Monteverdi und der Beginn der Moderne

1590-1640: Bahnbrechende Beiträge zur Herausbildung neuer Ideen

Im Rahmen der Veranstaltung Sir John Eliot Gardiner, 20.03.2023

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf das halbe Jahrhundert zwischen 1590 und 1640 lenken. Das ist die Zeit, in der die sieben Persönlichkeiten, die ich für mein bald erscheinendes Buch ausgewählt habe, lebten, arbeiteten und Berühmtheit erlangten, wobei sie mit ähnlichen Fragestellungen und Verwicklungen rangen und dieselbe europäische Luft atmeten. Zusammen bildeten sie eine überwältigende Konstellation intellektueller Energien, die damals und auch später eine starke Anziehungskraft ausstrahlte. Jeder von ihnen leistete mit radikalen Fortschritten auf seinem Fachgebiet einen bahnbrechenden Beitrag zur Herausbildung neuer Ideen. Zusammen stellten sie das philosophische und künstlerische Leben Europas auf den Kopf. Die Moderne beginnt hier.

Das intellektuelle Septett bricht in die Moderne auf

Das Septett bestand aus Mathematikern, Astronomen, Gelehrten, Dichtern, Malern und einem Musiker, die alle innerhalb weniger Jahre in den 60er oder 70er Jahren des 16. Jahrhunderts geboren wurden: Sechs von ihnen sind bekannte, prominente Gestalten – Francis Bacon (geb. 1561), Galileo Galilei (geb. 1564), Johannes Kepler (geb. 1571), William Shakespeare (geb. 1564), Michelangelo Merisi da Caravaggio (geb. 1571) und Peter Paul Rubens (geb. 1577). Weniger prominent ist der siebte, den ich hier gegen alle Erwartungen einbeziehe – der Komponist Claudio Monteverdi (geb. 1567). Man findet ihn in keiner Überblicksdarstellung zur Kultur dieser Epoche. Das ist verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Musik, die für damalige Gelehrtenkreise alles andere als eine Randerscheinung war, sich zu dieser Zeit nicht nur zu einem glaubwürdigen Medium der Auseinandersetzung mit der Welt entwickelte und ihrer Zeit mit all ihrem Denken und Streben den Spiegel vorhielt, sondern sogar zu einer treibenden Kraft wurde.

Ich empfinde es daher als rätselhaft, dass Kulturhistoriker der Musik häufig ausweichen, als verdiene sie kaum Aufmerksamkeit und sei nicht würdig, in die Beschäftigung mit der Epoche einbezogen zu werden. Es ist, als wäre man irgendwie davon befreit, über ihre Bedeutung nachdenken zu müssen. Man riskiert damit, ein entscheidendes Element in der Kulturlandschaft zu übersehen, ganz ähnlich wie die italienischen Geistlichen, die sich rund heraus weigerten, durch Galileis Teleskop zu schauen und mit eigenen Augen zu sehen, dass der Mond Krater und Berge wie unsere Erde hatte. Ich frage mich, ob das daher kommt, dass die Musik, da sie so geheimnisvoll und flüchtig ist, sich schwer bestimmen lässt und sich der verbalen Beschreibung entzieht – sei es mit poetischen Metaphern oder reduziert auf ein Fachchinesisch, das nur Spezialisten verstehen können. Oder könnte der Grund auch sein, dass viele Nicht-Fachleute sich nicht ausreichend qualifiziert fühlen und deshalb davor zurückscheuen, sich zu Musik zu äußern?

Die Bedeutung der Musik nimmt zu

Das war im 17. Jahrhundert definitiv nicht der Fall: Ausnahmslos alle Naturphilosophen, Maler und Schriftsteller der Zeit maßen der Musik große Bedeutung bei. Mathematik, Naturwissenschaft, Kunst und Musik waren zu jener Zeit noch untrennbar verflochten. Sowohl Galileo als auch Kepler formulierten ihre Theorien und Entdeckungen mit Hilfe musikalischer Terminologie und benutzten in ihren Schriften regelmäßig Metaphern aus dem Bereich der Musik. Höchstwahrscheinlich hätten sie beide bestätigt, dass ihre theoretischen und praktischen Untersuchungen ohne Musik unvollständig geblieben wären. Auch Shakespeares Stücke sind von Musik durchdrungen. Wie Aldous Huxley es ausdrückte: „Shakespeare legte den Stift beiseite und verlangte nach Musik“, wenn das Unsagbare gesagt werden musste.

Musikwissenschaftler haben dagegen der eigenen Sache nicht immer gedient: Sie sprechen aus Gewohnheit ein Publikum an, das ausschließlich aus ihnen selbst besteht, und leiden offenbar unter kultureller Kurzsichtigkeit. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, sträuben sie sich anscheinend dagegen zu untersuchen, auf welch vielfältige Weise die Musik und die verwandten Künste aufeinander einwirken, und sind nicht gewillt, zur Kenntnis zu nehmen, wie die Musik menschliches Erleben spiegelt und voranbringt. Nur sehr selten verknüpfen sie beispielsweise eine bedeutende Gestalt wie Monteverdi mit anderen zeitgenössischen Neuerern, die parallel auf anderen Gebieten arbeiteten, oder stellen die Entwicklung seiner Musik in einen gesellschaftlichen, politischen und geistigen Kontext.

Dieses Buch ist ein Versuch, einiges an diesem Ungleichgewicht richtigzustellen. Ich werde die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie die Musik in dieser Epoche als humanistische Kunstform mit den verwandten Künsten gleichzieht, und darauf, welch entscheidende Rolle Monteverdi in diesem Prozess spielte. War die Musik in der vorausgehenden Epoche noch darauf angelegt, die Gottheit zu spiegeln und ihr zu dienen oder „Sphärenharmonie“ anzustreben, so wird sie nun ein Medium, das bei der Erforschung menschlicher Gemütszustände der Dichtung ebenbürtig ist. Unter all den Musikern seiner Generation stand Monteverdi ganz allein da, als er erkundete, wie menschliche Empfindungen in geordnetem Klang festgehalten und in Kompositionen wie Madrigalen, Motetten oder – noch kühner – in umfangreichen Musikdramen, die den Beginn der Oper bedeuten, eingewoben werden könnten.

Die Bedeutung Monteverdis

Weil ich die längst überfällige Aufmerksamkeit auf einen Musiker lenke, der einmal als der „Schöpfer der modernen Musik“ bezeichnet wurde, nimmt Claudio Monteverdi in diesem Buch eine so zentrale Stellung ein. Die leidenschaftliche Sprache seiner Musik zieht uns hinein und hält uns dadurch in ihrem Bann, dass er den Willen hat, das Irrationale und Unerklärliche, das Stoffliche und das über die Maßen Schöne zu umfassen. Die Schallwellen scheinen sich direkt mit unseren Hörnerven zu verbinden. Es gibt keine Barrieren oder Filter, die das Vergnügen an seiner Musik schmälern. Mehr noch, man hat das starke Empfinden, über die Jahrhunderte hinweg einem wirklichen Menschen zu begegnen – ein Gespräch aufzunehmen, das einen Bogen über die Zeit spannt, und man erlebt eine außergewöhnlich enge Verknüpfung zwischen dem Mann und seiner Musik. Daraus entsteht das seltsame Gefühl, dass er uns direkt und persönlich anspricht.

Nachdem Monteverdi bei der Umorientierung der Zielsetzungen und Techniken der Musik eine Schlüsselrolle spielte, ist es das Ziel dieses Buchs, einem imaginären Sonnensystem, in dem die Musik – insbesondere seine Musik – das Zentrum der Schwerkraft darstellt, einen Spiegel vorzuhalten. Die anderen Gestalten in dieser Siebener-Konstellation, die damals eine so entscheidende Rolle spielten, gleichen den größeren Planeten, die sich auf ihren elliptischen Umlaufbahnen bewegen und sich dabei manchmal nähern, manchmal entfernen. Mein Ziel ist es, einen hoch intensiven Augenblick einzufangen – einen Ausschnitt aus der menschlichen und kulturellen Geschichte der letzten viereinhalb Jahrhunderte.

Historiker sind sich darin einig, dass das Jahr 1600 den Beginn eines Jahrhunderts turbulenter Fortschritte in allen Wissenschaften und Künsten markiert. Es führte zu einer Epoche nie dagewesener Innovation und Veränderung. Für manche Menschen war das damals eine Zeit des Optimismus – der Horizonterweiterung und plötzlichen Befreiung. Für andere hingegen war sie zutiefst beunruhigend: Ihre Befürchtungen liegen der sorgenvollen, einer Jahrtausendwende ähnlichen Stimmung zugrunde, wie sie in einigen von Shakespeares späten Stücken hervortritt: „Die Welt ist aus den Fugen“ [Hamlet, 1.5.205] oder „Kein menschlich Wesen erträgt solch Leid und Grauen“ [König Lear, 3.2.48–49]. Wir finden diese Stimmung auch in John Donnes Gedanken zur Instabilität einer Welt, die jetzt, da der Mensch und die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt verdrängt wurden, nicht nur die Gewissheit ihrer alten Gelehrsamkeit verloren hat, sondern auch ihren innersten ­Zusammenhalt und ihre Verlässlichkeit:

A new Philosophy calls all in doubt,

The Element of fire is quite put out;

The Sun is lost, and th’earth, and no mans wit

Can well direct him where to looke for it.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tis all in pieces, all coherence gone,

All just supply, and all relation.

(Anniversaries, I. 205–08)

Glücklicherweise verfügten damals mindestens drei Persönlichkeiten über den hier angesprochenen „wit“, also die notwendige Klugheit, um sich auf die Suche nach neuen Sinnzusammenhängen zu machen. Das waren Francis Bacon, Johannes Kepler und Galileo Galilei. Man kann sich kaum drei gegensätzlichere Persönlichkeiten vorstellen; doch waren sie gemeinsam in der Lage, mit neuen Denkmodellen gewaltige Sprünge zu vollziehen, die einige der kühnsten naturwissenschaftlichen und künstlerischen Durchbrüche des 17. Jahrhunderts hervorbrachten. Bei Bacon führte das zu einer neuen Methodik für die Festlegung wissenschaftlicher Grundprinzipien – einer Methodik, die das abstruse Herumraten und die Abhängigkeit von den Lehren der Antike ersetzen sollte.

Monteverdi und die Konstellation um ihn herum lebten und strahlten genau in dem Augenblick, als die alten Gewissheiten begannen, in sich zusammenzufallen, und als das nach dem Mittelalter vorherrschende Vertrauen darauf, dass der Mensch in einer sicheren, statischen Welt geborgen ist, durch die Eröffnung des Zugangs zu einer neuen Welt zunehmend ins Wanken geriet. Gleichzeitig führten die Anziehungskraft und die Risiken einer im eigenen Land beheimateten Religion dazu, dass die alte katholische Kirche panisch wurde und (zunächst) nicht in der Lage war, sich dem Problem zu stellen und sich zu reformieren. Wenn wir versuchen, ein Verständnis für diese verwirrende geschichtliche Epoche zu erlangen, in der die Sphären der künstlerischen und der intellektuellen Erkundung so fruchtbar verflochten waren, dann habe ich Hoffnung, dass wir dadurch, dass wir diese Lücken ansprechen und die Musik mit anderen Kunstformen und Wissenschaften in Beziehung setzen, ein gutes Stück damit vorankommen, die kulturelle Landschaft der Zeit auszuleuchten.

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