Die Frage ist von zentraler Bedeutung: Wie hat Jesus Macht verstanden? Gibt es Ansatzpunkte in der Jesusbewegung, an denen man heutzutage Maß nehmen kann?
Hermeneutische Vorbemerkungen
Eine leichtfertige Übertragung verbietet sich: Das Neue Testament liefert keine Kopiervorlage. Aussagen und Verhaltensweisen Jesu lassen sich nicht einfach und unreflektiert in unsere Zeit übertragen. Die Bibel ist – nach einem Wort von Diego Arenhoevel – der „mitgehende Anfang“. Nur in kritischer Auseinandersetzung mit der Zeit, aus der die Texte stammen, mit der Sprache, in der sie verfasst und mit den Vorstellungen, von denen sie geprägt sind, lässt sich so etwas wie die „Botschaft“ eines Textes finden, die selten genug wortwörtlich, aber doch beim Wort genommen werden kann. Die Bibel liefert keine fertigen Baupläne, aber doch Wegweiser und Impulse, um nach Wegen zu suchen, die noch heute vom Evangelium geprägt und gangbar sind.
Die Aufgabe und Auseinandersetzung sind – angesichts eines offensichtlich gewordenen enormen Missbrauchs von Macht in der Kirche – dringend geboten. Dabei soll „Macht“ zunächst einmal als ein Element in sozialen Beziehungen verstanden werden: als ein soziales Phänomen, als Mittel und Kraft im zwischenmenschlichen Miteinander. „Macht“ ist nicht von vornherein und in jedem Fall verderbt oder schlecht. Es braucht Macht, um Dinge zu tun, Gemeinschaft zu gestalten und Ziele zu erreichen. Auch in der Bibel ist von Macht die Rede: von Gott, dem Allmächtigen (auf den sogar zwei Mal im Glaubensbekenntnis Bezug genommen wird), vom Herrn der Heerscharen, von der Gottesherrschaft und der Vollmacht Jesu, von mit Macht ausgestatteten Königen, Propheten und Priestern. Die Macht Gottes stellt in den Psalmen einen Zufluchtspunkt und Hoffnungsanker dar: „Erwecke deine Macht und komm uns zu Hilfe!“ (Ps 80,3) Es gibt verschiedene Mächte, die in der Welt wirken, die auf das Leben von Menschen Einfluss nehmen. Die Macht Gottes wird als Macht pro nobis, als Stärke und Hort der Schwachen und Ohnmächtigen verstanden.
Demgegenüber aber steht die ernüchternde Einsicht, dass es keine kirchengeschichtliche Epoche gab, in der Einzelne oder Gruppen nicht auf die eine oder andere Weise der Versuchung zum Missbrauch von Macht erlegen sind. Es bedarf einer nüchternen Bestandsaufnahme. Wo wird Macht ausgeübt: in der Liturgie, in der Diakonie, in der Bildung, Verkündigung und Seelsorge? Wo kann Macht missbraucht werden? Der Blick auf die Anfänge der Jesusbewegung und das Urchristentum soll dazu verhelfen, Macht wahrzunehmen und einzuordnen, auf ihre Funktion und Zielsetzung hin zu befragen, um sie reflektiert und kontrolliert zu gestalten und zu gebrauchen.
Die Evangelien
Ein Portaltext: Mk 10,42–45
Wie hat Jesus Macht verstanden? Welche Formen und Strukturen von Macht wollte er in jener Gemeinschaft verwirklicht sehen, die im Kontext der Ankündigung der nahen Gottesherrschaft entstanden ist? Ein Text (Mk 10,42–45) darf dabei – aufgrund seines Alters und seiner Sperrigkeit – als besonders aussagekräftig gelten: ein Text, der von Vorstellungen und Aussagen des historischen Jesus zumindest veranlasst und geprägt zu sein scheint.
42Und herbeirufend sie (die Jünger), sagt Jesus ihnen: Ihr wisst, dass die über die Völker zu herrschen Geltenden sich ihrer bemächtigen und ihre Großen sie vergewaltigen. 43Nicht aber so ist es unter euch, sondern wer immer unter euch groß werden will, soll euer Diener sein, 44und wer immer unter euch Erster sein will, soll Sklave aller sein, 45denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld anstelle vieler zu geben. (Mk 10,42–45)
Im Markusevangelium beschließt diese Erzählung den Mittelteil des Evangeliums: Jesus ist mit den Jüngern unterwegs hinauf nach Jerusalem. An drei Stellen (Mk 8,31; 9,31; 10,33) kündet Jesus seinen bevorstehenden Tod an. Jedes Mal löst der Hinweis auf die Erniedrigung und den Kreuzestod eine Reaktion auf Seiten der Jünger aus: Petrus protestiert (Mk 8,32); die Jünger streiten darüber, wer von ihnen der Größte ist (Mk 9,33–34); Jakobus und Johannes bemühen sich um die Plätze zur Linken und Rechten Jesu in seiner „Herrlichkeit“ (Mk 10,37). Es scheint, wie wenn die bevorstehende Passion Jesu nicht nur von den Jüngern nicht verstanden, sondern sogar eine heftige Gegenreaktion auslösen würde: Angesichts drohender Machtlosigkeit geht es ihnen um die Frage nach dem Erhalt von Ansehen und Macht. Am Ende des Unterwegssein Jesu mit seinen Jüngern und kurz vor dem Einzug nach Jerusalem lässt sich die Rede Jesu wie eine – machtkritische, das Profil der Nachfolge verdeutlichende – Zusammenfassung verstehen.
Die Anrede und Einleitung „ihr wisst“ spielt auf Erfahrungen an, die realistischerweise – zumal in einem Gebiet unter römischer Herrschaft – zum alltäglichen und leidvollen Erfahrungsschatz der Menschen gehören. Die Wortwahl ist so drastisch wie anschaulich: Es geht um „Bemächtigung“ und „Vergewaltigung“, um Unterdrückung, finanzielle Ausbeutung, militärische Gewalt und Freiheitsberaubung. Eine versteckte Kritik lässt sich in der Formulierung „die zu herrschen Geltenden“ erkennen: Was in der Welt als groß und mächtig gilt, wird hier nicht einfach fraglos anerkannt. Gerade im Licht der Gottesherrschaft mag manches größer erscheinen als es in Wirklichkeit ist. Eine Abgrenzung wird durch die verwendeten Personalpronomina deutlich: bei euch, unter euch … Der Kontrast wird wie eine Tatsache beschrieben und damit deutlich herausgestellt. Die Nachfolgegemeinschaft ist von einer anderen Logik und von anderen Verhaltensweisen bestimmt: „Nicht aber so ist es unter euch!“
Hier wird keiner „machtfreien“ oder strukturlosen Gemeinschaft das Wort geredet. Es gibt Aufgaben, Dienste und auch „Erste“. Doch zum „groß werden“ und „Erster sein“ qualifiziert die Dienstbereitschaft: die Art der Ausführung der Aufgabe und das eigene Selbstverständnis. Dies gilt auch nicht nur punktuell, sondern – wie die breitflächige Aussage deutlich werden lässt („wer immer“) – generell und grundlegend. Als bestätigendes und ratifizierendes Modell wird auf den Menschensohn verwiesen, der als Menschenkind um die Niedrigkeit weiß und seinen Dienst durch und durch als Hingabe für andere versteht und versieht. Dass es sich dabei nicht nur um einen abstrakten Gedanken oder um einen oberflächlich-äußerlichen Schein handelt, macht die Lebenshingabe deutlich: Der Menschensohn gibt sich nicht dienstbereit, er ist Dienst in Person. Die Rede vom Lösegeld lässt an einen Sklavenfreikauf oder die Freisetzung Gefangener denken. Der Dienst des Menschensohnes wird dadurch qualifiziert: Sein Einsatz wirft keinen Profit ab und trägt nicht zur Steigerung des eigenen Renommees bei, denn sein Dienst ist auf die Macht- und Wehrlosen, auf Sklaven, Eingesperrte und Unterlegene ausgerichtet.
Das Markusevangelium
Die Verkündigung Jesu im Markusevangelium beginnt mit der Ansage der Gottesherrschaft (Mk 1,15). Diese greift im Wirken Jesu um sich: in seinen Taten, wo immer Krankheit und Ausgrenzung überwunden werden, aber auch in den Lebens- und Verhaltensweisen der Nachfolgegemeinschaft. Dabei mag der – vom Autor markant an den Anfang der Schrift gesetzte (Mk 1,1) – Begriff „Evangelium“ schon einen entscheidenden Kontrastpunkt darstellen: Die „gute Nachricht“ beinhaltet nicht die Erfolgsgeschichte eines auf Leistung und Durchsetzungskraft getrimmten Feldherrn, sondern die Lebensgeschichte eines Absteigers. Unter der Überschrift „Evangelium“ erzählt Markus die Geschichte eines Gekreuzigten. Dabei stellt das Kreuz nicht erst eine „Zutat“ am Ende des Weges Jesu dar. Markus arbeitet den Weg Jesu als einen Weg in die Erniedrigung heraus und gestaltet den Weg der Jünger als einen Weg der Kreuzesnachfolge: „Wenn einer mir nachfolgen will, soll er sich selbst verleugnen, sein Kreuz tragen und mir folgen.“ (Mk 8,34) Damit wird der Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger eine neue Vorstellung von Größe und Macht eingeprägt: Macht wird (vgl. Mk 10,42–45) als Dienstbereitschaft verstanden und als Hingabe bestimmt. Die Ausübung von Macht setzt die Bereitschaft zum Statusverzicht, zur Kreuzesnachfolge und zum Einsatz des eigenen Lebens für die Macht- und Wehrlosen voraus.
Das Matthäusevangelium
Bereits am Anfang des Matthäusevangeliums wird Jesus als Davids- und Abrahamssohn (Mt 1,1) präsentiert. Vollmächtig legt er – in Wort und Tat – das Gesetz aus. Als Ort für die erste öffentliche und programmatische Rede Jesu wählt Matthäus einen Berg: einen Ort, der von der Erinnerung an die Gesetzesgabe am Sinai und an Mose geprägt ist und Autorität symbolisiert. Dennoch identifiziert sich Jesus – in seiner letzten öffentlichen Rede und damit an herausgehobener Stelle im Evangelium – mit allen Schwachen und Leidenden: „Das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,31–46)
Deutlicher als in allen anderen Evangelien unterstreicht Matthäus das Scheitern der Jünger: Sie zweifeln (bis in die Schlussszene des Evangeliums hinein) und werden Kleingläubige genannt. Petrus schwört gar einen Meineid im Angesicht der Gefangennahme Jesu. Die Jünger bleiben in der Nachfolge wankelmütig und werden als solche – ohne dass die Zweifel überwunden würden – mit der weltweiten Verkündigung betraut: zerbrechliche Gefäße, die stets und inmitten ihrer eigenen Ohnmacht von der Macht des Auferweckten zehren (Mt 28,16–20).
Das lukanische Doppelwerk
Gerade die Kindheitserzählungen des Lukasevangeliums sind von der Erwartung einer Umkehrung bestehender Machtverhältnisse geprägt. Das Magnifikat besingt einen Gott, der „Mächtige von Thronen stößt und Niedrige erhöht, Hungernde sättigt und Reiche leer fortschickt“ (Lk 1,52–53). Auch die Geburt Jesu in ärmlichen Verhältnissen stellt einen scharfen Kontrast dar: Die mit der Erwähnung von Kaiser Augustus (Lk 2,1) aufgerufene Vorstellung von politischer Größe und Macht des Imperiums wird konterkariert. Das wehrlose Kind in der Krippe ist der Inbegriff von Macht- und Wehrlosigkeit, der Anfang einer radikalen Infragestellung irdischer Mächte und Gewalten und Ausdruck einer entschiedenen Umwertung: Gott steht auf der Seite der Armen.
Gerade das Lukasevangelium unterstreicht die Zuwendung Jesu zu Außenseitern, Armen und Machtlosen: Jesus weiß sich gesandt, „Armen eine gute Nachricht zu verkünden und (…) Geknechtete in Freiheit zu setzen“ (Lk 4,18). Angesichts des Rangstreits der Jünger – den Lukas sogar in den Abendmahlssaal hinein verlagert (Lk 22,24) – fasst Jesus seine Sendung und sein Selbstverständnis zusammen: „Ich aber bin in eurer Mitte als einer,
der bedient.“ (Lk 22,27)
Daran haben – in aller Gebrochenheit – die Urchristen Maß zu nehmen: In der Apostelgeschichte scheint die Gemeinde nicht zuletzt deshalb attraktiv zu sein, weil sie alternativ ist. Sicher idealisierend, aber dennoch als maßgebliches Ideal beschreibt Lukas die Gemeinschaft der Christen (Apg 2,41–47; 4,32–35): Niemand leidet Not. Soziale Grenzen werden überwunden. Das soziale Netz der Gemeinde trägt. Um die Versorgung von Witwen und Armen zu sichern, werden sogar eigene Dienste „erfunden“
(Apg 6,1–7): Diakone, die den Dienst an den Tischen übernehmen und für eine Verteilung der Güter in der Gemeinde sorgen sollen. Macht dient dem Leben der anderen!
Das Johannesevangelium
Von anderer Art – in sprachlicher, aber auch theologisch-christologischer Hinsicht – ist das Johannesevangelium: Geschichtliche Traditionen verschmelzen mit dem Glauben, dass Jesus „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) ist. Schon der Prolog des Evangeliums versteht die Menschwerdung des Logos als einen Weg in die Erniedrigung: „Der Logos wurde Fleisch.“ (Joh 1,14) Der Logos verzichtet auf Macht, um Welt und Menschen zu ermächtigen: um das Licht in der Finsternis, das Leben inmitten einer todesverfallenen Welt zu erkennen.
An die Stelle einer detaillierten Beschreibung des Abendmahls setzt das Johannesevangelium die Erzählung von der Fußwaschung: Jesus gibt ein Beispiel, an dem sich Jüngerschaft zu messen hat (Joh 13,15). Sklavendienst wird zur Lebensform erklärt: Hingabe ist der Maßstab, Statusverzicht das Grundcharakteristikum dieses Dienstes. Die Johannesbriefe buchstabieren dies aus. Gott ist die Liebe und fordert zur gegenseitigen Liebe und Achtung auf: „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass jener für uns sein Leben einsetzte; so müssen auch wir für die Geschwister das Leben hingeben.“ (1 Joh 3,16) Damit erhalten alle Aufgaben und Dienste eine grundlegende Ausrichtung: Nie geht es um die Selbstverwirklichung, um das eigene Ansehen oder um eine selbstgefällige Machtausübung. Es geht um Fürsorge, um Größe durch Hingabe: um Macht, die der Ermächtigung anderer dient.
Der historische Jesus
Fragt man nach den ureigenen Überzeugungen Jesu, die sich in den Erzählungen der Evangelien spiegeln, dort aber auch schon übersetzt und für verschiedene Adressatenkreise zur Anwendung gebracht werden, so wird man beim Zentraldatum der Verkündigung Jesu anzusetzen haben. Jesus verkündet die Gottesherrschaft. Aus diesem „Systemzentrum“ und theologischem Kraftfeld heraus ergeben sich neue Plausibilitäten: Grundsätze und Werte, die auch die Vorstellung von Macht modifizieren und die Ausübung von Macht bestimmen sollen.
Damit beinhaltet die Verkündigung der Gottesherrschaft stets auch eine kritische Anfrage an bestehende politische und soziale Machtverhältnisse. Jesus ist sicher nicht im eigentlichen Sinn politisch aktiv. Auch seine Antwort auf die Steuerfrage wird man im Sinne einer relativ desinteressierten Abwendung verstehen dürfen (Mk 12,17): Die politische Machtfrage scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren. Aber er kritisiert Machthaber, die ihre Macht missbrauchen. Jedwede irdische Macht wird an den Inhalten der Gottesherrschaft gemessen. Nur im Licht der Gottesherrschaft – im Licht jener Wertigkeiten, für die in der Verkündigung Jesu das Gottesreich steht – gewinnt Macht ihre Bedeutung und ihre Ausrichtung. Sie lässt sich nur als Dienst und Hingabe begreifen. Maßgabe und Modell sind das Leben und Wirken Jesu.
Dies spiegelt sich nicht zuletzt im Selbstverständnis Jesu und in seinem Verzicht auf (machtvolle) Titel, in der Abwehr von Selbstruhm und in der Ablehnung von Machtdemonstrationen. Die synoptischen Evangelien halten die Erinnerung an einen Jesus wach, der sein Wirken nicht hinausposaunt. Der Dienstcharakter seines Wirkens soll so deutlich werden: Es geht nicht um den Wundertäter, sondern um die Tat am Kranken und Leidenden. Forderungen, die eigene Macht unter Beweis zu stellen, lehnt Jesus ab. Die eigene Macht dient der Ermächtigung anderer und soll als solche klar erkennbar bleiben. In seinem Wirken und in der Gemeinschaft um ihn sollen sich die Wertigkeiten des Gottesreichs zeigen: im Verzicht auf den eigenen Status und das eigene Renommee, in der Achtung des Gegenübers und in der besonderen Fürsorge für Schwache, im Verzicht auf Gewalt und in einer Lebensführung, die nicht nur Dienst heuchelt, sondern durch und durch Dienst ist. Seine gewaltlose Lebenshingabe und sein Kreuzestod verdeutlichen und ratifizieren dies.
Eine Synthese: Machtverzicht und Machtkritik
Kehren wir an den Anfang zurück. Eine einfache Kopiervorlage bietet uns der Rückblick auf das Wirken und die Botschaft Jesu nicht. Einfache Antworten auf komplexe Fragen unserer Zeit lassen sich nur schwerlich aus der Botschaft Jesu und aus der Jesuserinnerung in den Evangelien gewinnen. Das heißt aber nicht, dass der Rückblick nicht notwendig wäre oder uns nichts mehr zu sagen hätte, ganz im Gegenteil.
Der demaskierende Anfang
Jesus stellt für alle, die sich auf ihn berufen, die sich in seine Nachfolge begeben und an seiner Botschaft Maß nehmen wollen, den entscheidenden Bezugspunkt dar: In kritischer Auseinandersetzung und in reflektierter Weise muss in eine veränderte Zeit übersetzt werden, wofür Jesus stand, was seine Botschaft und sein Wirken auszeichnet. Die Jesuserinnerung in den Evangelien ist der zum Buchstaben geronnene Prüfauftrag: eine kritische Anfrage an jedwede Institutionalisierung und Machtverfestigung. Jesus stellt – stets und notwendigerweise – Christ- und Kirche-Sein auf den Prüfstand.
Von Alfred Loisy stammt der Satz: „Jesus hat das Reich angekündigt, und was kam, war die Kirche.“ Zumeist wird nur dieser Satz zitiert und damit aus dem Kontext gerissen, um den Satz im Sinne eines fundamentalen Gegensatzes zwischen der Botschaft Jesu und der Kirche zu verstehen. Loisy aber fährt fort: „Sie kam und erweiterte die Form des Evangeliums, die unmöglich erhalten werden konnte, wie sie war, seitdem Jesu Aufgabe mit dem Leiden abgeschlossen war. Wenn man das Prinzip aufstellt, daß alles nur in seinem ursprünglichen Zustand Existenzberechtigung hat, so gibt es keine Einrichtung auf der Erde und in der menschlichen Geschichte, deren Legitimität und Wert nicht bestritten werden könnte. Ein solches Prinzip läuft dem Gesetz des Lebens zuwider, welches eine Bewegung und ein beständiges Streben nach Anpassung an ewig wechselnde und neue Bedingungen ist. Das Christentum hat sich diesem Gesetz nicht entzogen, und es darf nicht getadelt werden, weil es sich ihm gefügt hat. Es konnte nicht anders handeln.“ Kirche ist der – oft genug halbfertige und halbherzige, brüchige und immer wieder scheiternde – Versuch, an der Botschaft Jesu Maß zu nehmen und sie ins Leben zu übersetzen. Das gilt auch und vor allem in der Frage nach der Ausgestaltung von Diensten, Aufgaben und Macht. Will sich Kirche auf ihren Anfang beziehen, darf sie die Mitte der Verkündigung Jesu nicht außer Acht lassen: die Verkündigung der Gottesherrschaft, die Infragestellungen irdischer Mächte und Gewalten und die Suche nach alternativen Formen von Macht und Machtausübung.
Das vergessene Zentrum der Verkündigung
Welche Rolle spielt das Reich Gottes noch im Christentum? Ist dieses Grunddatum der Verkündigung Jesu nicht längst ins Hintertreffen geraten? Wer rechnet noch mit dem Hereinbrechen des Gottesreichs? Wer richtet seine Praxis darauf aus?
Die große Verunsicherung für die frühen Christen bestand in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach dem Wirken Jesu im Ausbleiben dieses Reichs. Die akute Naherwartung ließ hoffen und schmerzte doch zusehends. Es war ein mühsamer Weg – die Briefe des Paulus, aber auch die Erzählungen der Apostelgeschichte machen dies deutlich –, bis die Christen das Warten lernten – ohne aber die Hoffnung aufzugeben. Die Erwartung wurde nicht gestrichen, sondern modifiziert: Aus der Naherwartung wurde die Stetserwartung. Wenn kirchliche Verkündigung jesuanisch sein will, wird sie sich auf die Gottesherrschaft ausrichten müssen: Daran haben sich alle Dienste, Aufgaben und Strukturen zu messen. Im Licht der Gottesherrschaft – der Name macht es deutlich – ist alle irdische Herrschaft begrenzt. Die Gottesherrschaft hat Macht in der Kirche inhaltlich zu prägen und zu strukturieren. Oder anders: Macht steht im Dienst der Wertigkeiten, die in der Verkündigung Jesu mit der Gottesherrschaft verbunden sind. Im Zentrum steht ein Gott, der den Menschen sucht und barmherzig begegnet, der sich hingibt, „um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10).
Die helle und die dunkle Seite der Macht
Schon in der Jesusbewegung ist Macht zwiespältig, anfällig für Missbrauch und der Korrektur bedürftig. Macht kann nutzen: Die Vollmacht Jesu heilt. Macht kann aber auch korrumpieren und zur Vernichtung von Feinden, zur Durchsetzung eigener Interessen und zur Gewaltanwendung verleiten. Als Jesus in einem samaritanischen Dorf eine Unterkunft verwehrt wird, verlangen die Jünger nach einem demonstrativen Machterweis: „Als die Jünger Jakobus und Johannes das sahen, sagten sie: Herr, sollen wir sagen, Feuer falle vom Himmel und vernichte sie?“ (Lk 9,54) Jesus weist die Jünger zurecht: Das ist offensichtlich nicht das, was Jesus unter Macht versteht. Macht ist Dienst, sonst verdunkelt sie die Botschaft der Herrschaft Gottes. Womöglich ist schon viel gewonnen, wenn allen, die Macht besitzen und ausüben, die menschliche Versuchbarkeit zum Machtmissbrauch deutlich vor Augen steht. Noch mehr ginge es darum, Macht in der Kirche inhaltlich zu definieren und praktisch so auszugestalten, dass sie – wenn schon nicht gänzlich immun gegenüber Missbrauch, so doch wenigstens – begrenzt und korrekturfähig ist, aber auch kritisch und konstruktiv diskutiert und evaluiert wird.
Die freibleibende Mitte
Explizit und implizit ist die neutestamentliche Überlieferung von der Einsicht geprägt, dass die Mitte dem Meister gehört. Auch inmitten ausdifferenzierter Aufgaben und ausgestalteter Strukturen bleibt die Mitte frei: „Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn einer ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Geschwister. Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen, denn einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Meister nennen lassen, denn einer ist euer
Meister, Christus.“ (Mt 23,8–10)
Die freibleibende Mitte könnte zu einer paritätischen Ausgestaltung und Ausübung von Macht in der Kirche führen. Jüngerinnen und Jünger bleiben Jüngerinnen und Jünger und sind – auf dieser ganz grundlegenden Ebene und im besten Sinne des Wortes – gleichberechtigt. Jede Funktion und jede Aufgabe bleiben auf diese Mitte verwiesen. Alle Macht ist insofern vorläufig, abhängig, zeitweilig und begrenzt. „Manche Stühle“, sagte Klaus Hemmerle, „bleiben besser frei.“ Stünde der Kirche nicht ein un-füllbares Machtvakuum gut zu Gesicht? Es gibt Leerstellen, die wir gar nicht füllen können, auch nicht füllen brauchen und vor allem nicht füllen dürfen. Macht in der Kirche hat sich als vorläufig und radikal begrenzt zu begreifen, weil der eigentliche Herr im Haus der Meister ist. Die kritische Anfrage an alle Macht, die in der Kirche übernommen und ausgeübt wird, ist von grundlegender Natur: Wo spiegelt sich im sozialen Zueinander, in den Strukturen, in der Ausgestaltung und Ausübung von Aufgaben und Diensten, im Leben der Kirche, dass die Mitte (bereits) besetzt ist?
Machtkritische Modenschau
Macht in der Kirche blickt auf die Vollmacht Jesu und hat sich von ihr her zu begründen und zu verstehen: Diese Vollmacht Jesu aber ist – deutlich ablesbar an seinem Wirken und an den Heilszeichen – eine „Macht“, ein Dienst an den Wehrlosen und Ohnmächtigen. Machtinsignien lassen sich schlecht unter Verweis auf den hingebungsvollen, in seiner Liebe wehrlosen und schlussendlich gekreuzigten Jesus prägen!
Sind die Dienste und Aufgaben in der Kirche auf die Macht- und Wehrlosigkeit Jesu hin transparent? Ihre jesuanischen Prägemale sind Fürsorge, Nächstenliebe und Statusverzicht. Warum – so fragte Gottfried Bachl in seinem immer noch lesenswerten Buch Der schwierige Jesus – passt Jesus eigentlich gar so schlecht in die Gewänder seiner Kirche? Kleider machen Leute, sicher! Aber wenn dem so ist, dann wäre doch auch die Garderobe derer, die diesen Jesus verkünden und auf ihn hinweisen wollen, kritisch in Augenschein zu nehmen: Wo wird die auf Statusverzicht ausgerichtete, von Hingabe durchtränkte und die Größe und das Ansehen des Nächsten suchende und fördernde Macht Jesu ansichtig und begreifbar?
Das Gedankenexperiment, das Gottfried Bachl unternimmt, ist – wie der Blick zurück auf die Anfänge des Christentums – noch heute entscheidend, aber auch ernüchternd: „Um zu entdecken, wie nackt Jesus war, ist es hilfreich, ein Phantasieexperiment zu machen (…). Wir sollten uns Jesus in den amtlichen Kleidern seiner Kirchen vorstellen: Jesus als römischer Papst, im großen Ornat dieses Amtes, mit der Tiara, der Mitra, dem Hirtenstab, dem Fischerring am Finger, im weißen Talar, im Glanz des Primates und der Unfehlbarkeit, Jesus als Metropolit, als Ökumenischer Patriarch, als Superintendent, als Erzbischof, als Hausprälat, als Monsignore, Jesus als Kardinal, Jesus als Titelträger: Hochwürden Jesus, seine Heiligkeit Jesus, seine Exzellenz, seine Eminenz, der Geistliche Rat Jesus. Ich gerate mit der Aufzählung dieser Möglichkeiten in die Nähe des Kabaretts. Alle lachen bei solchen Vorstellungen.
Einige werden sagen, es sei theologisch ungehörig, hier sei Differenzierung am Platz. Andere werden es übelnehmen und lieber verbieten wollen, weniger, weil sie um den Namen Jesu besorgt sind, sondern weil sie darin eine Attacke auf die hierarchische Kirche erblicken. Aber ich bleibe bei der Frage: Warum lachen die meisten bei dieser Vorstellung, warum rümpfen theologisch Gebildete die Nase, warum möchten kircheneifrige Katholiken sie untersagen? Warum paßt Jesus so schlecht in das Gewand seiner Stellvertreter, wie sie sich gern nennen? So ganz unangebracht ist der Versuch nicht, Jesus die Tracht seiner Kirche anprobieren zu lassen, um zu sehen, wie sie sich ausmacht an ihm.“ (Der schwierige Jesus, 56–57)