der Veranstaltung "Philosophische Tage 2018", 11.10.2018

 Motivation

 

Es ist ganz offensichtlich, dass im Wirtschaftsleben viele Entwicklungen zu beobachten sind, die aus übergeordneter gesellschaftlicher Perspektive als unerwünscht, ja irrational zu bewerten sind, etwa Klimawandel, Arbeitslosigkeit, (Hyper-)Inflation, Banken-, Währungs- und Staatsschuldenkrisen.

Bei der Suche nach den Ursachen und der Bewertung solcher Fehlentwicklungen lassen sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch den Wirtschaftswissenschaften vereinfacht zwei Ansätze unterscheiden. Verantwortlich sind demnach entweder

  • die handelnden Personen: Sie sind irrational, gierig, kurzsichtig usw. oder
  • die Verhältnisse: Menschen verhalten sich zwar individuell rational, kollektiv können aber in der Interaktion mit anderen kontraproduktive, selbstzerstörerische Effekte auftreten, etwa bei Marktversagen und Koordinationsproblemen.

Die Wirtschaftswissenschaften, also die Betriebs- und die Volkswirtschaftslehre, untersuchen ganz allgemein das menschliche und gesellschaftliche Verhalten. Im Gegensatz etwa zur Soziologie und Psychologie steht dabei die Perspektive des Handelns unter Knappheit im Vordergrund des Interesses. Auch wenn die öffentliche Debatte in vielen Industrieländern vom Bild der Überflussgesellschaft geprägt sein mag, so ist im Allgemeinen unser Leben durch Knappheit geprägt. Die aktuellen Diskussionen zu Pflegenotstand, Rentenlücke, Wohnungsnot, Migration usw. machen das augenfällig. Unter diesen Bedingungen stellt sich dann die Frage, wie knappe Ressourcen etwa die menschliche Arbeitszeit, natürliche Rohstoffe und die Umwelt effizient zur Produktion wichtiger Wirtschaftsgüter eingesetzt werden können (Wirtschaftlichkeitsprinzip).

Zwischen effizientem und rationalem Handeln bestehen enge Wechselbeziehungen. Rationalität wird allgemein als ein an Zwecken ausgerichtetes Denken und Handeln charakterisiert. Es geht um das bewusste Treffen von Entscheidungen, um gegebene Ziel zu erreichen.

Im Kontext der Wirtschaftswissenschaften wird Rationalität vor allem mit dem Abschätzen und Nutzen von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen in Verbindung gebracht. Welche Zwecke können etwa mit den zur Verfügung stehenden Mitteln erreicht werden? Insbesondere wird danach gefragt, wie etwa vorgegebene Zwecke mit dem geringstmöglichen Mitteleinsatz erreicht werden können (Effizienz). Dagegen geht es nicht um die Frage, ob die richtigen Zwecke angestrebt werden (Effektivität). Die Wirtschaftswissenschaften können nach diesem Selbstverständnis keinen Beitrag bei der Auswahl der Ziele menschlichen Handelns leisten.

Der Gegenbegriff zur Rationalität ist das Irrationale, ein Zustand oder ein Handeln, das nicht durch vernünftige Gründe gestützt ist, sondern etwa durch Affekte, Wunschdenken oder anormale psychische Zustände. Damit sind ausdrücklich nicht die sogenannten Bauchentscheidungen im Sinne der Unterscheidung in schnelles und langsames Denken gemeint (Daniel Kahneman). Solche Heuristiken sind erfahrungsbasierte Entscheidungsregeln, die oft unbewusst angewandt werden. Sie sind in dem Sinne rational, dass bei zunehmenden Kosten der Informationsbeschaffung und -verarbeitung, abnehmenden Vorteilen differenzierten Entscheidens und hohem Zeitdruck vereinfachte Entscheidungsregeln vernünftig sein können.

Im Folgenden wird zunächst rationales Entscheiden auf individueller Ebene, versinnbildlicht im sogenannten Homo oeconomicus, diskutiert. Es geht dabei vor allem auch um die unterschiedliche Verwendung dieses Modells in den Wirtschaftswissenschaften und in der öffentlichen Diskussion. In den Wirtschaftswissenschaften ist der Homo oeconomicus ein weit verbreitetes, breit anwendbares entscheidungstheoretisches Modell, in der öffentlichen Diskussion ist er dagegen zur Karikatur eines geldgierigen Egoisten verkommen. Diese Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und tatsächlicher Anwendung eines zentralen ökonomischen Modells hat weitreichende Folgen, insbesondere auch für die Politikberatung.

In einem zweiten Schritt soll es um den Zusammenhang zwischen individuell rationalen Entscheidungen und deren Folgen auf kollektiver Ebene gehen. Unter welchen Bedingungen führt ein an individuellen Zielen ausgerichtetes egoistisches Handeln zu gesellschaftlich wünschenswerten Ergebnissen, wie es die Metapher der unsichtbaren Hand von Adam Smith impliziert? Im Umkehrschluss ist dann natürlich auch zu fragen, unter welchen Umständen das nicht zu erwarten ist: Wann hat individuell rationales Verhalten auf kollektiver Ebene etwa aufgrund von Marktversagen und Koordinationsproblemen unerwünschte, ja irrationale Folgen?

 

Wer ist dieser Homo Oeconomicus (nicht)?

 

Handeln Menschen im Alltagsleben rational? Sicher nicht durchgängig. Es gibt viele Gründe, warum sich Menschen nicht rational verhalten. Dazu zählen Wunschdenken, unreflektierte Instinkte, Emotionen, Selbsttäuschung, Optimismus-Bias und Herdenverhalten, die sogenannten „animal spirits“ (John Maynard Keynes). Auch (die allermeisten) Ökonomen glauben nicht, dass Menschen immer rational handeln – schließlich stehen sie jeden Morgen auf und leben in der gleichen Welt wie alle anderen Menschen auch.

Dennoch findet das Modell des rationalen Homo oeconomicus in den Wirtschaftswissenschaften breite Anwendung. Zwei grundlegende Erklärungen bieten sich an:

  • Irrationales Verhalten ist im ökonomischen Kontext nicht bzw. nur wenig relevant.
  • Rationales Verhalten ist ein interessantes wissenschaftliches Referenzmodell.

Ökonomen glaubten, und viele glauben weiterhin, dass individuelle Irrationalität nicht groß beachtet werden muss, wenn es darum geht, das Verhalten ganzer Volkswirtschaften zu erklären. Warum sollte dies der Fall sein?

  • In ausgewählten Wirtschaftsbereichen mag irrationales Verhalten nicht verbreitet sein, etwa in vielen Produktionsbetrieben. Vor der Finanzkrise hätten viele Beobachter wohl auch den Finanzsektor dazu gezählt.
  • Irrationalität kann Zufallseffekte hervorrufen, die sich im Mittel aber ausgleichen.
  • Möglicherweise verhalten sich Menschen so, „als ob sie rational wären“ (Milton Friedman). So orientieren sich Unternehmer oft an Daumenregeln (Heuristiken), die sich im Zeitablauf als erfolgreich erwiesen haben. Faktisch verhalten sie sich damit, als ob sie ihre Gewinne maximieren würden, und sichern so das Überleben ihrer Unternehmen im laufenden Selektionsprozess des Marktgeschehens (Rationalität als Systemeigenschaft).

Rationalität als Referenzmodell: Aber selbst wenn irrationales Verhalten bei wirtschaftlichen Entscheidungen vorherrschend sein sollte, kann das Modell des rationalen Akteurs in der wissenschaftlichen Analyse produktiv eingesetzt werden. Wie in anderen Bereichen müssen auch in den Wirtschaftswissenschaften die zu untersuchenden Zusammenhänge vereinfacht werden, um sie verstehen und erklären zu können. Welche Modelle dabei gewählt werden, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Da in den Wirtschaftswissenschaften die effiziente Verwendung knapper Ressourcen im Vordergrund steht, scheint es naheliegend, als Referenzmodell einen Akteur zu wählen, der seine Ziele unter effizienter Nutzung seiner Ressourcen verfolgt – eben den Homo oeconomicus.

Es ist für die Wirtschaftswissenschaften wie auch andere Sozialwissenschaften grundlegend, dass menschliches Verhalten als von Absichten und Motiven bestimmt angesehen wird. Ökonominnen und Ökonomen sind dabei äußerst zurückhaltend, was die Möglichkeit angeht, die Handlungsmotive von Menschen zu erkennen. Es gibt keine strikten psycho-physikalischen Gesetze des menschlichen Verhaltens, die mentale Ereignisse wie Ansichten und Wünsche mit physikalischen Ereignissen wie Handlungen verbinden. Daher wird der umgekehrte Weg gegangen und versucht, aus beobachtbarem menschlichem Verhalten und anderen empirischen Befunden unter den Annahmen der Rational-Choice-Theorie Rückschlüsse auf die Gründe für Handlungen zu ziehen.

Modelle der Rationalität können demnach als ein Weg interpretiert werden, die Ansichten und Wünsche von Menschen so zu beschränken, dass diese von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern erklärt werden können. Dabei liegt das Augenmerk nicht auf dem Verhalten einzelner Individuen; hierfür sind andere Wissenschaften wie etwa die Psychologie weit besser geeignet. Vielmehr steht im Vordergrund des Interesses das „typische, durchschnittliche“ Verhalten von Menschen.

In seiner einfachsten Form unterstellt das Modell rationaler Agenten, dass diese alle möglichen alternativen Zustände der Welt kennen und für jeden dieser Zustände eine konsistente Präferenzordnung angeben können. Mathematisch gesehen erfüllen die Präferenzen dann die sogenannten Rationalitätsannahmen, nämlich Vollständigkeit, Reflexivität und Transitivität – nicht mehr und nicht weniger. Sind diese Präferenzen auch über die Zeit stabil, so kann aus dem Verhalten von Menschen, etwa der beobachteten Nachfrage für ein Produkt, auf die sogenannte Nutzenfunktion der Konsumenten geschlossen werden (revealed preferences). Welche intrinsische Motivation den Präferenzen zugrunde liegt, etwa Egoismus oder Altruismus, ist dabei irrelevant. In dieser Analyse wird – wie für die Wirtschaftswissenschaften typisch – angenommen, dass menschliches Handeln mit Hilfe formaler Modelle analysiert werden kann.

Wichtige Verallgemeinerungen dieses sehr einfachen Modells betreffen u.a. intertemporale Entscheidungen (Fragen der Zeit(in)konsistenz), Unsicherheit (Maximierung des Erwartungsnutzens und Rolle der Risikoeinstellung), Ungewissheit (alternative Entscheidungsregeln wie die Minimax- und Maximax-Regel) und verhaltensökonomische Ansätze (referenzabhängige Präferenzen, Wahrscheinlichkeitsgewichtung, begrenzte Aufmerksamkeit).

Wie sind rationale Entscheidungen aus normativer Sicht zu beurteilen? Die Rationalitätsannahmen implizieren nicht, dass rationale Entscheidungen gut oder gar moralisch richtig sind. Rational zu sein besagt in diesem Kontext nur, dass Entscheidungen unter den Bedingungen der Rational Choice Theory konsistent sind. Dies sagt aber nichts darüber aus, wofür das rationale Entscheidungskalkül eingesetzt wird und ob nicht noch andere Kriterien, z.B. andere Präferenzordnungen relevant sind (rational fools, Amartya Sen). Die Rationalitätsannahmen implizieren auch keinen (psychologischen) Egoismus. Die Präferenzen von Menschen können (und werden in der Regel) auch das Wohl anderer einschließen, z.B. im Konzept des „effektiven Altruismus“.

 

Wissenschaftliche Praxis und öffentliche Wahrnehmung: Wie vergleicht sich nun das Konzept des Homo oeconomicus, wie es in den Wirtschaftswissenschaften verwendet wird, mit dem Homo oeconomicus der öffentlichen Wahrnehmung? In den Wirtschaftswissenschaften wird das Modell des Homo oeconomicus einerseits sehr spezifisch in einem formalisierten Zusammenhang verwendet (vgl. Abbildung Word cloud). Andererseits wird dieses Modell aber auch sehr viel breiter verwendet, als dies in der Öffentlichkeit geschieht. Wie bereits diskutiert, hebt das Modell des Homo oeconomicus auf die Konsistenz von Entscheidungen ab; dagegen ist es völlig offen bezüglich der zugrundeliegenden Wünsche und Motive.

So kann der Homo oeconomicus in sein Entscheidungskalkül die Folgen etwa allein für Menschen berücksichtigen (Anthropozentrismus). Genauso ist es mit diesem Modell aber auch vereinbar, die Folgen für die gesamte belebte und unbelebte Umwelt zu beachten (Ökozentrismus). Im Falle des Anthropozentrismus stellt sich dann die Frage, welche Menschen in das Entscheidungskalkül einbezogen werden. Der Homo oeconomicus könnte als Egoist nur an den Folgen seines Handels für sich interessiert sein; er könnte aber auch den Kreis zu berücksichtigender Menschen weiterziehen und etwa seine Familie, Nachbarschaft, Gemeinde, Land und/oder die Weltgemeinschaft einbeziehen. Das Modell verlangt aber noch weitere Festlegungen. Soll etwa der persönliche Nutzen, der Gewinn maximiert werden oder genügt es, ein vorgegebenes Ziel im Sinne der Suffizienz zu erreichen? Werden Entscheidungen in dem Sinne optimal getroffen, dass alle relevanten Informationen berücksichtigt werden, oder wird – wie etwa von der Verhaltensökonomie betont – mit Hilfe von Heuristiken und Daumenregeln entschieden? Die Liste möglicher Differenzierungen lässt sich abhängig von der jeweiligen Fragestellung beliebig weiterführen.

Diese verschiedenen Dimensionen des Entscheidungsverhaltens des Homo oeconomicus werden im wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream auf vielfältige Weise kombiniert und auf die spezifischen Fragestellungen abgestimmt. Damit steht die praktische Verwendung des Homo oeconomicus-Modells in den Wirtschaftswissenschaften in starkem Gegensatz zu dem – in der Öffentlichkeit weit verbreiteten – eindimensionalen Bild eines egoistischen zeitkonsistenten Nutzenmaximierers.

Diese Diskrepanzen zwischen wirtschaftswissenschaftlicher Praxis und öffentlicher Wahrnehmung sind nicht trivial und beeinflussen insbesondere die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Sie bestimmen damit auch, wie Ergebnisse aus den Wirtschaftswissenschaften im gesellschaftlichen Diskurs aufgenommen und für die Rechtfertigung politischer Entscheidungen gebraucht oder auch missbraucht werden. Wird etwa in Politik und Öffentlichkeit nicht verstanden, was unter Modellen wie dem des Homo oeconomicus verstanden wird und wie diese Modelle in den Wirtschaftswissenschaften verwendet werden, dann liegt es nahe, dass Ergebnisse der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung entweder nicht oder nur unvollständig und verzerrt in die gesellschaftliche Entscheidungsfindung einfließen – eine wirklich irrationale Situation.

So ist das beschriebene breite Spektrum an menschlichen Entscheidungskalkülen, das in ökonomischen Modellen berücksichtigt werden kann, eine Erklärung für die in der Öffentlichkeit häufig beklagte Uneinigkeit von Ökonominnen und Ökonomen. Bei einem mangelnden Verständnis für diese Vielfalt möglicher Modellannahmen und damit einhergehender unterschiedlicher, widersprüchlich erscheinender Modellanalysen kann es zum einen zu einer pauschalen Ablehnung widersprüchlich erscheinender Politikempfehlungen kommen. Zum anderen ist auch das bekannte Rosinenpicken zu beobachten. Es werden also nur solche Analysen berücksichtigt, die „genehme“ Ergebnisse liefern – unabhängig von den zugrundeliegenden Annahmen und unabhängig davon, wie robust diese Ergebnisse sind. Diese Lücke zwischen öffentlicher Wahrnehmung und tatsächlicher wissenschaftlicher Praxis zu schließen ist sowohl eine Bringschuld der Wirtschaftswissenschaften als auch eine Holschuld von Politik und Öffentlichkeit.

Zusammenfassend scheint die Idee des Homo oeconomicus, dass also Akteure rational handeln, nicht unbedingt eine im ökonomischen Elfenbeinturm erträumte Phantasie zu sein. Sie muss auch kein methodischer Trick sein, um „elegante“ mathematische Methoden anwenden zu können. Stattdessen kann das Modell des Homo oeconomicus als ein naheliegendes Referenzmodell genutzt werden in einer Wissenschaft, die sich für die effiziente Nutzung von Ressourcen interessiert. Es wird heute in der wirtschaftswissenschaftlichen Praxis sehr flexibel und produktiv verwendet. Es schließt damit auch viele nur vordergründig irrationale Verhaltensweise ein, wie etwa Verlustaversion und Gewohnheitsverhalten. Trotz aller öffentlicher Kritik an diesem Entscheidungsmodell könnte mit Mark Twain formuliert werden: „Die Nachricht vom Tod des Homo oeconomicus ist stark übertrieben”.

 

Invisible Hand – Marktversagen

 

Fehlentwicklungen im Wirtschaftsleben können einerseits auftreten, wenn Menschen irrational, kurzsichtig, gierig, unverantwortlich usw. handeln. Sie können andererseits aber auch entstehen, wenn Menschen sich zwar individuell rational verhalten, kollektiv aber in der Interaktion mit anderen kontraproduktive, selbstzerstörerische Effekte auftreten, etwa bei Marktversagen und Koordinationsproblemen. Welche dieser Sichtweisen gilt, bestimmt wesentlich, wie eine angemessene Politik auszusehen hat.

Mit seiner Metapher von der unsichtbaren Hand (invisible hand) beschreibt der schottische Ökonomen und Moralphilosoph Adam Smith eine Wirtschaft, in der individuell rationales Verhalten gesamtwirtschaftlich wünschenswerte Folgen hat. Unter den Bedingungen der Konkurrenz fördern danach Akteure, die an ihrem eigenen Wohl orientiert handeln, unbewusst das Gemeinwohl:

„Wenn daher jeder einzelne so viel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch dieses so lenkt, dass ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, dass das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird … Er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag. Es ist auch nicht immer das Schlechteste für die Gesellschaft, dass dieser nicht beabsichtigt gewesen ist. Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.“ (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, Buch IV).

Der Wettbewerb zwischen Unternehmen und zwischen Haushalten führt bei einer Koordination der individuellen Entscheidungen über den Markt dazu, dass ein privates „Laster“ wie das Gewinnstreben öffentliche „Tugenden“ bewirken kann und gesellschaftliche Bedürfnisse bestmöglich befriedigt werden – ganz im „faustschen Sinne“ gilt dann, dass die Kraft die Böses will, Gutes schafft: „Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil trachten.“ (Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, Buch I).

Getrieben wird dieses Resultat von der Signalfunktion von Preisen in einer Marktwirtschaft. Preise sind Knappheitssignale und zeigen Produzenten und Konsumenten die soziale Bewertung von Gütern an. Steigt etwa der soziale Nutzen eines Gutes, wird es also knapper, etwa Energie oder Dienstleistungen in der Altenpflege, dann erhöht sich durch die Konkurrenz der Nachfrager der Preis. Die höheren Gewinn- und Verdienstmöglichkeiten geben Unternehmen und Arbeitnehmern wiederum den Anreiz, mehr zu produzieren. Dies führt implizit zu einer Umschichtung der Produktion hin zu dem vermehrt nachgefragten, weil sozial als wichtiger eingestuften Produkt.

Die moderne Mikroökonomie hat diese Zusammenhänge aufbauend auf Léon Walras mit dem (Arrow-Debreu-)Modell des Allgemeinen Marktgleichgewichts präzisiert und einer formalen Analyse zugänglich gemacht. Sie zeigt, dass unter sehr restriktiven Annahmen – u.a. vollständigen Wettbewerbs, der Abwesenheit externer Effekte und vollkommener Informationen – die resultierende Produktionsstruktur in einer dezentral organisierten Marktwirtschaft effizient ist. Effizienz in diesem Sinne bedeutet, dass für gegebene Ressourcen der Zustand mit der größtmöglichen Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse erreicht wird (Allokations- oder Paretoeffizenz). Niemand kann demnach durch Umschichtungen in der Produktionsstruktur besser gestellt werden, ohne dass jemand anderer gleichzeitig schlechter gestellt wird. Dieses erste Theorem der Wohlfahrtsökonomie beschreibt demnach einen bemerkenswerten Zusammenhang: Für eine gegebene Ressourcenausstattung liefert der dezentralisierte Wettbewerb zwischen Unternehmen und Haushalten eine effiziente Ressourcenallokation, die auch kein noch so intelligenter „Superplaner“ verbessern könnte.

Nicht nur nach Einschätzung von Nobelpreisträger Paul Samuelson gehört „diese Theorie, dass nämlich das raue Klima des Wettbewerbs am Markt eine wirkungsvolle Kraft zur Hebung von Produktion und Lebensstandard darstellt, … zu den profundesten und überzeugendsten Thesen der Geistesgeschichte“.

Ganz offensichtlich gilt diese Bewertung nur, wenn die entsprechenden strengen Annahmen erfüllt sind. Können wir davon ganz allgemein im Wirtschaftsleben ausgehen? Wohl eher nicht. Viele Märkte sind vom Referenzmodell des vollkommenen Wettbewerbs und der Abwesenheit externer Effekte (weit) entfernt. Einzelne Unternehmen üben Marktmacht aus, und Menschen berücksichtigen in ihren Entscheidungen nicht alle Folgen für andere (externe Effekte). In solchen Situationen des Marktversagens kann dann auch nicht davon ausgegangen werden, dass individuell rationales Handeln immer zu gesellschaftlich wünschenswerten Entwicklungen führt. Es ist dann zu fragen, welche politischen Korrekturen des Marktprozesses notwendig sind, um kollektiv erwünschte Ergebnisse zu erzielen.

Im Folgenden sollen Situationen von Marktversagen, die zu kollektiv irrationalen Folgen bei individuell rationalem Verhalten führen können, am Beispiel von Banken Runs und den zugrundeliegenden Koordinationsproblemen sowie des Klimawandels als Beispiel für externe Effekte untersucht werden.

 

Banken Run: Es kommt zu einem Banken Run, wenn eine große Zahl von Einlegern gleichzeitig versucht, ihr Geld von der Bank abzuheben – entweder weil sie wissen oder zu wissen glauben, dass ihre Bank wirtschaftliche Probleme hat. Dieses lemminghafte Verhalten muss offensichtlich scheitern, da die Bank in jedem Fall zusammenbricht, wenn alle Kunden ihr Geld abziehen wollen (vgl. etwa den Run auf die britische Bank Northern Rock im September 2007).

Grundsätzlich ist jede (noch so) konventionelle Bank anfällig für einen solchen Banken Run. Das Geschäftsmodell einer Bank besteht gerade darin, kurzfristige Einlagen der Sparer in Form langfristiger Kredite an Investoren zu vergeben. Mit dieser sogenannten Fristentransformation bilden die Banken eine „Brücke“ zwischen den Präferenzen der Sparer für kurzfristig verfügbare Einlagen und den Präferenzen der Investoren für langfristig verfügbare Kredite. Sie erfüllen damit eine wichtige gesamtwirtschaftliche Funktion. Grundlage für diese wichtige Fristentransformation bildet das Gesetz der großen Zahl, nach dem zwar viele Sparer ihre Einlagen kurzfristig zurückziehen könnten, es aber in der Regel nur wenige tatsächlich tun. So entsteht ein „Bodensatz“ kurzfristig verfügbarer Finanzmittel, welche die Bank langfristig ausleihen kann.

Dieses Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr, wenn – etwa aufgrund von Gerüchten über geschäftliche Probleme der Bank – mehr Kunden als sonst üblich ihr Geld abziehen und es zu Schlangen vor den Bankschaltern kommt (Bank Run). Weil die Einlagen langfristig verliehen sind, können nur ganz wenige – nämlich die ersten – Anleger ihr Geld zurückbekommen. Wenn noch mehr Anleger ihr Geld zurückwollen, ist die Bank illiquide und muss schließen. Ist das Verhalten der Anleger ein Beispiel für die „animal spirits“, also ein irrationales Massenphänomen, wie es vordergründig aussieht und wie es von den Nobelpreisträgern George Akerlof und Robert Shiller eingestuft wird? Aus Sicht des einzelnen Anlegers ist der Run ein völlig rationales Verhalten. Obwohl der Ansturm der vielen Anleger letztlich zum Zusammenbruch der Bank führt, bleibt es dennoch richtig, dass diejenigen, die als erste zur Bank kommen, ihre Einlagen zurückbekommen. Auch hier gilt Gorbatschows Diktum: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Koordinationsprobleme unter den Anlegern führen dazu, dass individuell rationales Verhalten kollektiv irrationale Folgen hat.

Die Einstufung eines Banken Runs entweder als Folge von „animal spirits“ oder von individuell-rationalem Verhalten hat weitreichende Folgen, etwa für eine angemessene Bankenregulierung. Im ersten Fall sollte sich die Politik etwa mit Informations- und Schulungskampagnen, mit moralischen Stillhalteappellen an die Bankkunden wenden. Wird der Banken Run dagegen als Folge von Koordinationsproblemen zwischen grundsätzlich rationalen Akteuren verstanden, dann ist etwa die Einführung einer Einlagensicherung die angemessene Reaktion.

 

Klimawandel: Individuelle Angebots- und Nachfrage-Entscheidungen können offensichtlich nur dann zu gesellschaftlich wünschenswerten Ergebnissen führen, wenn alle relevanten Folgen in die Entscheidungen einfließen. Eine praktisch sehr relevante Form des Marktversagens sind externe Effekte, also Kosten oder Nutzen wirtschaftlichen Handels, die nicht im Preis von Produkten internalisiert sind. Ein besonders wichtiges Beispiel sind dabei Umweltschäden wie die Luftverschmutzung. Unternehmen können typischerweise im Produktionsprozess Energie verbrauchen und dabei Treibhausgase wie CO2 in die Atmosphäre abgeben, ohne für die Folgekosten wie den Klimawandel zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ähnliches gilt für den Privathaushalt, der Auto fährt, einen Kaminofen betreibt oder eine Flugreise unternimmt. Beide verursachen Schäden für die Allgemeinheit, ohne dafür in Haftung genommen zu werden. Die Energiepreise sind verzerrt und signalisieren nicht, wie hoch eine intakte Umwelt tatsächlich bewertet wird. Da Energie zu billig ist, wird zu viel davon verbraucht, und die Umweltbelastungen sind zu hoch. Was aus individueller Sicht rational ist, führt auf kollektiver Ebene zu irrationalen, unerwünschten Entwicklungen wie dem Klimawandel.

Wieder hängt die Therapie von der Diagnose ab. Wird das Problem darin gesehen, dass Menschen wahlweise unverantwortlich, unvernünftig, kurzsichtig und/oder irrational sind, besteht die angemessene politische Reaktion etwa in Appellen an die Vernunft und die Verantwortung für die zukünftigen Generationen sowie in Informationskampagnen für energiesparendes Verhalten. Wird der Klimawandel dagegen als Folge externer Effekte eingestuft, liegen Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen und marktwirtschaftliche Lösungen wie Klimasteuern und Emissionszertifikate nahe.

Offensichtlich sind dabei grundlegende Governanceprobleme zu lösen, wenn etwa die Regionen mit den Hauptverursachern, vor allem die Länder des Nordens, sich von den Regionen der Hauptbetroffenen, eher die weniger entwickelten Länder des Südens, unterscheiden. Wie können souveräne Nationalstaaten sich international verbindlich koordinieren? Wie mit Trittbrettfahrern umgehen, die von den Bemühungen um weniger Treibhausgase profitieren, ohne dazu beizutragen? Sollen Länder eine Vorreiterrolle im Klimaschutz übernehmen, wenn sie dann Nachteile im internationalen Wettbewerb hinnehmen müssen und Arbeitsplätze bedroht sind?

 

FAZIT

 

Bei der Diskussion wirtschaftlicher Fehlentwicklungen wurden vereinfacht zwei Ansätze unterschieden – verantwortlich sind „die handelnden Personen“ oder „die gesellschaftlichen Verhältnisse“. Liegen die Probleme auf der Ebene individueller Personen, sind Appelle und Informationen wesentliche Lösungsansätze. Sind die Verhältnisse ursächlich, sind vor allem Veränderungen des Entscheidungsumfelds und der wirtschaftlichen Anreize vielversprechend.

In der (wirtschafts-)politischen Praxis sind diese beiden Sichtweisen weniger als konkurrierende, sondern eher als sich ergänzende Ansätze zu sehen. Wie das Beispiel des Klimawandels verdeutlicht, sind bei der Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen komplexe politische Entscheidungsprobleme zu lösen. So kann der Ausstoß des klimaschädlichen CO2 auf technisch-praktischer Ebene vergleichsweise einfach reduziert werden, indem nicht-regenerative Energien verteuert werden, etwa durch eine Erhöhung der Mineralölsteuer. Dies hätte aber wiederum weitreichende Folgen u. a. für einkommensschwache Haushalte, Pendler, die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und damit die Sicherheit von Arbeitsplätzen. Für viele dieser Probleme sind wiederum technisch-praktische Lösungen verfügbar wie der Ausbau des Nahverkehrs, Pendlerpauschalen, berufliche Weiterbildung und Sozialhilfe, die dabei helfen können, die Folgen teurerer Energie abzumildern.

Solche Veränderungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen werfen demnach nicht nur – möglicherweise nur zu einem geringen Teil – technisch-praktische Fragen auf, sondern bedürfen vor allem auch der gesellschaftlichen Akzeptanz. Sie erfordern in einer offenen Gesellschaft vielfältige Diskussionen und den Ausgleich sehr unterschiedlicher Interessen. Diese Diskussionen werden nicht nur daran ansetzen können, welche technisch-praktischen Lösungen zu wählen sind, sondern auch an den grundlegenden Einstellungen und Präferenzen der Menschen. In diesem Sinne wirken Appelle und Informationen möglicherweise nicht so sehr dadurch, dass Menschen ihr Verhalten direkt ändern, sondern eher indirekt dadurch, dass sie die politische Akzeptanz für entsprechende Veränderungen in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern helfen.

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