Was bedrängt oder beflügelt das kirchliche Leben?

Eine Skizze zu drei Zerreißproben für die Kirche

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Natürlich ist es gewagt, in wenigen Worten etwas Konkretes über den momentanen, höchst vielschichtigen Zustand der katholischen Kirche in Deutschland zu sagen. Ich möchte aber nicht akribisch auf dieses oder jenes Symptom verweisen, um es rundum zu analysieren, sondern skizziere eine Art Impression: Was bedrängt (oder beflügelt?) zur Stunde das kirchliche Leben sozusagen subkutan? Gibt es Unterströmungen, die mit der aktuellen Stimmungslage nach oben steigen?

Ich halte die Situation der Kirche hierzulande durchaus für prekär und sehe sie vor Zerreißproben gestellt; aber durch sie bröckelt nicht schon das Fundament. Eher wird es freigelegt, und das kann oder sollte festigende Wirkung zeigen – nicht von heute auf morgen, doch in absehbarer Zeit. Drei solcher Zerreißproben scheinen mir für den Zweck dieses Vortrags erörternswert.

Ursprung und geschichtliche Prägung der Kirche

Im Moment verändert sich die Gesellschaft rasant und tiefgreifend; mit den Umbrüchen wandelt sich die öffentliche Mentalität. Dass Veränderungen grundsätzlich gut sind und dem Empfinden der Betroffenen, in der Regel einer Mehrheit, folgen müssen, gilt als gesetzt. Auf weite Strecken gehen katholische Gläubige mit dem Lebensgefühl ihrer Umwelt, also der Gegenwart, konform. Aber die Kirche, zumal die katholische römischer Prägung, wurzelt in einer ganz bestimmten historischen Epoche. Sie ist über Jahrhunderte geformt und weiß sich ihrem geschichtlichen Erbe verpflichtet. Sie erkennt darin Normativität.

Bekanntlich steht die mediterrane Antike an erster Stelle (die Bedeutung anderer Kulturräume dieser Zeit lasse ich der Einfachheit halber beiseite). Dieses gleichsam „unauslöschliche Siegel“ (Elisabeth Langgässer) wirkt vielgleisig bis heute fort, ob bewusst wahrgenommen oder nicht. Allerdings behaupten gerade die handfesten, wiederholt bestätigten oder neu verfugten Erbstücke von damals nach wie vor ihr Recht. Man denke etwa an die Rolle des römischen pater familias für die Ausgestaltung des ortsbezogenen kirchlichen Amtes oder überhaupt an den Stellenwert hierarchischer Autorität damals, die heute noch den Katholizismus strukturiert, aber auch robust macht.

Antikes Lebensgefühl ist in der katholischen Kirche Institution geworden, die Zerreißprobe damit vorprogrammiert. Das erklärtermaßen Hierarchische passt schwer zum (zumindest noch und hoffentlich nachhaltigen) demokratischen Bewusstsein in unseren Breiten. Und dann die Faszination des „Neuen“: Visionen und Fakten auf dem Feld des Familiären, die starke, medial zelebrierte Betonung weltanschaulicher Autonomie, die Frage nach Gott und seiner Erfahrbarkeit ohne Rücksicht auf institutionelle oder traditionelle Konstituenten.

Wie lässt sich das Herausfordernde innerkirchlich bewältigen? Durch eine evolutive Transformation? Dann müsste dem ungeduldig pochenden Impetus „nach vorn“ Einhalt geboten werden. Oder doch die Revolution? Das hätte weitere Spaltungen zur Folge. Oder hilft die Umsicht paulinischer Färbung – prüft alles und behaltet das Gute (vgl. 1 Thess 5,21)? Aber wer bestimmt, wie geprüft und woran festgehalten wird? Welcher Maßstab bietet sich an? Wie weit dürfen Veränderungen gehen? Oder soll sich die Kirche endlich doch zur „Welt“ bekehren? Die Spannungen sind unübersehbar. Aber das ist die Situation.

Im Übrigen: Auch Jesus war ein Kind der Antike. Kirche entstand, weil man in ihm den Inbegriff des genuin Theologischen sah. Diese Überzeugung wurde exklusiv und inklusiv zugleich verstanden: Nur in Jesus findet sich, was Gott der Welt schlussendlich zu geben hat; aber Jesu Stimme erhebt sich überall auf der Welt und schließt niemanden aus. Mit der antiken Logos-Idee konnte dieser auf Bekehrung und Gnade gegründete Heilsuniversalismus weithin begreiflich gemacht werden, aber heute? Dem monogenetischen Verkündigungsethos des Anfangs steht ein multigenetisches Religionsempfinden gegenüber, eingebettet in einen sozialen und weltanschaulichen Transformationsprozess großen Stils. Wie kann sich der Christusglaube in diesem Kontext artikulieren? Jedenfalls nicht so, dass der biblisch geerdete Jesus in der Kirche sein Stimmrecht verliert und zum mythischen Symbol einer völlig ungebundenen religiösen Heuristik wird.

Die Rolle von Fundamentaloptionen

In der katholischen Kirche sind zusammen mit antiken Institutionen und Denkmustern im engeren Sinn auch Wirklichkeitsauffassungen genereller Art wirksam: grundlegend das Evangelium – und darauf bezogen Philosophien, Optionen, Paradigmen. Ich erinnere an den Plato christianus (Endre von Ivanka), aufbereitet durch das Genie eines Augustinus in antiker Zeit, rezipiert durch andere geniale Geister, etwa durch Blaise Pascal im siebzehnten Jahrhundert. Zwischenzeitlich hatte sich der scholastische Aristotelismus etabliert, welcher zusammen mit Augustins Erbe, wenngleich in einer gewissen Spannung dazu, der offiziellen Lehrrhetorik der Kirche nachhaltigen Schliff verlieh. Auf dieser Basis ist das theologische und anthropologische Profil des Christentums formuliert worden: Der Mensch wurde von Gott wunderbar erschaffen, hat sich aber von Gott entfremdet und kommt durch die Intervention Christi, Gnade genannt, neu und wunderbarer zur Geltung. Eine vermittelnde Rolle nimmt in diesem Gefüge seit dem Ostergeschehen die Kirche als verkündende und glaubensformende Instanz ein.

Indes: Dass die Menschheit insgesamt als eine gewollt, als Ganzes in die Sünde geraten und kraft der Erbsünde dem Untergang geweiht gewesen sei, weil ein Riss durch die Welt ging, dass schließlich der eine Christus alle gerettet habe – mit diesem ausladenden Narrativ wurde inzwischen weitgehend gebrochen. Ob dafür die Abkehr von jedweder Metaphysik, das Ende von Allgemeinbegriffen und ihrem zuvor postulierten Realitätsgehalt oder einfach die Zergliederung der menschlichen ratio in viele pragmatische Rationalitäten verantwortlich zeichnet, kann hier offenbleiben.

Jedenfalls liegt die Kollision eines antik-mittelalterlich geprägten, durchaus meisterlich ausgeworteten Christentums mit einem veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeitsverständnis auf der Hand. Auch katholische Gläubige denken kaum noch systemisch. Aber sie teilen die Mentalität und den Bias-Code einer „aufgeklärten“ Gesellschaft, die freilich, man staune, ganz neue Universalia durch die Medienlandschaft jagt. Stichwort Gnade: So sehr früher um ihr Verständnis gerungen wurde, so gründlich ist das Thema jetzt vergessen, und zwar flächendeckend. Hieß es zuvor: Ohne Gnade kommt niemand zu Gott, gilt jetzt eher andersherum: Der Himmel muss auf Gnade hoffen.

Diese Schubumkehr wurde wohl tatsächlich mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts eingeleitet, als etwa ein Voltaire die bei Pascal verkörperte Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts aufbrach. Für Voltaire gibt es die Barriere der Erbsünde, die nur durch eine metaphysische Großtat als Gnadenbeweis des Gottessohnes zu überwinden war, nicht mehr. Gott ist für ihn reines, selbstverständliches, „tolerantes“ Wohlwollen; niemand muss es erbitten oder gar „erzittern“. Es strahlt bedingungslos von Gott aus und umfängt ohne Bedingungen die Kreatur – wozu dabei die Kirche? Voltaire war gottgläubig, aber das ist kein Allgemeingut mehr. Theologische Überlegungen lassen die Öffentlichkeit inzwischen völlig kalt. Dass es Kirche gibt, so scheint es, wird nur noch registriert, wenn man sich an ihr reibt. Ihr Ruf ist im Keller, es sei denn, man erlebt effektive Sozialarbeit oder findige religiöse Animation als ein Angebot unter vielen anderen.

Ich sehe hier eine weitere große Zerreißprobe für die Kirche in Deutschland (obwohl sich das Phänomen keineswegs auf unser Land beschränkt): Es ist die immer ­tiefer ins allgemeine Empfinden sinkende Weigerung, der Kirche als Institution eine Kompetenz zuzugestehen im Bezug auf Gott. Verschwommene Bilder von ihm, angesiedelt hoch über den Wolken, werden gegen eine als reines Menschenwerk abgetane Hierokratie gestellt. Das Junktim von Himmel und Erde aufgrund von Kirche wird nicht mehr wahrgenommen.

Das Problem fehlender Kohärenz

Eine Zerreißprobe für die Kirche heute und in unseren Breiten liegt wohl auch darin beschlossen, dass der Dialog zwischen Damals und Heute, zwischen Sakral und Profan, zwischen Freiheit und Bindung nicht gelingen mag. Zugleich fehlt es im Denken wie im Handeln vieler Christinnen und Christen, ob sie in amtlicher, kirchlicher Verantwortung stehen oder nicht, an innerer Folgerichtigkeit, an Konsequenz. Die Kirche hat als gestalthaftes Phänomen mehr und mehr das Aussehen und das Gehabe einer Chimäre angenommen. Aber hatte sie eine Wahl? Wie soll sie sich darbieten angesichts der vielen Reibungsflächen einer Gesellschaft im Übergang? Wie wird Kirche erlebt, was ihre Verkündigung, ihr Feiern, ihre Frömmigkeit betrifft? Dazu drei Beispiele, die meines Erachtens zeigen, wie vertrackt die Lage ist. Denn es gibt bezeichnende Divergenzen.

Es divergieren die Rolle des kirchlichen, sakramental verfassten Amtes und der Ruf nach dem Synodalen in neuer Lesart. Hierarchische Muster spielen in demokratische Erwartungen hinein und umgekehrt, ohne dass es zu einem dogmatisch und pragmatisch tragfähigen Ausgleich käme. Entsprechend wächst der Widerstreit. Das Amt wird einerseits eo ipso glorifiziert, andererseits eo ipso verunglimpft; man erklärt es für sakrosankt, dann wieder für zerstörerisch. Zu Recht verurteilen Papst Franziskus und Verantwortliche des Synodalen Wegs in Deutschland das, was sie „Klerikalismus“ nennen. Aber wer die Sache näher besieht weiß, dass solche Auswüchse nicht notwendig aus dem Ordo-Sakrament resultieren, sondern jede Gruppe bedrohen können, ­die gleichsam das Mikrofon hat.

Es divergieren das jahrhundertelang gepflegte Verständnis der kirchlichen, offiziellen Liturgie und das individuelle Feierbedürfnis vieler Christinnen und Christen. Rituale sind durchaus en vogue, ihre Beliebtheit nimmt zu. Familien und Seelsorgepersonal kreieren sie frei und phantasievoll bei sich zuhause oder für Gottesdienste. Das Interesse geht dahin, Empfindungen zu erzeugen und Empfindungen auszudrücken. Diese Erwartung wird auch an die offizielle kirchliche Liturgie herangetragen – und verunklart sie. Was bedeutet zum Beispiel die Eucharistiefeier? Man sieht es ihr immer weniger an: Ist sie hochsakral oder rein pastoral aufzufassen, erheischt sie Ehrfurcht oder spontane Kreativität, hat sie eine angestammte hierarchische Ordnung oder sprengt sie diese auf in Richtung geschwisterlichen Erlebens?

Es divergieren, mein drittes Beispiel, die je persönlichen Kirchengefühle der Gläubigen. Was ist Kirche überhaupt? Eine traditionelle Antwort lautet: Sie ist mater et magistra, Mutter und Lehrerin. Daran stören sich viele. Aber das Zweite Vatikanische Konzil konnte diese Attitüde nicht wirklich überwinden. Hat es die Zeit danach vermocht? Anderseits: Was geht verloren, wenn sich die Kirche mit einem Mal ihres Lehrauftrags zu schämen beginnt? Kirche kann auch, ich erinnere noch einmal an den amtierenden Papst, als eine Art „Feldlazarett“ in Erscheinung treten. Das ist sicher ein legitimes, angesichts der jüngst dokumentierten, schrecklichen Vorfälle notwendiges Bild, und auf diesem Feld braucht es wahrlich Konsequenz.

Der Appell, dass die Kirche „offen“ und „bunt“ sein müsse, hat Hochkonjunktur; was bedeutet er konkret? Wieder treten Divergenzen auf: das durchformte Glaubenssystem hier, die doktrinäre Unbekümmertheit, ja Feindseligkeit dort; Anspruch auf Menschenführung nach einheitlichen Prinzipien hier, der Vorwurf, hoheitsvoll anmaßend alles gleichzuschalten dort; Kirche, die als Mysterium in sich ruht hier, Kirche, die, wenn sie sich nicht dienstbar zeigt, „zu nichts dient“ (Jacques Gaillot) dort.

Es sind eben Zerreißproben, die momentan zu bestehen sind, und die Lage ist prekär.

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