Macht und Ohnmacht

Ein Blick auf die urchristlichen Gemeinden

Im Rahmen der Veranstaltung Allmacht, Macht und Ohnmacht, 09.11.2023

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Einen allseits gültigen Vorschlag, wie Macht zu gestalten ist, gibt es im Urchristentum nicht: Zu unterschiedlich entwickeln sich die einzelnen Gruppen, zu verschieden ist die jeweilige (geistesgeschichtliche) Beheimatung der Autoren, zu disparat erscheinen auch die Wahrnehmungen der jeweiligen Lebenswelt. All dies aber wirkt sich auf die Sicht und Konzeption von Macht aus. Allenfalls lässt sich nach Konvergenzen innerhalb der verschiedenen Schriften des Neuen Testaments suchen, die eine erste Vorstellung vom Verständnis und der Ausübung von Macht im frühen Christentum vermitteln.

Auf den Kontext kommt es an

Die soziale Schichtung

Das Urchristentum ist eine Bewegung der Unterschicht. Es gibt vereinzelt begüterte und gesellschaftlich höhergestellte Patrone in den Gemeinden: Synagogenvorsteher, die sich für die Botschaft begeistern, Angesehene und Reiche, die für den sozialen Zusammenhalt sorgen, die Gemeinden materiell unterstützen und ihre Häuser für die Versammlungen öffnen. Gerade der deutliche thematische Akzent auf die Thematik „Armut und Reichtum“ im lukanischen Doppelwerk lässt erkennen, dass gegen Ende des 1. Jahrhunderts eine soziale Schichtung der Gemeinden im Gange ist und soziale Spannungen vorhanden sind. Zu einem wesentlichen Teil aber dürften die Christen in den paulinischen Gemeinden aus der Unterschicht stammen: Tagelöhner, Saisonarbeiter und Sklaven und deren Angehörige und Familien. Paulus bestätigt dies, wenn er die Christen in Korinth wie folgt beschreibt: „Schaut doch auf eure Berufung, Schwestern und Brüder: Da sind in den Augen der Welt nicht viele Weise, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme. Im Gegenteil: Das Törichte dieser Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zu beschämen, und das Schwache dieser Welt hat Gott erwählt, um das Starke zu beschämen, und das Geringe dieser Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts gilt, um zunichtezumachen, was etwas gilt, damit kein Mensch sich
rühme vor Gott.“ (1 Kor 1,26–29)

Die Gemeinden an und für sich besitzen damit keine politische Macht und keinen gesellschaftlichen Einfluss. Auch wenn für die 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts keine systematische oder flächendeckende Verfolgung der Christen anzunehmen ist, so stehen die Christen dennoch am gesellschaftlichen Rand: ökonomisch kaum potent, politisch einflusslos, sozial zunehmend geächtet – gerade durch die offensichtlich werdenden Unterschiede zur reichsrömischen Gesellschaft und gegenüber den Synagogen vor Ort. Ein entscheidender Attraktivitätsfaktor für das Urchristentum war – gerade da der gesellschaftliche Druck auf die Gemeinden wuchs – der innere Zusammenhalt: die soziale Fürsorge, die egalitären Gemeindestrukturen, die Einbindung jedes einzelnen in ein tragendes soziales Netz der Gemeinde.

Die Beheimatung der Autoren

Die Wahrnehmung von politischer Macht und staatlicher Herrschaft unterscheidet sich in den einzelnen Schriften des Neuen Testaments sehr voneinander. Die Johannesapokalypse etwa ist von einer durchwegs kritischen Haltung gegenüber dem Imperium, dem Kaiser und den lokalen – die Macht Roms symbolisierenden und propagierenden – kultischen und politischen Institutionen geprägt. Etwa zur gleichen Zeit (am Ende des 1. Jahrhunderts) und in der gleichen Region (in der Provinz Asia) vertritt der 1. Petrusbrief eine wesentlich kooperativere Sicht und plädiert – anders als die ­Johannesapokalypse – nicht für eine entschiedene Abgrenzung, sondern für eine werbende Integration in die reichsrömische Gesellschaft (1 Petr 2,12–14). Verantwortlich für die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Verhaltensimpulse mögen Erfahrungen in den einzelnen Gemeinden, vor allem aber die geistesgeschichtliche Beheimatung der Autoren sein: Eine Staats- und Gesellschaftskritik ist für den Seher Johannes in der Tradition der frühjüdischen Apokalyptik eine Selbstverständlichkeit, während der römische Bürger Paulus eine generell positive Wahrnehmung der staatlichen Autorität erkennen lässt: „Jedermann ordne sich den staatlichen Behörden unter, die Macht über ihn haben. Denn es gibt keine staatliche Behörde, die nicht von Gott gegeben wäre; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt. Also gilt: Wer sich gegen die Autorität des Staates auflehnt, der widersetzt sich der Anordnung Gottes; die sich aber widersetzen, werden ihr Urteil empfangen. Denn nicht die gute Tat muss die Machthaber fürchten, sondern die böse. Willst du die Autorität des Staates nicht fürchten müssen? Dann tue das Gute, und du wirst bei ihr
Anerkennung finden!“ (Röm 13,1–3)

Indirekt stellt diese Sicht der staatlichen Autorität als Garant der Ordnung aber doch einen Tugendspiegel für die staatliche Gewalt dar: Daran haben sich der Staat und seine Repräsentanten und Institutionen zu messen. Kritik ist vorprogrammiert, wenn der Staat seinen hier betonten Funktionen und Aufgaben nicht nachkommt. Die Sicht von Paulus mag zudem von der Absicht geprägt sein, die kleine und sozial schwache christliche Gemeinde innerhalb der Gesellschaft zu schützen. Paulus schürt nicht den Konflikt, sondern favorisiert einen zunächst wertschätzenden und integrationsbereiten Weg, um die Außenseiterposition der Christen nicht noch zusätzlich zu verschärfen.

Die paulinischen Gemeinden

In der Konzeptionierung und Ausübung von Macht sind und bleiben die Christen Kinder ihrer Zeit und Teil ihrer Lebenswelt. Diese Tatsache spiegelt sich schon in den verwendeten Titeln und Diensten (Episkopen, Presbyter, Hausvorsteher), die einerseits übernommen, aber andererseits doch inhaltlich verändert werden. Das Bekenntnis zu Jesus und die Orientierung an seiner Verkündigung modifizieren auch die Vorstellung und Ausübung von Macht.

Theologische Ansatzpunkte zur Wahrnehmung von Macht

Das frühe Christentum steht auf dem Boden der Geschichte Israels. Die prophetischen Schriften Israels werden als verbindlich erachtet: Das frühe Christentum weiß um die Ohnmachtserfahrung Israels in der Gefangenschaft, in Ägypten und in Babylon. Die ersten Christen begegnen in den Schriften der Propheten prophetischer Kritik und Anklage, wenn Arme unterdrückt oder ausgebeutet werden, wenn Mächtige ihre Macht für sich selbst nutzen oder gegen andere missbrauchen. Mit Blick auf die jüdische Geschichte wächst auch dem frühen Christentum ein machtkritischer, prophetisch entlarvender und den Machtmissbrauch anklagender Grundton zu.

Zudem stellt die Tatsache, dass Jesus als politischer Verbrecher gekreuzigt wurde, eine mahnende Erinnerung in jedweder Wahrnehmung von politischer Macht und staatlicher Herrschaft dar. In der Kreuzigung Jesu zeigt sich die Korrumpierbarkeit irdischer Macht, die Fehlerhaftigkeit staatlichen Urteilens, aber auch die Ablehnung des Gottesreichs, das Jesus angekündigt und dessen Wertigkeiten er – in Wort und Tat – vertreten hat. Kurzum: Der Blick auf den gekreuzigten Jesus mahnt zur Vorsicht und zur kritischen Distanz gegenüber Formen der Macht, die Menschen unkontrolliert und willkürlich über Menschen ausüben.

Machtverhältnisse innerhalb der Gemeinden werden durch einen gemeinsamen und die theologische Würde aller Gemeindeglieder kennzeichnenden Initiationsritus strukturiert: Paulus begreift die Taufe als Inkorporierung in den Leib Christi, dessen Glieder fundamental gleichwertig sind. Die Geistbegabung, die mit der Taufe verbunden ist, bedingt Charismen, die aufgrund ihrer Herkunft (vom Geist) und ihres Geschenkcharakters keine Über- oder Unterordnung zulassen: „Ihr alle seid Kinder Gottes durch den Glauben in Jesus Christus, denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Da gibt es also nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,26–28)

Schließlich besitzt auch die Christologie ein machtmodifizierendes Drehmoment. Das Zentrum ist nämlich besetzt: Christus wird als der Herr bekannt, von dem alle Macht abhängig und dem alle Macht Rechenschaft schuldig ist. Eindrücklich zeichnet Paulus im Philipper-Hymnus die Erniedrigung und Hingabe Jesu nach, der nicht an seiner Macht festhielt und den Machtlosen gleich wurde (Phil 2,6–11). Diese Lebensbewegung wird den Christen als Modell vor Augen gestellt: „Habt diese Gesinnung in euch, die auch in Jesus Christus war.“ (Phil 2,5) Macht dient nicht dem eigenen Renommee und dem eigenen Nutzen: Macht ist – christologisch verstanden – auf das Leben und das Wohl der anderen auszurichten!

In den vergangenen Jahren hat die These einige Diskussionen hervorgerufen, dass der Monotheismus doch die Gewalt fördere. Aber auch das Gegenteil ist denkbar: Da das Zentrum besetzt ist und die Macht damit nicht in Menschenhand liegt, könnte der Monotheismus auch gegen Gewalt und Machtmissbrauch stehen, Unrechtsmächte kritisch hinterfragen, egalitäre Strukturen fördern und zu einem respektvollen Umgang miteinander inspirieren!

Apostolisches Selbstverständnis und egalitäre Gemeinschaft

Paulus übt Macht aus. Er versteht sich als Gesandter Christi und unterstreicht die Autorität, die ihm in seiner Berufung von Christus übertragen wurde (Röm 1,1). Er tritt bevollmächtigt in den Gemeinden auf: Er lobt und tadelt, mahnt und kritisiert.

Gleichwohl weiß Paulus um Grenzen, die seine Macht temperieren und modifizieren: Das menschliche Unvermögen, die eigene Schwachheit aufgrund von Krankheit oder Überlastung, die dem Tod unterworfene menschliche Existenz lassen ihn vorsichtig sein. Paulus versteht sich als schwaches Gefäß. Er lebt von der Gnade (2 Kor 4,7). Es ist nicht seine Macht. Er ist Mitarbeiter und Dienstbote und muss sich und die anderen immer wieder daran erinnern, wem eigentlich das Feld gehört und die Ehre gebührt (1 Kor 3,10). Er steht zu Diensten, aber ist nicht der Dienstherr; er übt Macht aus, aber allenfalls als Bevollmächtigter und nicht als Machthaber. Die Gebrochen- und Gebrechlichkeit der eigenen Macht ist Ausdruck einer theologisch-christologischen Notwendigkeit: Die eigene Kraft und Stärke zehren stets von der Kraft und Größe Christi. Sie tragen – anders formuliert – die Gravur des Kreuzes und erweisen ihre Kraft in der Ohnmacht. Jede scheinbar beeindruckende Fähigkeit und auch jede Äußerung von Macht hat sich an der kenotischen Liebe des Herrn zu messen: Jede Prophetengabe, alle Erkenntnis und jedwede religiöse Spitzenleistung ist nichts ohne die Liebe – und damit immer nur so gut wie ihre Ausrichtung auf die anderen und ihr Dienst an den Schwächsten!

Paulus stellt sich auch hinsichtlich seines Selbstverständnisses den Gemeinden als Modell vor Augen: Die Art, wie er seinen Dienst versteht und ausübt, soll das Miteinander in den Gemeinden prägen. Auch als Apostel ist er Glied des Leibes Christi, Teil einer fundamental egalitären Gemeinschaft, deren Haupt Christus ist. Diese neue, Standesunterschiede aufbrechende, eine grundlegende Würde aller Menschen bejahende Sicht dürfte ein wesentlicher Attraktivitätsfaktor in den urchristlichen Gemeinden gewesen sein. Generell kann Paulus die Christinnen und Christen in den Gemeinden als Heilige – freilich nicht im Sinne einer moralischen Qualifizierung, sondern im Sinne einer grundlegend geschenkten Würde – anreden. Er grüßt Frauen und Männer, Sklaven und Freie, Juden und Heiden (Röm 16,1–16). Kerygmatische, diakonische und kybernetische Dienste werden – ohne Über- oder Unterordnung – nebeneinander erwähnt und aufgezählt: Sie alle sind vom Geist geschenkt und von dieser Quelle her geadelt und geeint. Alle Dienste sind – was entscheidend ist – auf den Aufbau des Leibes Christi ausgerichtet
(1 Kor 12,7). Angefangen von den eigenen Fähigkeiten bis hin zu den in der Gemeinde übernommenen Aufgaben ist die jeweils damit verbundene Macht proexistent: nicht Selbstzweck und kein Eigennutz, sondern Macht als Hingabe zur
Ermächtigung anderer.

Die Entwicklung von Ämtern: Qualifikation und Funktion

Die Frage nach der Ausbildung von Diensten und Ämtern (und der Übertragung von Macht) ist in urchristlicher und frühkirchlicher Zeit komplex und im Rahmen dieses Vortrags kaum zureichend zu beantworten. Die Anfänge von Diensten und Ämtern in den paulinischen Gemeinden zeigen sich relativ charismatisch: Sie sind von den Herausforderungen konkreter Situationen und Probleme veranlasst, durch die Erwartung der baldigen Wiederkunft des Herrn temperiert und durch die je unterschiedlichen Möglichkeiten in den einzelnen Gemeinden oder Hauskirchen strukturiert. Die sich dehnende Zeit, die wachsenden Gemeinden, der gesellschaftliche Druck, Probleme der Versorgung und Herausforderungen des alltäglichen Gemeindelebens tragen zur Entwicklung und Verfestigung von Ämtern bei. Dabei bieten sich – mit Blick auf die Synagogen und die Verwalter- und Vorsteherdienste in den griechisch-römischen Gemeinwesen – Presbyter und Episkopen an, die – auffällig genug – zunächst nur im Plural erwähnt und als Gemeinschaft dargestellt werden (Phil 1,1;
Jak 5,14). Der Presbyter-Dienst scheint aus der Gestaltung der jüdischen Synagogalgemeinde zu stammen und Leitungsfunktionen verschiedenster Art zu umfassen: ausgeübt von Personen, die aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Alters über die natürliche Autorität zur Übernahme von Verantwortung verfügen. Episkopen dagegen weisen auf Beamte im griechisch-römischen Vereins- oder Gemeinwesen hin, die Aufsicht führen und verwaltende und organisatorische Tätigkeiten ausüben.

Doch auch hier entwickeln die frühchristlichen Schriften – bei aller Übernahme feststehender Begrifflichkeiten und Vorstellungen – ein eigenes Anforderungs- und Inhaltsprofil: „Wenn einer ein Aufseheramt erstrebt, so begehrt er ein rechtes Werk. Der Aufseher nun muss untadelig sein, Mann einer einzigen Frau, nüchtern, besonnen, ordentlich, gastfreundlich, lehrgewandt, nicht weinselig, kein Schläger, sondern gütig, nicht streitsüchtig, nicht geldgierig, dem eigenen Haus recht vorstehend, Kinder habend, die er anständig erzieht, denn wenn einer dem eigenen Haus nicht vorzustehen weiß, wie soll er für eine Gemeinde Gottes sorgen?“ (1 Tim 3,1–5)

Solche Tugendspiegel haben nicht nur die Funktion, die Realität zu beschreiben. Sie dienen auch der Aufforderung und Mahnung und wollen die Wirklichkeit der Gemeinden möglichst positiv beeinflussen. Deutlich wird daran, dass Verantwortung und Macht kritisch in den Blick genommen und auch inhaltlich bestimmt werden. Auch im Urchristentum, in den paulinischen Gemeinden und in den sich zahlenmäßig stärker entwickelnden und ­ausdifferenzierenden Gemeinden der nachpaulinischen Zeit gibt es Macht: Sie dient dazu, das Gemeindeleben zu organisieren, für die soziale Verteilung von Gütern zu sorgen, Streitfragen zu klären und die Verkündigung des Evangeliums zu fördern. Gerade auch angesichts des Missbrauchs und der Korrumpierbarkeit von Macht bleiben das Wohl der Gemeinde und die Verkündigung des Evangeliums entscheidende inhaltliche Kriterien zur Bestimmung und Ausübung von Macht: Das Evangelium bestimmt inhaltlich und funktional die in den Gemeinden und für die Gemeinden ausgeübte Macht.

Abgeleitete, zielgerichtete und inhaltlich strukturierte Macht

Die mit den übertragenen Aufgaben ausgeübte Macht steht im Dienst des Gemeindeaufbaus und der Verkündigung. Damit ist die Macht inhaltlich orientiert und auch begrenzt: Sie ist nicht uferlos, sondern funktional limitiert!

Macht untersteht stets der Macht Jesu, an dessen Leben und Wirken sie Maß zu nehmen hat. In den Fußspuren eines Gekreuzigten lassen sich nur schwer – und nur, wenn die Wurzeln vergessen werden und die Ohnmacht Jesu verdrängt wird –
Machtinsignien prägen.

Macht bleibt stets auch eingebettet in die – bereits erwähnte – egalitäre Form der Gemeinde: „Ihr alle seid einer in Christus!“ (Gal 3,28) Temperiert ist die Macht schließlich auch in eschatologischer Hinsicht. Alle irdischen Mächte und Gewalten sind unter der Erwartung des Gottesreichs vorläufig und zeitlich begrenzt: Selbst der Sohn unterwirft sich schließlich dem, dem alle Macht gebührt, „damit Gott alles in allem ist.“ (1 Kor 15,28)

Insofern zeigen sich in der Praxis urchristlicher Gemeinden theologisch wie christologisch veranlasste machttemperierende Elemente und Faktoren: Macht wird in zeitlicher, in inhaltlicher Hinsicht und durch die Einbettung in eine fundamental gleichwertige Gemeinschaft der Getauften strukturiert und begrenzt.

Die Johannesapokalypse

Bevor einige synthetische Eindrücke zur Gestaltung und Ausübung von Macht im frühen Christentum den neutestamentlichen Studientag beschließen sollen, sei der Blick noch auf die Johannesapokalypse gerichtet. Das letzte Buch der Bibel klagt – wie keine andere Schrift des Neuen Testaments – gottvergessene, selbstherrliche und Menschen unterdrückende Macht an!

Ermächtigendes Wissen

Dem Wortsinn nach meint das Wort „Apokalypse“ Enthüllung, Entdeckung. In der Tat: In Form zahlreicher Visionen und Auditionen enthüllt Johannes den Adressaten seiner Schrift eine neue Welt. Dabei geht es keineswegs nur um die Offenbarung des zukünftigen Geschichtsverlaufs oder des kommenden Weltendes. Die Apokalypse dient der veränderten Wahrnehmung der Gegenwart: Die kritische Auseinandersetzung mit dem Imperium und die Demaskierung Roms als Menschen missbrauchende Bestie soll die Sicht der Leserinnen und Leser verändern. Sie blicken hinter die Kulissen: Johannes lüftet das Geheimnis der Hure Babylon, deren Geschmeide (nur) auf den ersten Blick fasziniert (Offb 17,7). Rom beutet Menschen aus und führt sie in die Abhängigkeit.

Die staatliche Macht sieht Johannes in Konkurrenz zur Macht Gottes. Dies spiegelt sich etwa in der Titulatur Gottes: Ließ sich – nach einer Bemerkung Suetons in seinen Kaiserviten – Domitian als „dominus et deus noster“ anreden, so spricht Johannes nun exklusiv Gott diesen Titel zu. Mehr noch: Gott ist der „Pantokrator“, der Allbeherrscher (Offb 4,8; 11,17; 15,3; 16,7).

Einerseits depotenziert Johannes in der Visionswelt seiner Schrift irdische Mächte und Gewalten. Die Macht Gottes wird sich durchsetzen: Irdische Throne werden untergehen, gottvergessene Machtausübung wird scheitern. Andererseits adelt Johannes – als Kehrseite der Medaille apokalyptischer Machtkritik – die Adressaten seiner Schrift und nennt sie „ein Königreich“, eine „Priesterschaft für Gott“ (Offb 1,6).

Auffällig ist zudem, dass – außer den Patriarchen und den zwölf Aposteln des Lammes – keine weiteren Titel oder Ämter in der Johannesapokalypse genannt werden: Johannes vermittelt den Adressaten ein hohes, adeliges Selbstverständnis. Ihnen, den Außenseitern, die nicht dem Kaiser huldigen und an Prozessionen und Spielen zu seinen Ehren nicht teilnehmen, wird Macht verheißen. Sie werden mit Gott auf dem Thron sitzen und Gericht halten (Offb 3,21). Wie mag dies auf die gesellschaftlich ausgegrenzte christliche Minderheit gewirkt haben? Die Apokalypse enthüllt und tröstet: Sie demaskiert das auf Unterdrückung und Machterhalt ausgerichtete Imperium und verheißt den Opfern der Geschichte die machtvolle Durchsetzung Gottes, der auf der Seite der Schwachen steht.

Zweifellos ist der Johannesapokalypse ein machtkritisches Element und Grundanliegen eigen: Sie stellt Macht auf den Prüfstand und macht die Adressaten zu Mitwisserinnen und Mitwissern. Das Enthüllungsanliegen der Apokalypse ist von machtkritischer Art: Unkenntnis, fehlendes Wissen oder absichtliche Geheimhaltung stützen die Macht der einen bzw. halten die anderen in der (unwissenden) Macht- und
Wehrlosigkeit gefangen. Die Johannesapokalypse dagegen zielt ihrem Inhalt und ihrem Vermittlungsansatz nach auf die Ermächtigung der christlichen Minorität Kleinasiens: Die „enthüllte“ und in der Schrift geäußerte Kritik am Imperium dient der Ermächtigung der Unterdrückten, der Aufwertung ihres Selbstverständnisses und dem Ausbau einer gesellschaftskritischen Form gemeindlichen Lebens.

Gewaltfreier Machtverzicht und die Macht des Wortes

Die Johannesapokalypse wendet sich an eine – zwar nicht systematisch und aktiv verfolgte, aber doch – politisch und sozial machtlose Adressatenschaft: eine kleine Minderheit von Christusgläubigen, die in der reichsrömischen Gesellschaft am Rand stehen. Das Bekenntnis zu Christus isoliert sie. Johannes plädiert dafür, sich als christliche Kontrastgesellschaft entschieden von der reichsrömischen Gesellschaft abzusetzen und die Grenzen deutlich zu markieren: „Und ich hörte eine andere Stimme aus dem Himmel sagen: Geht aus ihr (der Stadt) hinaus, mein Volk, damit ihr nicht an ihren Sünden teilhabt und damit ihr nicht von ihren Plagen empfangt!“ (Offb 18,4)

Johannes empfiehlt, sich der Macht Roms zu verweigern: dies sogar zum Preis von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Nachteilen! An keiner Stelle aber fordert Johannes die Adressaten zum militanten Widerstand auf. Im Gegenteil: Nicht der Löwe siegt, sondern das Lamm, das Opfertier, das die Male der Schächtung trägt und aufgrund der eigenen gewaltfreien Lebenshingabe den Sieg errungen hat (Offb 5,5–10).

Johannes selbst erduldet wohl – nach dem Zeugnis der Alten Kirche – eine befristete Strafmaßnahme: „Wegen des Wortes Gottes“ (Offb 1,9) ist er auf der Insel Patmos in Gefangenschaft. Was ihm bleibt, ist die Macht des Wortes: Schonungslos und mutig klagt er die gottvergessene Machtausübung des Imperiums an. Er nutzt Bilder und Vergleiche, schöpft aus den prophetischen Büchern des Alten Testaments, versteht sich selbst als Prophet (Offb 22,6.9)
und klagt Ausbeutung und Unterdrückung an.

Die erduldete Situation der Machtlosigkeit bricht ihm nicht das Rückgrat. Im Gegenteil: Er fordert zu Geduld und Treue, zu einem intensiven Ausharren im Vertrauen auf die sich durchsetzende göttliche Macht auf. In tiefer Solidarität – die Machtlosigkeit lässt selbstgemachte Hierarchien und Ranglisten fragwürdig erscheinen – stellt er sich den Adressaten als „Bruder und Mitteilhaber an der Bedrängnis und dem Königtum und der Ausdauer in Jesus“ (Offb 1,9) vor.

Im Widerschein wird deutlich, wie Johannes Macht versteht: Auch für ihn ist das Zentrum besetzt. Macht gebührt nicht einer Kreatur, sondern dem Schöpfer: Gott allein (Offb 4). Menschliche Macht ist niemals absolut.

Johannes greift nicht zur Waffe. Er fordert nicht zum militanten Widerstand auf. Er nutzt, was ihm bleibt: die Macht der prophetischen Kritik und Anklage, die Macht des Wortes. Übrigens scheint auch Gott bei der (endzeitlichen) Durchsetzung seiner Macht, andere Mittel zu haben und Wege zu beschreiten, als dies menschliche Macht tun würde: Gott richtet durch das Schwert aus seinem Mund – also abermals durch das Wort (Offb 2,6; 19,15.21). Gott schlägt die Feinde nicht mit einer militärischen Superwaffe in die Flucht: Sein bloßes Erscheinen – das Offenbarwerden Gottes – klärt den Sachverhalt (Offb 20,11). Auch die Johannes verbliebene – und zugegebenermaßen begrenzte – Macht ist eine Macht im Dienst für andere: Sie zielt auf die Ermächtigung der Machtlosen durch die Enthüllung von Hintergründen und die Stabilisierung der Hoffnung, damit Leben nicht in der Verzweiflung verkommt.

Zusammenfassung und Impulse

Wir blicken aus einer Zeit heraus auf die Texte des Neuen Testaments, in der vielfacher Missbrauch von Macht in der Kirche offensichtlich wurde, großes Unrecht geschehen ist und Menschen zutiefst verletzt wurden. Schnelle und einfache Lösungen lassen sich für gegenwärtige Fragen nicht aus den Texten des Neuen Testaments gewinnen. Aber inspirierend kann der Blick auf die Anfänge der urchristlichen Gemeinden doch sein: Welche Impulse lassen sich aus dem urchristlichen Ringen um die Verteilung von Macht in den Gemeinden und die Wahrnehmung von politischer Macht in der Welt und Gesellschaft ableiten?

Alternative Formen der Macht

Im besten Sinne des Wortes muss es im Christentum – so man in Verbindung mit dem Ursprung bleiben will – um alternative Formen der Macht und Machtausübung gehen. Durch die Geschichte Israels, die Machtkritik der alttestamentlichen Propheten, vor allem aber durch das Wirken, die Verkündigung und die Kreuzigung Jesu ist dem Christentum eine reservierte, kritisch prüfende Haltung gegenüber Macht und Machthabern eingestiftet. Letztlich geht das Christentum doch auf Jesus zurück, der von den Römern außerhalb der Stadt als Hochverräter gekreuzigt wurde. Sollte sich dies und die zentrale Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft nicht auch in der Ausgestaltung kirchlicher Dienste und Machtstrukturen spiegeln (müssen)?

Alternativ muss die Machtgestaltung im Christentum auch deshalb sein, weil sie an den Inhalten der Verkündigung und dem Selbstverständnis Jesu Maß zu nehmen hat. Das Bemühen darum spiegelt sich – in aller Gebrochenheit – in den urchristlichen Gemeinden: Paulus betont mit dem Philipperhymnus, aber auch im Hohelied der Liebe eine durchwegs kenotische Ausrichtung des Gemeindelebens und aller einzelnen Dienste und Verantwortlichkeiten. Nie geht es um eine Willkürmacht. Macht hat sich zu begründen und auf die Situation und Zielsetzung auszurichten. Wenn Macht zum Selbstzweck wird und nicht länger in Diensten steht, wenn sie nicht mehr dem kenotischen und diakonischen Anliegen des Stifters Rechnung trägt, ist sie zu kritisieren und zu modifizieren.

Kompetenzen beachten und Autorität begründen

Die Aufzählung von verschiedenen Charismen in den Gemeinden (1 Kor 12,8–11) setzt Fertigkeiten und die Eignung der verschiedenen Personen voraus. Die vorhandene Kompetenz, prophetisch zu reden, die Geister zu unterscheiden, Rat und Hilfe zu geben oder die Zungenrede zu übersetzen, wird als Wirkung und Gabe des Geistes verstanden. Nie geht es nur um die persönliche Neigung, sondern immer auch um die tatsächlich vorhandene, vom Geist geschenkte, den Aufbau der Gemeinde fördernde Eignung und Gewandtheit.

Die Haustafeln und Tugendkataloge beschreiben ein Anforderungsprofil. Dienste und Verantwortlichkeiten werden nicht abstrakt definiert: Sie sind konkret und dienen der Gemeinde, der Verkündigung, dem Aufbau des Gottesreichs. Sie basieren notwendigerweise auf Kompetenzen, die vorhanden sein oder sich angeeignet werden müssen. Dabei geht es auch um eine persönliche Passgenauigkeit mit der Aufgabe bzw. dem Dienst, die vor Über- oder Unterforderung schützt und eine sinnvolle Ausübung des Dienstes ermöglicht.

Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, dass das Kirchenrecht zwar – im Hinblick auf die Ämter in der Kirche – von „potestas“, „munus“ und „officium“ spricht, aber Begriffe wie „competentia“ und „auctoritas“ fehlen. Zur Ausübung eines Amtes ist aber eine Autorität notwendig, die sich aus der Anerkennung des Amtsträgers aufgrund der zum Dienst befähigenden Kompetenzen ergibt. Die Ausübung eines Amtes, ohne dafür die notwendige Befähigung zu besitzen, höhlt nicht nur das Amt aus, es schädigt Inhaber und Adressaten des Dienstes gleichermaßen.

Kontrollmechanismen einziehen und Zuständigkeiten ausloten

Paulus weiß um seine Zuständigkeiten: Er ist „nicht gesandt, zu taufen, sondern das Evangelium zu verkünden“ (1 Kor 1,17). Seine Kernaufgabe ist das Unterwegssein zum Zwecke der Verkündigung, der Auslegung und Erläuterung des Evangeliums. Die Diakone in Apg 6 werden bestimmt, um Dienst an den Tischen zu leisten und Bedürftige zu versorgen. Macht ist begrenzt, weil sie auf Funktionen und ein Ziel ausgerichtet ist. Als Kontrollinstanz kommen jene in den Blick, für die der Dienst vollzogen wird. Sie sind – oder wären – Teil einer gesunden Feedback-Kultur, um Funktionalität und Effektivität kritisch zu prüfen und ein dialogisches Miteinander zu pflegen. Da der Geist die verschiedenen Dienste und Aufgaben begründet, wäre eine Unterscheidung der Geister vorzunehmen. Auch die Dienste in den Gemeinden haben sich an den Früchten des Geistes zu messen und kritisch die Frage zu stellen, ob der Einsatz zu größerer Liebe und Freude, zu mehr Frieden, Großmut, Freundlichkeit, Güte und Treue (Gal 5,22) beiträgt.

Nicht zuletzt scheint in den paulinischen Gemeinden ein wesentliches Korrektiv von Leitungsämtern die Gruppe zu sein: Paulus spricht von den Episkopen und Diakonen in Philippi im Plural. Nicht ein einzelner, sondern eine Gruppe übt den Dienst der Leitung bzw. der Versorgung aus: eine Gruppe, die auf das Mehraugen-Prinzip setzt und davon profitiert.

Macht zur Ermächtigung anderer

Die Missionsstrategie von Paulus fasziniert: Paulus wählt bewusst große Städte, von denen eine besondere Strahlkraft und weitere Verbreitung des Evangeliums ausgehen kann. Paulus setzt in den Zentren an, verkündet dort das Evangelium, legt erste Strukturen Grund und betraut – mit Blick auf die vorhandenen Fähigkeiten in den Gemeinden –
mit Verantwortung. Nach wenigen Monaten reist er in der Regel ab, und die Gemeinde lebt. Sein Wirken in der Gemeinde war darauf ausgerichtet, die Gemeinde zur Eigenständigkeit zu ermächtigen. Der Dienst von Paulus ist dann erfolgreich, wenn er nicht mehr vonnöten ist, wenn andere zum Dienst, zur Verkündigung, zur Übernahme von Verantwortung ermächtigt wurden.

Das dürfte ein gutes Maß an Toleranz und eine Konzentration auf die essenziellen Elemente gemeindlichen Lebens gefordert haben. Dementsprechend variabel präsentieren sich auch die unterschiedlichen Gründungen und Gemeinden. Da ist nicht alles gleich, aber doch geeint im Bekenntnis zu Jesus Christus und in der Verkündigung des Evangeliums. Macht jedenfalls ist – an den Reiserouten und den zeitlich begrenzten Aufenthalten von Paulus abzulesen – eine zielorientierte Macht, die der Ermächtigung anderer dient.

In der Berufung Ezechiels findet sich ein aussagekräftiger Satz: „Als er zu mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße“ (Ez 2,2). Der Geist bewirkt den aufrechten Stand und die Eigenständigkeit des Propheten. Geistvolles Wirken, geistvolle Machtausübung sucht ebendies und lässt sich daran erkennen: Macht in der Kirche ist danach zu strukturieren und dort zu korrigieren, wo sie nicht der Verkündigung des Evangeliums und der Würde und Ermächtigung der anderen dient.

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