Irrationalität in der (Natur-)Wissenschaft?

Im Rahmen der Veranstaltung "Philosophische Tage 2018", 11.10.2018

Fragezeichen! Darauf lege ich größten Wert. Bevor ich anfange, zwei Anekdoten zum Thema: Nehmen wir mal an, wir hätten hier eine Casting-Show und es würden sich Leute vorstellen mit ihren Interessen, würden ein bisschen etwas über ihre Persönlichkeit erzählen – und wir sollten dann hinterher entscheiden, ob diese Person Physik oder Kunst studieren wird. Was glauben Sie, gelingt uns das? Die allgemeine Einschätzung ist doch, dass diejenigen, die Physik studieren, andere Eigenschaften besitzen als diejenigen, die Kunst studieren oder Musik. Das liegt unter anderem daran, weil das Fach Physik, und das nehme ich jetzt einfach einmal als den Namen für alle Naturwissenschaften, den Studentinnen und Studenten relativ wenig Freiheiten lässt, genau genommen: gar keine. Du musst da durch. Es beginnt mit Mechanik, mit Elektrodynamik, dann dem heiligen Gral, der Quantenmechanik. Du Thermodynamik lernen, ihre Hauptsätze kennen und vieles andere mehr.

Es geht überhaupt nicht darum, was mit dieser Person, die da Physik studiert, passiert, was die Gründe dafür sind, weshalb sie das Fach studiert; es ist nämlich völlig egal, ob man aus Südafrika kommt, aus Ost-Timur oder woher auch immer – egal, wo Sie auf dieser Welt Physik studieren, Sie kriegen überall die gleichen Inhalte präsentiert. Das ist bei Kunstakademien völlig anders. Unter Umständen macht man Ihnen gar kein Angebot, sondern man sagt: mach irgendwas und gib am Ende des Semesters deine Mappe ab. Für einen Physiker völlig undenkbar. Ich will Sie mit dieser einen Anekdote darauf hinweisen, dass es für uns schon klar ist, dass wir, wenn wir über diese Freiheit des Irrationalen sprechen, nämlich die Möglichkeit, etwas auszuprobieren, was eben zunächst einmal grundlos ist – zumindest seinen Grund nicht automatisch im Verstand und in der Vernunft findet, sondern wo ganz anders –, dass diese Freiheitsräume für diejenigen, die Naturwissenschaften studieren, doch eher Mangelware sind.

Die andere Geschichte geht so: Stellen Sie sich einmal vor, abends, nach dem Heute-Journal, steht, wie üblich eine Person vor einer Wetterkarte und erklärt wie das Wetter morgen wird und beschwert sich nun darüber, es hätte jetzt sechs Wochen lang ununterbrochen geregnet. Es würde jetzt reichen, ab morgen müsse es einfach aufhören. Es müsse! Er wisse nicht genau wie, aber es müsse irgendwie. Stellen Sie sich das mal vor. Sie würden doch sofort beim Sender anrufen und sagen: „Was habt Ihr denn da für einen, der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Der muss doch erklären, was der Fall ist, und nicht, was sein soll!“ Da sehen Sie ebenfalls ein Problem, das wir mit den Naturwissenschaften nicht bewältigen können. Das Normative bzw. das, was sein soll, und das, was ist, sind nämlich zwei völlig verschiedene Bereiche. Das, was wir uns wünschen, was möglicherweise auch nicht aus unserer Vernunft oder unserem Verstand abgeleitet wird, sondern aus ganz anderen Gründen, ist ebenfalls nicht Thema der Naturwissenschaften.

 

Wir irren uns empor

 

Deswegen ist das mit dem Fragezeichen so eine Sache. Wieviel Irrationalität können wir uns denn innerhalb der Naturwissenschaft überhaupt leisten? Wir irren uns empor, ist der eigentliche Titel, weil natürlich der Irrtum hier einer sein soll, der uns leitet. Es gibt den wunderbaren englischen Satz: „science is about doubt“. Soll heißen: Bei Wissenschaft geht es um Zweifel. Zweifel und Irrtum sind beides keine Begriffe, die man so ohne weiteres messen kann, aber sie sind für uns qualitative Begriffe, weil sie uns ein wenig von der Geistessituation derjenigen Person mitteilen, die Naturwissenschaften betreibt. Ich kann Ihnen jetzt schon einmal sagen, das wird ein knochentrockener Vortrag, also, „bone dry“. Denn eigentlich stehe ich hier als Jurist, als Jurist der Naturgesetze.

Nun, worum geht es? Es geht im Grunde genommen darum: Wir befinden uns innerhalb einer Menschheit, innerhalb einer Umwelt, auf einem Planeten, innerhalb des Kosmos und versuchen, irgendwie mit dieser Welt klarzukommen. Dafür haben wir verschiedene Varianten gefunden, wie wir uns diese Schöpfung oder auch überhaupt die Welt um uns herum erklären. Wir haben verschiedene Möglichkeiten, das zu tun. Wie gut wir inzwischen in der Lage sind, die Welt rational zu analysieren, mag ein Beispiel der letzten Jahre zeigen: Es ist uns gelungen, Gravitationswellen nachzuweisen. Das hat jetzt keine unmittelbare Relevanz für unser tägliches Dasein, aber diese Gravitationswellen wurden gemessen anhand einer Längenänderung von einem Tausendstel Protonenradius.

Dass ein Proton ziemlich klein ist, können sich alle vorstellen. Wenn Sie ein Gramm von Ihrem Zeigefinger abschneiden, dann haben Sie schon 1024 Protonen, also eine Million Trillionen. Das sind also sehr, sehr kleine Teilchen, und davon ein Tausendstel ist natürlich wirklich sehr wenig – an der Stelle kann ich mir den Kalauer schon gönnen, da Sie vielleicht noch den einen oder anderen aufmunternden Satz brauchen. Ein Tausendstel, das erinnert an den Lieblingswitz unserer Kanzlerin, der folgendermaßen geht: Der Staatsratsvorsitzende der Deutschen Demokratischen Republik hat in einer Rede gesagt, dass den Sozialismus in seinem Lauf natürlich niemand aufhält. Heute bedeckt er ein Fünftel der Erdoberfläche, aber in Zukunft wird es ein Sechstel, ein Siebtel, ein Achtel sein… So ist es auch mit dem Tausendstel.

Es ist also weniger als eins, und zwar deutlich weniger, also quasi eine Promille. Aber was ist da gemessen worden? Die Wirkung ist mit einer gewaltigen Anlage in den Vereinigten Staaten im Staate Washington. Da steht eine riesige, vier Kilometer lange Laser-Anlage, vier Kilometer lange Laser-Strahlen, die dort zur konstruktiven Interferenz gebracht werden. Und immer dann, wenn eine Störung diese Anlage durchläuft, wird diese Interferenz gestört, und im Staate Louisiana, also im Süden der Vereinigten Staaten, stand eine weitere LASER-Anlage, die das sechs Mikrosekunden später auch gemessen hat. Das heißt, wir wissen heute, die Gravitation breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Aber wichtiger ist noch, dass diese Gravitationswellenerscheinung eben ausgelöst worden ist von zwei schwarzen Löchern in einem Abstand von1,3 Milliarden Lichtjahren. Es ist schon sehr erstaunlich, zu welch präzisen Messleistungen wir heute in der Lage sind. Ein Lichtjahr ist eine ziemlich große Länge, nämlich 365 Tage bzw. 86.400 Sekunden mal 300.000 Kilometer pro Sekunde, macht 10 Billionen Kilometer.

 

Empirie und Experiment

 

Das heißt, wir haben eine Objektklasse, die schon an sich außerordentliche Eigenschaften besitzt. Nämlich ein Objekt, das gar kein Licht mehr abgibt, sondern seine Raum-Zeit so verzerrt, dass nichts von ihm entweichen kann; und dieses eine Objekt verschmilzt mit einem anderen ähnlichen Objekt und erzeugt dabei Gravitationswellen, die dann 1,3 Milliarden Jahre später auf unserem Planeten gemessen werden können. Und warum? Weil wir vor 400 Jahren angefangen haben, eine bestimmte Methodik der Naturforschung vorzunehmen: die empirische Methode, die einzige, die wir gelten lassen. Man muss eine empirische Hypothese grundsätzlich an der Erfahrung scheitern lassen können. Das heißt, es muss ein Test gemacht werden können. Das kann ein Experiment sein oder eine Beobachtung, und mit deren Hilfe können Hypothesen dann auf ihr Prognosepotenzial hin untersucht werden.

Das hat überhaupt nichts Irrationales. Alle, die das Fach studiert haben, wissen, wovon ich spreche. Uns wird jede Art von Irrationalität bei diesem Prozess ausgetrieben. Ganz egal, was immer wir meinen oder zu hoffen meinen, das Experiment ist der finale Gerichtshof aller naturwissenschaftlicher Aussagen, sozusagen die Guillotine, die fällt. Es kommt eine Hypothese an den Gerichtshof, und dann wird sich zeigen, ob die Experimente das liefern oder nicht. Das heißt: Die Erlangung von Wissen, wie wir das in den Naturwissenschaften machen, ist eine ganz besonders straffe, strenge und in ihrer Deutlichkeit eigentlich auch gar nicht zu übertreffen. Das liegt letzten Endes daran, dass wir uns meistens mit außerordentlich einfachen Systemen beschäftigen. Es mag ja sein, dass es besonders eindrucksvoll ist, dass da drüben in 1,3 Milliarden Lichtjahren zwei schwarze Löcher miteinander fusionieren. Aber im Grunde genommen ist ein schwarzes Loch das Einfachste, was es im Universum gibt. Es ist einfach nur schwer, sonst nichts. Gut, es kann sich noch drehen; das ist aber auch nichts Besonderes. Aber sonst? Schwarze Löcher haben keine Komplexität. Sie reagieren nur auf Gravitation; das ist alles. Alles andere fällt rein.

Das Interessante an dieser Entdeckung ist eigentlich nicht, was entdeckt worden ist, sondern dass es einer Theorie zufolge, die im Jahr 1915 von Albert Einstein veröffentlicht worden ist, ein Medium geben soll, das Raum-Zeit heißt. Und diese Raum-Zeit müsste anfangen zu schwingen und müsste genau die Längenwirkungen oder diese Wirkungsänderungen möglich machen, die wir heute gemessen haben. Also hundert Jahre, nachdem Einstein seine allgemeine Relativitätstheorie aufgeschrieben hat und die entsprechenden Vorhersagen aus dieser Theorie abgeleitet worden sind, ist es uns gelungen, etwas, was mathematisch nur im Hirn ihres Entdeckers steckte, als real nachzuweisen. Es muss diese Raum-Zeit geben; nach allem, was wir wissen, können wir mit der Präzision von einem Tausendstel Protonenradius, ausgelöst durch zwei schwarze Löcher in einem Abstand von 1,3 Milliarden Lichtjahren, sagen, dass diese Schlussfolgerung der allgemeinen Relativitätstheorie mit dieser Genauigkeit gemessen worden ist. Das ist die Art und Weise, wie sozusagen im Kern der Naturwissenschaften Überprüfungen stattfinden.

Nach seiner Veröffentlichung dieser Theorie gab es unglaublich viele Physiker – Physikerinnen gab es ganz wenige zu dem Zeitpunkt; deswegen kann man das hier so klar auf die Männer beziehen –, die überhaupt nichts von dieser Theorie hielten. Die hielten das für eine „Das-kann-doch-nicht-wahr-sein-Theorie“. Das heißt, dass es eine Meinung und eine Haltung dazu gab, und zwar deshalb, weil zunächst nur wenige Messungen dazu existierten. Es gab zwar einige Hinweise, die positiv für die ART (= allgemeine Relativitätstheorie) sprachen, aber es gab auch andere Meinungen, die sich überhaupt nicht vorstellen konnten, dass Raum und Zeit, also die Fundamente unseres Daseins, tatsächlich nach diesen mathematischen Regeln funktionieren sollten. Es gab eine ganz starke Ablehnung; sogar bei der Aufnahme von Einstein in die Preußische Akademie der Wissenschaften hat man ihn für alles Mögliche belobigt, aber diesen Unsinn mit der Relativitätstheorie, das möge man ihm verzeihen! Übrigens hat man auch gesagt: „Ach, er schießt manchmal übers Ziel hinaus! Auch die Sache mit diesem Foto-Effekt, da sei sicherlich nichts dran!“ Zehn Jahre später hat er dafür den Nobel-Preis bekommen.

Es gibt in der Tat in der Interpretation, das heißt: in der Verarbeitung von physikalischen Theorien, Hypothesen und auch den entsprechenden experimentellen Daten durchaus eine Art irrationaler Erwartungshaltung, die sich durch das, was tatsächlich da ist, überhaupt nicht decken bzw. begründen lässt. Das Verfahren, mit dem wir sowohl das Allergrößte wie das Allerkleinste dieser empirischen Methode unterziehen – das haben Sie inzwischen schon festgestellt –, also die Art und Weise, wie wir da vorgehen, lautet: Wir haben Beobachtungen, Messwerte, Beschreibungen usw. Das heißt im Grunde genommen: Das, was wir an Datenmaterial zur Verfügung haben, das unterziehen wir, wenn es gut läuft, einer theoretischen Analyse, und da laufen natürlich Annahmen mit hinein, die immer wieder aufs Neue begründet werden müssen. Es mag auch Vermutungen geben, die aber dann immer stärker und stärker werden, je mehr die Hypothesen sich bestätigen.

Ich werde auf diese Frage des kritischen Rationalismus noch einmal im Laufe des Vortrags zurückkommen, möchte aber jetzt schon einmal sagen: Dadurch, dass wir unsere Position in der empirischen Wissenschaft mit kritischem Rationalismus unterfüttern, versuchen wir, soweit es nur irgendwie geht, jede Art von Irrationalität auszuschließen. Soweit es eben geht.

 

Reine Naturwissenschaft und angewandte Forschung

 

Dieser Vortrag hat bis jetzt praktisch nur von reiner Naturwissenschaft gesprochen. Reine Form heißt Grundlagenforschung. Das ist eine Form von Wissenschaft, die können wir sozusagen weiterlaufen lassen. Die läuft und läuft und läuft und baut uns die Grundlagen der Naturerkennung immer weiter und weiter. Interessant wird es ja, wie diese wissenschaftliche Rationalität auf einmal auf die Rationalität einer Gesellschaft trifft, und zwar in dem Moment, wo Grundlagenforschung nicht mehr Grundlagen erforscht, sondern wo die Grundlagenforschung verwandelt wird in angewandte Forschung – bis hin zu ihrer technischen Variante oder ihrer technischen Ausformung. Wenn diese Forschung in unser Leben dringt, wie reagiert Naturwissenschaft auf diese Art der Auseinandersetzung, wenn sie auf einmal gefragt wird, was das soll und was sie mit unserem Leben macht? Das möchte ich nur einmal am Rande erwähnen, dass wir das nicht aus dem Auge verlieren, nämlich: dass immer wieder bei einer reinen Festtagsrede über Naturwissenschaft, so wie ich sie bis jetzt gehalten habe, vergessen wird, dass naturwissenschaftliche Forschung nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, sondern sehr wohl in einem sozialen Kontext stattfinden muss, welcher die Rationalität auch der Wissenschaft selbst immer wieder zu hinterfragen hat.

Das ist eigentlich genau das, was wir hier machen. Wir hören uns Vorträge an von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und fragen danach, wie die Forschung und die Prozesse dazu verlaufen. Diese Art der Auseinandersetzung mit der Welt ist dann tatsächlich auch eine Auseinandersetzung, die sowohl für Expertinnen und Experten wie auch diejenigen, die einfach sich mit Wissenschaft eher amateurhaft beschäftigen, eine Frage zwischen Wissen und Glauben. Wieviel davon muss ich glauben, wieviel davon muss ich wissen, und ich kann Ihnen versichern, wenn ich Ihnen einen 90-Minuten-Vortrag halte über Kosmologie, dann ist das immer eine Sache des Vertrauens, das Sie in mich hineinstecken; denn Sie werden von diesem Vortrag ein bisschen etwas mitkriegen, Sie werden es vielleicht mit dem verbinden können, was Sie ohnehin schon wissen, Sie werden Informationen verknüpfen mit den Zusammenhängen, die Ihnen schon bekannt sind. Aber wenn es dann um die Sache bzw. die Frage geht, ob denn das, was der da erzählt, auch stimmt – dann müssten Sie entweder mit mir eine vierstündige Vorlesung für die nächsten zwei oder drei Semester durchziehen, oder aber Sie müssen mir vertrauen. Das heißt also, die Frage des Glaubens, wieviel Sie auch von dem, was in der Wissenschaft gemacht wird, tatsächlich glauben müssen – selbst dann, wenn Sie Wissenschaftler sind –, das ist eine hochinteressante Sache, weil man nicht jedem dieser Ergebnisse, die wir aus den Wissenschaften kennen, einfach so nachgehen kann. Heißt: Man kann nicht einfach ganz genau praktisch bis an die Quelle zurückgehen und dann sagen: „Aha, da ist es!“

Ich habe heute Morgen einen Vortrag gehört über die Entstehung des Lebens auf der Erde; da ging es um verschiedene chemische Reaktionen. Da habe ich zwar  gemerkt, dass ich von  Chemie immer noch Grundlegendes verstehe,  aber nur bis zu einem gewissen Grade. Da sind Reaktionen dabei, von denen ich noch nie etwas gehört habe, und dann habe ich gemerkt: Warum traue ich dem jetzt, warum traue ich der Person, die da diesen Vortrag hält? Da ist mir das aufgefallen, und das hängt mit dem Vortrag heute Nachmittag tatsächlich direkt zusammen. Da ist nämlich auf der einen Seite eine rationale Grundlage für das Vertrauen da, vor allen Dingen dann, wenn man jemanden kennt. Dann ist diese Form von Irrationalität sozusagen nochmal rationalisiert: Weil ich jemanden kenne, der bis jetzt mein Vertrauen eben nicht verletzt hat, deswegen vertraue ich ihm auch weiterhin. Das ist übrigens auch die Masche, wie wir im kritischen Rationalismus arbeiten. Keine unserer Theorien kann als wahr gelten. Sie sind nur nicht falsch. Allerdings: Wenn man eine Theorie auf 25 Stellen hinter dem Komma genau bestätigt findet, dann wird es schon sehr schwierig, davon zu reden, dass sie falsch ist. Oder umgekehrt: Wenn sie falsch ist, ist sie verdammt gut falsch.

Wir müssen uns also damit auseinandersetzen, dass wir uns als Persönlichkeiten oder Individuen natürlich anders mit der Welt auseinandersetzen, als die Wissenschaften das tun. Die Wissenschaften „verobjektivieren“, soweit es nur irgendwie geht, und Objekte haben keine Rationalität. Die Rationalität, von der wir hier reden, genauso wie die Irrationalität, gehört immer zu den Subjekten; das heißt, es gehört zu der Subjektivität des einzelnen dazu, sich rational oder irrational zu verhalten, rationale oder irrationale Erwartungshorizonte zu formulieren und immer wieder die Frage zu stellen, was das, was die da in den Wissenschaften machen, eigentlich mit mir zu tun hat. Das ist eine vernünftige Frage, vor allen Dingen im Hinblick darauf, dass die Gesellschaft die naturwissenschaftliche Forschung weitestgehend finanziert. Die Gesellschaft darf sehr wohl fragen: Was liefern die mir, womit ich etwas anfangen kann? Das ist rational.

 

Auf der Suche nach ewigen Wahrheiten

 

Auf der anderen Seite entsteht aber schon alleine dadurch, dass es eben auf der einen Seite das Individuum gibt und auf der anderen Seite diese wissenschaftliche Welt, bereits etwas, was uns zumindest in der Physik vor große Probleme stellt. Was wir uns in der Physik vorstellen, sind Ergebnisse von Experimenten, die reproduziert werden können und geschichtslos sind. Was wir wollen, und das werde ich gleich noch viel deutlicher ausführen, ist, Gesetze zu entdecken,  die ewig gültig sind. Das ist das, was uns interessiert. Nicht das, was sich verändert, sondern das, was möglichst unveränderlich ist. Damit vollziehen wir im Grunde genommen das alte Programm der griechischen Naturphilosophen vor 2.500 Jahren, nur mit viel mehr Geld heutzutage. Also nochmal: Geschichtslose, reproduzierbare Ergebnisse, die unabhängig von Subjekten sind, die unabhängig von Traditionen sind, von der Sozialisierung derjenigen, die die Experimente machen – das ist das, wonach wir suchen in den Wissenschaften von der Natur.

Wie tun wir das? Ich habe es hier schon einmal angedeutet. Berechenbare Naturgesetze sind es, die uns interessieren. Da komme ich eben dann tatsächlich dahin, dass wir natürlich als Menschen etwas ganz anderes verfolgen: Wir werten, gewichten, deuten, wir hoffen, wir sind auf der Suche nach Kausalketten im Zusammenhang mit der auf uns zurollenden Tsunami-Welle der Digitalisierung. Es ist eine hochinteressante Frage, was da eigentlich in Zukunft noch übrig bleiben wird von Kausalität, wenn uns die Computer oder Deep-Learning-Programme nur noch Korrelationen liefern und schon gar keine Erklärungen mehr für die Problemlösungsverfahren, die sie entwickeln. Das, was uns natürlich umtreibt, sind nicht Messwerte, sondern Werte, nach denen wir leben wollen. Das heißt: Die Frage nach der Irrationalität in den Naturwissenschaften ist auch immer eine Frage danach, wie eigentlich diese Rationalität funktioniert, von der zumindest diejenigen, die sich damit beschäftigen, glauben, dass sie ziemlich rational ist. Wie funktioniert also diese rationale Form der Weltauseinandersetzung tatsächlich? Und ist sie wirklich so rational? Oder ist da doch etwas Irrationales dabei?

Die Methode der Physik ist eine quantitative Lehre der Naturphänomene. Wir sind darauf aus, den Aufbau der Welt aus Grundbausteinen abzuleiten; da sind wir ziemlich gut. Der Wohlstand dieses Landes basiert alleine und ausschließlich auf der technischen Anwendung grundlegender Naturgesetze. Wenn wir nicht verstanden hätten, dass die Welt aus Atomen besteht, dass diese Atome sich zu Molekülen zusammenbauen können, hätten wir keinerlei Materialwissenschaft, wir hätten keinerlei Pharmazeutik, wir hätten keine chemische Industrie, keine elektrische Energie und dergleichen. Alles das, was heutzutage moderne Technik ausmacht, basiert auf der Inventur der materiellen Bausteine der Natur. Die Physik ist der Kern der Naturwissenschaften, und die Naturwissenschaften sind der Kern der Technologie, die uns umgibt.

Es gibt heutzutage keine technische Entwicklung mehr, die einfach nur so daher kommt, dass irgendjemand etwas ausprobiert, so nach dem Motto: „Ich schütte einmal etwas zusammen.“ Die Zeiten von irgendwelchem divergenten Ausprobieren – wir schauen mal, was da ist – sind längst dahin. Wenn heutzutage eine Firma ein bestimmtes Material haben will, dann geschieht das nicht im Zauberlabor, sondern es wird genauestens geprüft, welche Eigenschaften das Material haben soll und wie man es herstellen könnte. Das heißt, dass wir hier wirklich nicht über eine Petitesse reden. Das hier ist tatsächlich die Wissenschaft, die uns die Möglichkeit gibt, all das zu tun, was wir heutzutage in dieser Welt unter modernem Leben verstehen.

Die Wechselwirkung dieser Grundbausteine, die wir kennen gelernt haben, die führt uns nun zu Naturgesetzlichkeiten, von denen wir der Meinung sind, dass sie die Vorgänge, die wir im Experiment behandeln bzw. untersuchen sowie auch beobachten und dann wiederfinden, hinreichend gut beschreiben. Das führte zu einer Reduktion von komplizierten Phänomenen auf möglichst wenige fundamentale Naturgesetze. Wir haben also einen Satz von Naturgesetzen – und das bedeutet, dass wir keine Freiheit haben uns zu Spekulationen hinreißen zu lassen, dass das doch auch irgendwie ganz anders sein könnte; sondern die Naturgesetze, die wir kennen, wurden bereits überprüft.

Und wir bestätigen diese Theorien in unserem Alltag. Hier ein Beispiel: Jedes Mal, wenn jemand einen Transformator in die Steckdose steckt, jedes Mal, wenn ein elektrischer Strom ein Magnetfeld induziert, wird die spezielle Relativitätstheorie bestätigt. Die erste Arbeit, die Einstein zu dem Thema schrieb, hieß „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“. Die hieß nicht „spezielle Relativitätstheorie“. Es ging ihm um den einfachen Sachverhalt, was genau der Unterschied ist zwischen einer ruhenden elektrischen Ladung, die nur ein elektrisches Feld besitzt, und einer bewegten Ladung, also einem Strom, der noch ein weiteres Feld besitzt, nämlich das Magnetfeld. Wo kommt das Magnetfeld her? Einstein konnte zeigen, dass sich dieser Vorgang nicht verstehen lässt ohne seine spezielle Relativitätstheorie.  Und wissen Sie, was die spezielle Relativitätstheorie behauptet? Dass die Lichtgeschwindigkeit eine vom Bezugssystem unabhängige Größe ist. Sie ist überall im Universum gleich, und sie ändert sich auch nicht dadurch, dass die Quelle sich bewegt. Es kommt eben nicht noch die Quellgeschwindigkeit dazu, so wie wir das von Schallquellen kennen. Eine Herausforderung fürs Hirn: „Das kann doch nicht wahr sein! Gibt es doch überhaupt nicht!“ Das habe ich schon oft gehört.

Erstaunlich auch, dass wir in unserem Alltag, auch wenn Sie Ihr Smartphone anwerfen, dass diese digitalen Hochleistungsrechner, Schaltungen von einer solchen Feinheit enthalten, dass sie inzwischen an einem Punkt angekommen sind, wo sie nicht noch enger werden dürfen, denn dann würden quantenmechanische Effekte die Schaltungen beeinflussen. Dort geht es um Milliardstel-, ja sogar Billionstel-Sekunden. Alles das nur, weil wir verstanden haben, wie wir mit einfachen Gesetzmäßigkeiten Materie quantitativ richtig beschreiben und mit diesen quantitativen Beschreibungen technisch umgesetzte Extrapolationen vollziehen können. Das heißt, wir können deshalb sogar  Vorhersagen machen über Materialien, die wir noch gar nicht kennen, aber sicher sind, dass sich aus dem, was wir bis jetzt erkannt haben, etwas machen lässt. Das ist überhaupt nicht irrational! Ganz im Gegenteil: Je stärker der Erfolg dieser Wissenschaft wird, umso begründeter ist die Rationalität hinter der Methodik. Sogar bei den effektiven makroskopischen Gesetzen sind wir inzwischen schon so weit.

 

Das Beispiel Klimawandel

 

Bei den effektiven makroskopischen Gesetzen geht es zum Beispiel um ein Thema, das zumindest in Teilen der deutschen Gesellschaft bis vor wenigen Wochen, glaube ich, noch ziemlich kontrovers diskutiert worden ist: der Klimawandel. Da gibt es doch tatsächlich Menschen, die behaupten, es gäbe ihn gar nicht – und wenn es ihn doch gibt, hätten wir nichts damit zu tun. Die Zweifel, die da angebracht wären, werden von Leuten erhoben, die selber keine Klimaforschung machen, die sich aus sehr interessanten Gründen nicht vorstellen können, dass sie, ihre Generation und die Generationen zuvor daran beteiligt gewesen sein könnten, dass der Planet in dem Zustand ist, in dem er jetzt ist. „Können wir uns nicht vorstellen! Geht einfach nicht! Das bisschen Kohlendioxid  in der Atmosphäre, ich bitte Sie! Parts per million, pff!“ Was man sich da alles anhören muss! Wenn man dann sagt: „Aber hören Sie mal, wir können doch messen, dass Kohlendioxid Infrarotstrahlen absorbiert…“ Dann heißt es: „Ja klar, aber doch das bisschen nicht…“ Dann rechnet man es vor. „Ja, das sind ja nur Rechnungen!“ Dann macht man ein Experiment. „Ja, das ist ja nur hier im Labor so!“ Als Wissenschaftler könnte man angesichts solcher Dispute manchmal schon verzweifeln.

Es gibt eine Klimaskeptiker-Hypothese, dass das Klima auf der Erde sehr stark von den Leuchtkraftschwankungen der Sonne bestimmt wird, das ist die Theorie von der kalten Sonne. Diese Theorie sagt voraus,  da die Leuchtkraftschwankungen der Sonne seit einiger Zeit immer schwächer werden, dass die mittlere Temperatur auf der Erde sinken müsse. Tut sie aber nicht. Ganz unabhängig davon, was man nun von solchen Theorien hält – ohne irgendjemandem etwas zu unterstellen –, aber eine Theorie, die eine sinkende Temperatur vorhersagt obwohl die Temperatur nachgewiesenermaßen steigt, ist nicht nützlich. Mit anderen Worten, die Leuchtkraftschwankungen der Sonne sind nicht so einflussreich, wie es diese Theorie von der kalten Sonne annimmt. Trotzdem wird diese Hypothese immer und immer wieder bei Diskussionen zum Klimawandel ins Feld geführt. Das finde ich bemerkenswert, wie unsere Gesellschaft in Teilen völlig irrational auf solche Messergebnisse reagiert. Innerhalb der Forschung ist es dagegen völlig unumstritten. Ohne den Treibhauseffekt in seiner natürlichen Form würde unsere Erde vereisen. Aber der anthropogen angetriebene zusätzliche Effekt, den wir seit rund 200 Jahren durch die Erhöhung der Treibhausgase verursacht haben, wird einfach von diversen Kreisen nicht anerkannt, obwohl wir die effektiven makroskopischen Gesetze dafür kennen, und zwar ziemlich genau.

Der Kern naturwissenschaftlicher Forschung hat mit all den Hoffnungen, Visionen und Träumen derjenigen, die diese Daten innerhalb einer Gesellschaft interpretieren, überhaupt nichts zu tun. Das sind einfach nur Daten; das sind einfach nur Diagramme, in denen Sie sehen können, wie die mittlere Temperatur steigt, wie die Eisflächen schmelzen usw.

 

Die Newtonsche Mechanik lügt nicht

 

Die Sprache, und das ist vielleicht das Allerschlimmste, die Sprache dieser Wissenschaft ist nicht die Sprache, die wir normalerweise verwenden, die wir sprechen und schreiben, sondern die Sprache der wissenschaftlichen Ergebnisse in den Naturwissenschaften ist fast immer mathematisch. Hier scheint die Irrationalität wirklich völlig draußen zu bleiben, weil die Naturgesetze Differentialgleichungen darstellen. Diese besondere Form der mathematischen Beschreibung von Zeitabläufen unter dem Einfluss verschiedener Kräfte, hat es bereits vor 300 Jahren möglich gemacht hat, den Himmel zum Beispiel auf die Erde zu holen. Die Newtonsche Mechanik ist die Physik, die hinter der Himmelsmechanik steckt. Das sind die ersten großen Triumphe der Physik, die Abläufe am Himmel so genau vorherzusagen. Warum? Weil man die Gesetze kennt, mit denen die Objekte sich dort oben verhalten, nach denen die sich verhalten müssen. Das war zumindest die Hypothese.

Der Ausgangspunkt von Newtons Überlegungen war übrigens ein völlig irrationaler, würden wir heute sagen. Newton war Esoteriker, würden wir heute sagen, ein Alchemist. Ein großer Teil seiner Schriften hat überhaupt nichts mit Physik zu tun, auch nichts mit Mathematik, sondern auf merkwürdige Art und Weise wird da über einen Schöpfungshintergrund gesprochen, für den er überhaupt keinen wissenschaftlichen Hintergrund hatte. Aber an einer Stelle fängt er an und überlegt, dass es hier doch ein Gesetz geben müsse, das uns in die Lage versetzt, alles zu berechnen: warum der Mond nicht auf die Erde fällt, warum der Apfel vom Baum herunterfällt usw. Die erste große Vereinigungstheorie ist die von Newton, und sie liefert sofort Gesetze oder Ergebnisse – die sind bereit eindrucksvoll präzise in ihren Vorhersagen. Dank Newton und seinen Berechnungen können wir genau vorhersagen, wie sich die Planeten verhalten, wie die Monde um die Planeten kreisen, wann sich Sonne und Mond verfinstern.

Damit bricht ein kompletter mathematisch genau berechenbarer Determinismus über uns herein, weil die Vorgänge am Himmel so unglaublich gut berechenbar sind. Daraus schöpft sich die Vorstellung, wir könnten die gesamte Natur berechnen. Hätten wir mit Hydrodynamik angefangen, wäre die Physik relativ schnell zu Ende gewesen… Wenn Sie schon einmal an einem Fluss gestanden haben und gesehen haben, wie unglaublich kompliziert, um nicht zu sagen, komplex eine Strömung ist – an den Rändern, an den Hindernissen, wie sich Wirbel bilden usw.: die Differentialgleichungen sind leider nicht so einfach wie die der Newtonschen Mechanik. Im Gegenteil: die sind nicht-linear und verweisen auf Rückkopplungs-Phänomene. Da koppelt eine Wirkung auf ihre Ursache zurück! Sie wissen ja den Unterschied zwischen kompliziert und komplex: Kompliziert ist das Einbahnstraßensystem von Florenz. Wenn Sie da einmal ein paar Tage gewohnt haben, dann wissen Sie, wie Sie da fahren müssen. Komplex würde dieses Einbahnstraßensystem, wenn die erlaubte Fahrtrichtung von der Verkehrsdichte abhängig wäre. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten keine Möglichkeit mehr, zu prognostizieren, ob sie durch diese Straße durchkommen oder nicht. Sie müssten Menschen finden, die mit ihnen durch diese Straße fahren wollen. Sie müssten sich organisieren. Selbstorganisation gehört zur Komplexität, und sie wird von Newtonschen Mechanik nicht beschrieben.

Und noch etwas gehört zu komplexen Systemen, die große Empfindlichkeit gegenüber Anfangs- und Randbedingungen. Sie steckt in der Newtonschen Mechanik zunächst einmal nicht drin – zumindest bis man herausgefunden hat, was man Chaos nennt. Damit ist der reine Determinismus gestorben Es ist nicht möglich, das ohne weiteres alles zu berechnen, weil nämlich in komplexen Systemen die verursachte Wirkung auf die Ursache so zurückwirkt, dass die Ursache entweder verschwinden kann oder sich völlig verwandeln kann.

Zeit ist physikalisch nichts anderes als genau das: eine Riesenansammlung von Wirkungen, die auf Ursachen zurückwirken, Ursachen, die auf Wirkungen wirken, und die das Ganze nochmal in viel größeren Kreisläufen ablaufen lassen.

 

Relativitätstheorie und Quantenmechanik

 

Es gibt die Einstein’sche Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Auch hier muss man sagen: Natürlich, es gibt diese etwas dubiosen Sätze wie: „Wer behauptet, die Quantenmechanik verstanden zu haben, hat sie nicht verstanden.“ Also, da ist das Einfallstor für Irrationalität die Quantenmechanik, Geisterteilchen usw. Man sollte aber zur Kenntnis nehmen, dass die Quantenmechanik einen Satz von mathematischen Regeln darstellt, die phantastisch gut funktionieren. Und ihr Smartphone zeigt ihnen wie gut die Quantenmechanik funktioniert. Das ist die Art von Technologie, die dabei herauskommt, wenn man mit Quantenmechanik arbeitet.

Ein anderes Beispiel: „Light amplification by stimulated emission of radiation“–Laser. Alle, die schon einmal unter einem Laser lagen und sich ihr Augenlicht haben operieren lassen, die haben es gespürt bzw. haben hoffentlich nichts gespürt dabei: die Präzision, mit der heutzutage gearbeitet werden kann. Ein Kernspintomograph, nukleare Resonanz, Positronen-Emissions-Tomographie, Röntgenbilder, alles das: Quantenmechanik, teilweise sogar Quantenfeldtheorie, Quantenelektrodynamik. Wir müssen bis an den Rand der erkennbaren Theorien gehen, um zu verstehen, welche medizinischen Bildgebungsverfahren wir heutzutage im medizinischen Alltag verwenden! Die Genauigkeit, mit der die Quantenmechanik überprüft worden ist, ist im Bereich von diesen bereits von mir angesprochenen 1 zu 1020. Also, wir sind wirklich bei einer enormen Reichweite. Wir können zum Beispiel auf 20 oder 22 Größenordnungen genau die Reaktion eines Atoms mit Licht berechnen und messen.

Was uns umtreibt, ist immer wieder das Einfallstor für die Irrationalität. Die gibt es höchstens bei der Frage, nach welchen Kriterien ich eine Theorie entwickle. Sabine Hossenfelder hat mit ihrem Buch „Das hässliche Universum“ diese Art der scheinbaren Rationalität bzw. die Art und Weise, wie Theorien in der Physik entwickelt werden, stark kritisiert. Es werden nämlich Begriffe wie Natürlichkeit, Einfachheit und Eleganz verwendet, die sich so ohne weiteres gar nicht formulieren lassen, auf jeden Fall sind sie nicht messbar. Das ist ein Eindruck, der da auf die Theorien angesetzt wird, und der uns in einer gewissen Weise bis heute an manchen Stellen offenbar erfolgreich geführt hat. Aber so, wie es momentan aussieht, scheint er bei den anderen Theorien, die wir momentan verfolgen, nicht zu greifen.

 

Inspiration in der Physik?

 

In der historischen Betrachtung der Physik findet man tatsächlich immer wieder Anekdoten, dass irgendjemand von irrationalen Erkenntnisquellen heraus inspiriert gewesen sein soll: Michael Faraday zum Beispiel, bei seiner Vorstellung von einem Magnetfeld; oder James Clerk Maxwell bei der Vorstellung, wie elektrisches Feld und Magnetfeld zusammenhängen. Aber da tauchten doch immer wieder erhebliche Diskrepanzen auf, die dann irgendwie anders geklärt werden mussten. Michael Faraday war ein grandioser Experimentalphysiker, James Clerk Maxwell war ein hervorragender Theoretiker, und beide hatten ihre eigenen Vorstellungen. Warum mussten die Forscher damals so viel voraussetzen? Es ist ganz einfach: Zu ihrer Zeit war die Physik einfach noch ein ziemlich junges Gebilde, wo es relativ wenig gesichertes Wissen gab. Die Forscher des 19. Jahrhunderts hatten auf wenig Rücksicht zu nehmen. Das änderte sich schlagartig. Heute sind Theorien längst etabliert, man denke nur an die beiden Relativitätstheorien und die Quantenfeldtheorien.

Wir bauen Teilchenbeschleuniger für mehrere Milliarden, um das sogenannte Higgs-Teilchen zu finden, dessen unmittelbare Relevanz für unseren Alltag sich wahrscheinlich auch in einigen tausend Jahren noch nicht ergeben wird. Peter Higgs entwickelte 1964 seine Theorie samt einer Vorhersage, wie Elementarteilchen ihre Ruhemasse erhalten. Daraufhin wurde ein 27 Kilometer großer Beschleuniger gebaut, in dem man Protonen mit extremer Präzision aufeinander schießt. Die Genauigkeit entspricht folgender Situation: Eine Nähnadel, in New York losgeschossen mit Lichtgeschwindigkeit, trifft eine Nähnadel, in Lissabon losgeschossen mit Lichtgeschwindigkeit, mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit über dem Atlantik.

Das ist die Präzision, mit der wir Theorien überprüfen, die in ihrer ursprünglichen Variante zunächst einmal nur mathematische Gebilde darstellen und dann in erweiterter Form in Vorhersagen für Experimente und Beobachtungen weiterentwickelt werden. Da könnte man eine Art von Irrationalität vermuten; aber ich kann Ihnen berichten: Wenn Sie einmal diesen Beschleuniger in der Schweiz gesehen haben, da ist nichts Irrationales, sondern Beton und Technik, hochkomplizierte und komplexe Technik, um den Beschleuniger betreiben zu können. Die emotionale und damit eventuell als irrational anzusehende Seite der Physik, die Freude, dass ein so großes Experiment überhaupt erfolgreich war, tauchte am 4. Juli 2012 auf. Um 10 Uhr morgens wurde annonciert, dass das Higgs-Teilchen entdeckt wurde, und die Freude im Forschungszentrum CERN in Genf bei diesem Large Hadron Collider (LHC) war übermäßig. Die Leute sind herumgesprungen, haben sich gegenseitig in den Armen gelegen: „Wir haben es geschafft!“ So ein bisschen diese Apollo-11-Geschichte: Wir sind tatsächlich gelandet.“ In solchen Momenten tauchen die Menschen hinter den technischen Geräten auf. In solchen Momenten wird offensichtlich, dass es eben ohne diese Freude, ohne dieses Vergnügen, ohne diese Lust an dem Ganzen auch gar nicht geht.

Es gibt eine Anekdote – ich weiß nicht, ob sie stimmt –, dass jemand, der am LHC gearbeitet hat, an Skorbut erkrankt ist. Der Forscher scheint sich, vor lauter Gier nach Daten, so schlecht ernährt zu haben, dass er eine Krankheit bekommen hat, die man nur von sehr schlecht genährten Seeleuten des 18. Jahrhunderts kennt.  Nun, das ist eine Art von Fokussierung aufs Ganze, die schon ein bisschen übertrieben ist.

Ich muss gerade darüber nachdenken – weil ich den Vortrag auch damit begonnen habe –, wie es denn wäre, wenn wir ein Casting machen würden, welche Personen Physik studieren werden. Bei wem würden wir sagen: „Die wird bestimmt Physik studieren!“ oder: „Das wird ein Künstler!“ oder umgekehrt usw. Wenn ich mir meine Studenten so anschaue an der Universitätssternwarte – und die sind kurz davor, ihre Doktorarbeiten oder Masterarbeiten zu schreiben –, dann herrscht ein hohes Maß an Irrationalität im Haus. Die sind völlig fertig! Das kann schon passieren, dass Irrationalität auftritt; aber sie tritt dann nicht in der Methodik auf, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie Menschen mit diesem enorm potenten Verfahren Wissenschaft und Forschung umgehen. Soll heißen: Was bedeutet es für sie, wenn Daten nicht so sind, wie erwartet oder wenn man auch völlig überrascht wird von dem entsprechenden Ergebnis.

Interpretationsräume in den Naturwissenschaften sind sehr klein, da bleibt nicht viel Platz für Spekulation, sei sie auch noch so kreativ. Es gibt mathematische Variationsmöglichkeiten, die  formal auch eine wichtige Rolle spielen, wenn es zum Beispiel um die Fehlergrenzen geht: Wie groß sind die Fehler, sind sie systematisch? Können wir Fehlerquellen ausschalten oder wenigstens verkleinern? Liegen wir auf der Linie, die uns das Experiment vorhersagt? Aber in Physik und verwandten Fächern, haben wir keine Möglichkeiten, ein physikalisches Ergebnis historisch oder sozial Form zu interpretieren. In der Physik gibt es nur alles oder nichts. Es gibt kaum irgendeine Frage, bei der wir großartige Interpretationsmöglichkeiten haben, und deswegen ist die Chance, sozusagen sich irrational zu verhalten, relativ überschaubar.

 

Resumée

 

Das Ziel naturwissenschaftlicher Forschung ist das Finden und Überprüfen von Gesetzen. Ein beobachtetes Phänomen verlangt nach Erklärung, nach quantitativer Erklärung in gemessenen und mathematischen Begriffen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat es einmal so formuliert: „Im mathematischen Naturgesetz verstehen wir genau das, was überhaupt an ihr verstanden werden kann (also an der Natur). Die Natur ist nicht subjektiv geistig, sie denkt nicht mathematisch, aber sie ist objektiv geistig, und sie kann mathematisch gedacht werden.“ Und laut von Weizsäcker ist das Tiefste, was wir über die Natur überhaupt wissen können, tatsächlich das mathematische Naturgesetz.

Diese Auseinandersetzung zwischen Hypothese und Experiment, das ist die Auseinandersetzung, in der Irrationalität, wenn sie Eingang findet, nur einen außerordentlich geringen Anteil hat. Denn entweder das Experiment bestätigt die Theorie und das Modell, und zwar angeleitet durch die Theorie selber – Sie führen ein Experiment nicht irgendwie durch, zufällig.

Es gibt auch eine Form von Glück in den Naturwissenschaften; vielleicht eine irrationale Komponente, um die wir doch nicht herumkommen.

Hierzu drei Beispiele aus der Astronomie. Die erste Geschichte handelt von zwei amerikanischen Radioingenieuren, die 1963 für die Suche nach Störsignalen am Himmel eine große Hornantenne bauten. Und wohin sie auch immer ihre Antenne ausrichteten, brummte ihr Empfänger, nahm also ein Signal auf und zwar überall gleichmäßig unabhängig von der Richtung. Sie haben alle möglichen Strahlungsquellen ausprobiert und sind dann durch die USA gereist und haben ihre Ergebnisse in Forschungskolloquien an Universitäten präsentiert. Ihre Strahlung schien überall zu sein, das war für die beiden ein großes Rätsel. Ein Kosmologe hat ihnen dann gesagt, dass sie hier entweder Taubenexkremente oder den Nachklang des Urknalls gemessen haben. Wie sich herausstellte waren es nicht die Tauben, es war der Überrest vom heißen Anfang des Kosmos, es war die kosmische Hintergrundstrahlung, eine Vorhersage des sogenannten Urknall-Modells. Dafür haben sie 1972 den Nobelpreis für Physik bekommen.

Die andere Geschichte handelt von Jocelyn Bell, die im Jahr 1967 in Cambridge mit ihrem kleinen Radioteleskop, durch Zufall auf eine pulsierende Radioquelle gestoßen war, die mit einer unglaublichen Präzision alle 1,337 Sekunden pulsierte. Zunächst schlug ihr großes Unverständnis entgegen, niemand hatte eine natürliche Erklärung. Ihre Kommilitonen tapezierten den Seminarraum bei ihrem ersten Vortrag über die ersten zwei dieser pulsierenden Radioquellen mit „Little green man 1 and 2“. Jocelyn Bell hat nicht den Nobelpreis bekommen – ihr Doktorvater aber schon. Sie hatte durch Zufall eine der Endformen von Materie in unserem Universum entdeckt, sogenannte Neutronensterne, die rotieren und Pulse abgeben. Deswegen nennt man sie Pulsar.

In der Astronomie haben wir also mit den Selektionsverfahren, die wir für bestimmte Teile des elektromagnetischen Spektrums zur Verfügung haben – wenn wir zum Beispiel mit Radioteleskopen schauen oder mit einem optischen Teleskop – scheinbar immer noch Fenster zur Verfügung, wo man einfach nur mal schauen kann und dann Glück haben kann. Aber auch da ist die Irrationalität sozusagen nichts anderes als eine noch nicht gefundene Rationalität. Es ist doch toll, wenn man etwas findet womit man überhaupt nicht gerechnet hat!“

Zum guten Abschluss noch eine ganz wunderbare Geschichte von einem Zigaretten rauchenden Astronomen aus Kanada, Ian Shelton. Der hatte die ganze Nacht über in Chile einen Teil der Magellanschen Wolke beobachtet, einer Begleiter-Galaxie der Milchstraße, und ging dann hinaus und stellte sich an den Teleskop-Dom, also an das Gebäude, wo das Teleskop drin ist und zündete sich eine Zigarette an: „Das gibt es doch nicht; ist das ein Flugzeug?“ Das ist kein Flugzeug. Er rannte zum Teleskop zurück, er hat eine Supernova entdeckt, und zwar im Moment des Anstiegs – der Moment, der normalerweise unentdeckt bleibt! Er hatte das unglaubliche Dusel, dass er in genau diesem Moment auf die Magellansche Wolke schaute. Eine Welle, die vor 150.000 Jahren auf die Erde losgeflogen ist, die hat er als erster mit seinen Augen erwischt. Ein sehr helles Objekt; normalerweise wäre das ein Flugzeug. Aber wieso soll man in den Anden landen? Es war also kein Flugzeug. Dann ist er hin, hat das Teleskop auf die Anfangsphase dieser Supernova gerichtet und hat bei sämtlichen Observatorien und Forschungseinrichtungen, auch solchen, die einen Beobachtungssatelliten im All betrieben, angerufen. So ist es uns zum ersten Mal gelungen, eine Supernova-Explosion praktisch vom Moment der Explosion an bis heute zu verfolgen. Ein Ereignis, das vor Ian Shelton nur Kepler hatte, im Jahr 1605. Somit: Glück gehabt. Davor war es Tycho Brache, 1572. Es ist also ganz, ganz selten, dass wir das mal mit bloßem Auge sehen können. Das sind eben die Momente, in denen wahrscheinlich dann doch die Irrationalität zuschlägt und man einfach nur großes Glück hat. Das ist der einzige Begriff, der mir im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften an Irrationalität einfällt. Das ist dieses unglaubliche Glück, im richtigen Moment an der richtigen Stelle zu sein und entweder das Richtige zu finden oder die richtige Idee zu haben. Alles andere, meine Damen und Herren, ist doch eher trocken und nüchtern.

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