Kolev-Schaefer sieht die auf nationaler und europäischer Ebene verabschiedete Regulierung der Lieferketten kritisch, da sie aus ihrer Sicht adverse Effekte durch die europäische Lieferkettenregelung nach sich ziehen: Es stehe zu erwarten, dass sich europäische Unternehmer aus Schwellenländern zurückziehen würden, so dass der erwünschte Lenkungseffekt ausbleibe und das dort geschaffene Schutzniveau entgegen der Intention der Regulierung sinke. Stattdessen könnten vor allem chinesische Unternehmen auf die dortigen Märkte drängen. Unabhängig davon sei die Lieferketten-Compliance mit hohen Kosten für EU-Unternehmen verbunden, was ihre Wettbewerbsfähigkeit schmälere. Zulieferer, oftmals kleinere und mittlere Unternehmen (KMU), seien überfordert mit den notwendigen vertraglichen Zusicherungen, die ihnen von den Importeuren abverlangt würden.
I.
Die durch die deutsche Lieferkettenregulierung hervorgerufenen (direkten und indirekten) Kosten lassen sich nicht von der Hand weisen. Sie können nur dann gerechtfertigt werden, wenn sie der Erreichung wichtiger, übergeordneter Ziele dienen. Das sind hier die Implementierung von Menschenrechts- und Umweltstandards entlang der gesamten Lieferkette. Faktisch nimmt der Staat damit bestimmte Unternehmen in die Pflicht zur Erreichung von Zielen, die in erster Linie hoheitliche Aufgaben darstellen: Die völkerrechtlichen Verpflichtungen etwa aus den UN Guiding Principles on Business and Human Rights (2011), den UN Sustainable Development Goals (2015) oder dem Pariser Klimaabkommen (2015) betreffen die Staaten, nicht private Unternehmen. Eine Indienstnahme der Zivilgesellschaft zu diesem Zweck, wie es u. a. das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) vorsieht, ist jedoch selbstverständlich möglich – strukturell lässt sich das etwa vergleichen mit der Überwälzung der winterlichen Räum- und Streupflichten für öffentliche Wege von den Städten und Gemeinden auf die jeweiligen Anwohner.
Bei dieser Lieferkettenregulierung liegt eine Variante der Rechtsdurchsetzung durch Private vor, das vielfach als Private Enforcement bezeichnet wird: Es werden Anreize und Strukturen geschaffen, bestimmte Rechtsverstöße auf der Ebene des Privatrechts zu sanktionieren und entsprechende Ansprüche durchzusetzen. Dies geschieht spätestens nach der Umsetzung der europäischen Richtlinie Nr. 2024/1760 vom 13.6.2024 über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit (sog. CS3D-Richtlinie) über die dort ausdrücklich normierte zivilrechtliche Haftung von Unternehmen für Schäden, die durch die Verletzung der in der Richtlinie statuierten unternehmerischen Sorgfaltspflichten entlang der Lieferkette verursacht werden. Diese Richtlinie ist bis Juli 2026 in mitgliedstaatliches Recht umzusetzen; die entsprechenden Regelungen treten dann schrittweise zwischen 2027 und 2029 in Kraft.
Diese Haftung ist eine der wesentlichen Veränderungen, die durch die CS3D-Richtlinie im Vergleich zu der in Deutschland derzeit geltenden Rechtslage bewirkt werden. Denn nach dem seit 2023 geltenden LkSG wird eine zivilrechtliche Haftung der betroffenen Unternehmen für eine Verletzung der ihnen mit diesem Gesetz auferlegten Pflichten explizit ausgeschlossen (§ 3 Abs. 3 LkSG); wohl aber können allerdings Bußgelder verhängt werden (§ 24 LkSG). Wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, sollten mit dem LkSG keine über den bisherigen Stand hinausgehenden zivilrechtlichen Haftungsrisiken für Unternehmen geschaffen werden. Vielmehr sei es Aufgabe des Verwaltungsverfahrens und des Ordnungswidrigkeitenrechts, die zum Zwecke einer Verbesserung der Menschenrechtslage in internationalen Lieferketten begründeten neuen Sorgfaltspflichten durchzusetzen (Bundestags-Drucksache
Nr. 19/30505, S. 39).
In der rechtswissenschaftlichen Literatur hat sich eine intensive Debatte darüber entzündet, ob das allgemeine Zivilrecht auch jenseits der „Sperrklausel“ des § 3 Abs. 3 Satz 1 LkSG eine Haftung erlaubt. Denn die außerhalb des LkSG geltenden Sorgfaltspflichten und Haftungsregeln sollen von der Regelung des LkSG explizit unberührt bleiben (§ 3 Abs. 3 Satz 2 LkSG). Doch sind diese Gedanken spätestens nach der Umsetzung der Vorgaben der CS3D-Richtlinie in das jeweilige nationale Recht obsolet. Diese werden das Haftungsregime überaus weitreichend ausgestalten: Der durch die Verletzung einer durch die Richtlinie statuierten Sorgfalts- und Verhaltenspflicht herbeigeführte Schaden (etwa Tod, körperliche oder seelische Verletzung, Entzug der persönlichen Freiheit, Verlust der Menschenwürde oder Beschädigung des Eigentums einer Person) ist entlang der Lieferkette zu ersetzen (Art. 29 Abs. 1 CS3D-RL). Eine strengere Haftung im Zusammenhang mit negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte oder die Umwelt, die nach mitgliedstaatlichem Recht bestehen mag, bleibt von der Richtlinie unberührt (Art. 29 Abs. 6 CS3D-RL). Damit nicht genug: Die Richtlinie bringt eine Reihe weiterer Elemente, die der effizienten Durchsetzung der Haftung dienen:
Zunächst sind die entsprechenden zivilrechtlichen Haftungsregeln im Rahmen der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten insgesamt mit einem international zwingenden Anwendungsbereich auszugestalten, man spricht von sogenannten Eingriffsnormen. Dies ist vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass nach den allgemein geltenden Regeln bei Sachverhalten, die mehrere Rechtsordnungen berühren, insbesondere also auch bei grenzüberschreitenden Lieferketten, hinsichtlich der hier in Rede stehenden außervertraglichen Haftung typischerweise das Recht desjenigen Staates gilt, wo der relevante Schaden – präziser: die Rechtsgutsverletzung – eingetreten ist (vgl. Art. 4 Abs. 1 der sog. Rom II-Verordnung). Bei Unglücksfällen wie dem Gebäudeeinsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik in Bangladesch (2013) oder dem Brand der Produktionshalle von Ali Enterprises in Pakistan (2012), wo jeweils viele hundert Personen verletzt wurden oder zu Tode kamen, käme danach hinsichtlich möglicher Ersatzansprüche von Opfern oder Hinterbliebener das Recht von Bangladesch bzw. Pakistan zur Anwendung.
Die CS3D-Richtlinie stellt demgegenüber zukünftig den internationalen Geltungswillen des Haftungsregimes der Richtlinie auch dann sicher, wenn über die Anwendung der einschlägigen Kollisionsnormen das Recht eines Drittstaates berufen wird, wie dies in den eben genannten Beispielen der Fall ist (Art. 29 Abs. 7 CS3D-RL). Die Haftung eines in Deutschland ansässigen Unternehmens richtet sich somit insgesamt nach deutschem Recht, wenn von einem deutschen Gericht über dessen lieferkettendimensionale Verantwortung zu entscheiden ist.
II.
Weiterhin schafft die CS3D-Richtlinie eine Reihe von Erleichterungen, unter denen ein Kläger im Rahmen eines anhängigen oder erst einzuleitenden Zivilprozesses Zugang zu Beweismitteln erhalten kann, die in der Verfügungsgewalt des Prozessgegners liegen. Dies ist bemerkenswert vor dem Hintergrund des in Zivilklagen in vielen Prozessordnungen verbreiteten Grundsatzes, dass niemand seinem Gegner Unterlagen verschaffen muss, die ihm zum Prozesssieg verhelfen könnten. Die Offenlegung der geforderten Beweismittel und die Maßnahmen zur Beweissicherung sind dabei jedoch nach den Vorgaben der Richtlinie auf das Maß zu beschränken, das erforderlich und verhältnismäßig ist, um einen Schadensersatzanspruch eines Klägers zu stützen. Dadurch soll verhindert werden, dass – wie nach US-amerikanischem Prozessrecht im Rahmen der sogenannten discovery teilweise möglich – erst nach Anhaltspunkten zur Stützung der erhobenen Anschuldigungen „gefischt“ wird, um die Klage schlüssig zu machen.
III.
Schließlich verlangt die CS3D-Richtlinie die Schaffung angemessener Bedingungen, unter denen ein mutmaßlich Geschädigter einen Dritten, etwa eine Gewerkschaft oder eine Nichtregierungsorganisation (NGO), ermächtigen kann, eine Klage zur Durchsetzung seiner Rechte zu erheben. Eine vergleichbare Regelung besteht im deutschen Recht bereits; sie wurde durch § 11 LkSG eingeführt. Doch ist es gerade das Zusammenspiel dieser sogenannten Prozessstandschaft mit den zuvor beschriebenen Haftungsregelungen und prozessualen Erleichterungen, mit denen die CS3D-Richtlinie Anreize für sogenannte Strategische Prozessführung setzt. Die bislang in Deutschland wenig günstigen „rechtlichen Opportunitätsstrukturen“ (zum Begriff Holzer e. a., 2020), also die Gesamtheit der prozessualen Rahmenbedingungen für strategisch geführte Zivilverfahren, werden sich hierdurch deutlich verbessern.
Unter dem Begriff strategisch geführter Prozesse werden allgemein solche Gerichtsverfahren verstanden, die nicht – oder jedenfalls nicht nur – zur Durchsetzung von Individualinteressen geführt werden, sondern zur Erreichung oder jedenfalls zur Förderung eines übergeordneten (sozialen) Zwecks (zum recht unscharfen Begriff etwa Graser/Helmrich, 2019). Waren es zunächst die US-amerikanischen Gerichte, die sich als besonders offen für „strategic litigation“ gezeigt haben, so werden derartige Prozesse nun mehr und mehr in Europa geführt, dort vor allem etwa in den Niederlanden (siehe etwa die „Klimaklage“ Milieudefensie et al. v. Royal Dutch Shell, wo ein sehr weitgehendes Urteil der ersten Instanz von 2021 mittlerweile durch das Rechtsmittelgericht im November 2024 deutlich entschärft wurde) und in England (siehe etwa die Entscheidung des UK Supreme Court im Verfahren Okpabi and others v Royal Dutch Shell Plc and another [2021] UKSC 3).
Auch in Deutschland gab es bereits solche Verfahren; zu nennen ist vor allem die Klage gegen den Textildiscounter KiK vor dem Landgericht Dortmund wegen dessen Verantwortung im Rahmen des oben genannten Fabrikbrandes in Pakistan (Klageabweisung, siehe IPRax 2019, 317; im Ergebnis bestätigt durch OLG Hamm NJW 2019, 3527). Noch anhängig ist eine Klage des peruanischen Bergführers und Kleinbauern Saúl Luciano Lliuya gegen RWE, wo das OLG Hamm in zweiter Instanz darüber zu entscheiden hat, ob einzelne Großemittenten für den Schutz vor Klimarisiken aufkommen müssen. Weitere Beispiele aus dem Klimabereich sind etwa die im Moment beim Bundesgerichtshof anhängige Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen Mercedes-Benz, in der ein Verbot beantragt wird, neue Personenkraftwagen mit Verbrennungsmotor nach dem 31. Oktober 2030 in Verkehr zu bringen, oder ein von Greenpeace unterstützter Prozess gegen Volkswagen mit vergleichbarer Zielrichtung (derzeit anhängig vor dem OLG Hamm).
Die Möglichkeit eines potentiell unkalkulierbaren Haftungsrisikos aus solchen und ähnlichen Zivilklagen dürfte die Gesamtkosten der Lieferketten-Compliance noch einmal deutlich erhöhen und die von Kolev-Schaefer dargestellten adversen Effekte weiter verstärken. Die Furcht vor strategisch geführten Haftungsklagen, die ja als solche bereits – völlig unabhängig vom Ausgang – negative Auswirkungen auf das Image eines betroffenen Konzerns oder jedenfalls einer bestimmten Konzernmarke haben, dürfte ein starkes Argument sein, sich aus bestimmten Hochrisikomärkten zurückzuziehen. Dass dies andererseits nicht vollständig vor strategisch geführten Klagen schützt, zeigen die eben skizzierten Klimaklagen.
IV.
Wie könnte nun also eine Lieferkettenregelung aussehen, die – bei voller Anerkennung der Notwendigkeit privatrechtlicher Mitverantwortung für die Achtung der Menschenrechte und Belange der Nachhaltigkeit – nicht zu einem Rückzug europäischer Unternehmen aus betroffenen Märkten führt? Aus Sicht von Kolev-Schaefer könnten Positiv- und Negativlisten helfen, auf denen „unbedenkliche“ und „schwierige“ Länder aufgeführt würden. Noch besser sei ein „risikobasierter Ansatz, bei dem nur Unternehmen zu konkreten Maßnahmen verpflichtet werden, wenn es klare Indikationen für Verstöße gegen Menschenrechts- oder Umweltstandards gibt […].“.
Ersteres dürfte vor allem aus politischen Gründen höchst delikat sein und zu diplomatischen Verwerfungen führen. Letzteres hingegen ist im Ansatz bereits im derzeit geltenden LkSG so enthalten: Dieses verpflichtet die von seinem Anwendungsbereich erfassten Unternehmen, in ihren Lieferketten die dort festgelegten menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten in angemessener Weise zu beachten (§ 3 Abs. 1 LkSG). Dazu müssen sie u. a. ein Risikomanagement einführen, Präventions- und ggf. auch Abhilfemaßnahmen ergreifen. Art und Intensität der zu ergreifenden Maßnahmen bemessen sich in einer Art beweglichem System anhand verschiedener Parameter (§ 3 Abs. 2 LkSG), die sich grob dahin zusammenfassen lassen, dass die Pflichtenintensität mit Zunahme der Gefahr für die geschützten Rechtsgüter steigt, aber geringer wird, je weniger das Unternehmen auf den betroffenen Bereich einwirken kann.
Doch woher weiß ein Unternehmen, ob es in diesem Sinne ausreichende Maßnahmen zur Schadensvermeidung oder -minimierung in die Wege geleitet hat? Wie kann es zukünftig das mit der Umsetzung der CS3D-Richlinie erwachsende Risiko einer zivilrechtlichen Haftung auf ein einigermaßen kalkulierbares Maß reduzieren? Immerhin: Unternehmen können nicht haftbar gemacht werden, wenn der Schaden lediglich von den Geschäftspartnern in den Aktivitätsketten der Unternehmen verursacht wird (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 2 CS3D-RL). Doch kann sich ein Unternehmen nicht durch den Nachweis von der Haftung entlasten, dass es wie auch immer geartete Compliance-Mechanismen anwendet wie etwa die Teilnahme an Industrie- oder Multi-Stakeholder-Initiativen, die unabhängige Überprüfung durch Dritte oder die Verwendung bestimmter Vertragsklauseln, um die Erfüllung der Sorgfaltspflichten zu unterstützen (Art. 29 Abs. 4 CS3D-RL). Eine Safe-Harbour-Klausel enthält die Richtlinie damit nicht. Genau das wäre indessen eine sinnvolle Maßnahme zur Einhegung unkalkulierbarer Haftungsrisiken.
Der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission vom 23.2.2022 hatte in Art. 22 Abs. 2 noch einen solchen „sicheren Hafen“ vorgesehen. Danach sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ein Unternehmen, das bestimmte Maßnahmen ergriffen hat, „nicht für Schäden durch negative Auswirkungen als Ergebnis der Tätigkeiten eines indirekten Partners haftet, mit dem es eine etablierte Geschäftsbeziehung unterhält, es sei denn, es wäre je nach Einzelfall unangemessen zu erwarten, dass die ergriffene Maßnahme, einschließlich der Prüfung der Einhaltung, geeignet wäre, die negative Auswirkung zu vermeiden, abzuschwächen, zu beheben oder zu minimieren“. Die Übernahme dieser Regel in den finalen Richtlinientext scheiterte indessen am Widerstand des Europäischen Parlaments. Auch eine solche Safe-Harbour-Regel verhindert nicht die mögliche Inanspruchnahme eines Unternehmens, ggf. auch im Rahmen strategisch geführter Zivilverfahren. Aus ihr folgt keine „Klagesperre“. Doch minimiert sie das Risiko einer Haftung beträchtlich in dem Maße, wie sie klar vorhersehbare Anforderungen an die unternehmerische Tätigkeit formuliert und für darüber hinausgehende Schäden die Haftung ausdrücklich ausschließt.
Die EU-Kommission ist gehalten, im Rahmen ihrer Berichtspflicht (Art. 36 Abs. 2 CS3D-RL) auch die Wirksamkeit der Richtlinie bezüglich der Erreichung der darin festgelegten Ziele, insbesondere bei der Bekämpfung negativer Auswirkungen, zu beurteilen. Man darf gespannt sein, wie diese Bewertung ausfällt, und welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Zu fordern ist jedenfalls, dass die bis dahin gewonnenen empirischen Erkenntnisse zur (ausgebliebenen) Steuerungsfunktion der Richtlinie hinreichende Berücksichtigung finden.