Was wir aus dem Krieg für Gegenwart und Zukunft lernen können

Im Rahmen der Veranstaltung "Der Dreißigjährige Krieg und Parallelen zur Gegenwart", 09.10.2018

Es war ein vergleichsweise harmloses Ereignis, das einen Krieg auslöste, der nicht nur dreißig Jahre gedauert hat, sondern in dem auch etwa ein Drittel der in den Territorien des Hl. Römischen Reichs Deutscher Nation lebenden Menschen den Tod fanden – nicht nur durch unmittelbare Kriegshandlungen, sondern auch infolge von Hungersnöten und Seuchenwellen, die schon bald zu Begleitern der durchziehenden Heere und der Flüchtlingsströme wurden. Das Missverhältnis zwischen dem Prager Fenstersturz und einem Krieg, der ganz Deutschland verheerte, hat seit jeher alle umgetrieben, die sich mit diesem Krieg beschäftigt haben. Man hat deswegen, wie das auch beim Ersten Weltkrieg und dessen Auslösung durch das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau in Sarajewo der Fall war, auf die von dem altgriechischen Historiker Thukydides eingeführte Unterscheidung zwischen „Anlass“ und „Ursache“ zurückgegriffen: der Prager Fenstersturz war bloß der Anlass für einen Krieg, dessen Ursachen, so die These, tiefer lagen, und dann wurden die konfessionelle Spaltung, die Paralyse der Reichsinstitutionen infolge der konfessionellen Konflikte und schließlich die Dominanz radikaler Gruppen innerhalb von Protestantismus und Katholizismus genannt. In der Folge dieser „Erklärung“ des Krieges ist dieser dann als Konfessions- bzw. Religionskrieg begriffen worden. Aber trifft das wirklich zu? – Darum soll es im ersten Teil gehen.

Ein weiteres Problem bei der Betrachtung dieses Krieges besteht in der Beantwortung der Frage, warum der Krieg so unendlich lange gedauert hat und warum es nicht gelungen ist, ihn früher zu beenden – etwa nach dem Sieg des Kaisers und der katholischen Liga in der Schlacht am Weißen Berg über das böhmische Ständeheer im Oktober 1620. Es hätte sich dann um den „böhmischen Krieg“ gehandelt, und für den würden sich heute außer ein paar Spezialisten niemand mehr interessieren. Oder nach dem Lübecker Frieden von 1628, mit dem die Interventionsmacht Dänemark aus dem Krieg ausschied. Oder mit dem Prager Frieden von 1635, als der Kaiser auf dem Höhepunkt seiner Macht und die proprotestantische Interventionsmacht Schweden militärisch am Rande des Abgrunds stand. Der Krieg hat danach noch dreizehn Jahre gedauert, und der Höhepunkt der Verheerung Deutschlands stand noch bevor. Oder anders gefragt: Warum ist keine der großen Schlachten dieses Krieges zur definitiven Entscheidungsschlacht geworden?

Und schließlich ist da noch die Frage, ob wir etwas – und wenn ja, was – aus dem Dreißigjährigen Krieg für die Gegenwart lernen können, seitdem das Religiös-Konfessionelle wieder zu einer Kriegsursache geworden ist? Und vor allem: Können wir etwas aus dem Westfälischen Frieden lernen, der in Münster und Osnabrück über mehr als vier Jahre lang ausverhandelt worden ist und durch den nicht nur der Krieg beendet, sondern zugleich eine grundlegend neue politische Ordnung in Europa geschaffen worden ist? Oder ist die Beschäftigung mit diesem Krieg ein Abtauchen in einen Abschnitt der Geschichte, der definitiv vergangen ist und für den sich nur noch die interessieren, denen die Erforschung der Vergangenheit ein Selbstzweck ist? – Um diese drei Fragen soll es im Folgenden gehen.

 

Warum aus dem Prager Fenstersturz ein verheerender Krieg wurde

 

Beim Prager Fenstersturz ist keiner der „Defenestrierten“ ums Leben gekommen. Der böhmische König Ferdinand hätte also durchaus die Möglichkeit gehabt, mit den Aufrührern zu verhandeln und zu versuchen, eine Lösung zu finden, die beide Seiten zufriedengestellt hätten. Seine Vorgänger Mathias und Rudolf hätten das wahrscheinlich getan – nicht zuletzt deswegen, weil sie nicht die Möglichkeit gehabt hätten, starke Truppenverbände aufzustellen, um sie gegen eine Rebellion in Böhmen einzusetzen. Das war in Ferdinands Fall anders: erstens, weil an der Balkanfront Ruhe herrschte, da das Osmanische Reich sich in Mesopotamien persischer Angriffe zu erwehren hatten und das Gros ihrer Streitkräfte dort im Einsatz war, und zweitens, weil sich die Madrider Linie des Hauses Habsburg, König Philipp III., entschlossen hatte, die Wiener Verwandten in dem Konflikt mit Geld und Truppen zu unterstützen.

Es waren somit zwei Umstände, die es Ferdinand ermöglichten, statt auf Verhandlungen auf Gewalt zu setzen: der Frieden auf dem Balkan und der spanische Entschluss, seine Mittelmeerpläne hintanzustellen und sich stattdessen in Mitteleuropa zu engagieren. Das war eine bemerkenswerte Entscheidung, die einer genaueren Betrachtung bedarf. Spanien war damals der mächtigste Akteur in Europa, wobei die spanische Macht auf zwei Pfeilern beruhte: dem Silber aus der „neuen Welt“ und den in Flandern, der Wallonie sowie Norditalien rekrutierten Regimentern, die seit etwa einem Jahrhundert zu dem Besten gehörten, was in Europa an militärischen Fähigkeiten anzutreffen war. Und während die spanische Linie des Hauses Habsburg – Karl V. hatte das Reich zwischen seinem Sohn Philipp II. und seinem Bruder Ferdinand I. aufgeteilt – über die materiellen Ressourcen für die Position einer europäischen Vormacht verfügte, besaß die deutsche Linie die Legitimität für die Inanspruchnahme dieser Vorherrschaft, da sie seit etwa eineinhalb Jahrhunderten den Kaiser stellte. Über eine solche Zusammenballung von materiellen und ideellen Machtressourcen verfügte kein anderer Akteur.

Aber Spanien hatte ein Problem, und das war der Aufstand in den nördlichen Niederlanden, der nun schon mehrere Jahrzehnte andauerte und den die Spanier nicht niederzuwerfen vermochten. Die Zähigkeit, mit der sich die Niederländer gegen die spanische Weltmacht behaupteten, zehrte an deren Reputation: Offenbar war Spanien doch nicht so übermächtig, wie man geglaubt hatte. Reputation war auch zu Beginn des 17. Jahrhunderts schon eine relevante Währung der „internationalen“ Politik. Reputation sorgte nämlich dafür, dass man nicht ständig auf Zwangsgewalt zurückgreifen musste, sondern dass sich potentielle Widersacher freiwillig fügten. Der Einsatz von Zwangsmitteln war teuer, Reputation hingegen war ein ausgesprochen kostengünstiges Mittel bei der Behauptung eines Vormachtanspruchs. Wir würden heute von „soft power“ (J. Nye) sprechen. Ein Imperium stand umso besser da, je mehr es sich auf seine Reputation verlassen konnte. Als man sich in Madrid zur Unterstützung des Wiener Vetters gegen die Böhmen entschloss, herrschte in den Niederlanden gerade ein Waffenstillstand, mit dessen Folgen die führenden spanischen Politiker unzufrieden waren. Mit Aufständischen einen Waffenstillstand abzuschließen war der halbe Weg zu ihrer Anerkennung als gleichrangiger Akteur.

Die Madrider Entscheidung zur Unterstützung der Wiener Verwandtschaft war also keineswegs so selbstlos, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Das Kalkül der spanischen Politik sah vor, alles zu tun, damit den deutschen Habsburgern kein „zweites Holland“ entstand, und wenn der böhmische Aufstand mit Hilfe spanischen Militärs niedergeworfen würde, was aufgrund der geographischen Verhältnisse sehr viel leichter sein sollte als in den Niederlanden, wo die Aufständischen das Land unter Wasser setzen konnten, um militärische Operationen zu verhindern, würde das auch den Ruf der Unbesiegbarkeit des spanischen Militärs wiederherstellen. Und schließlich konnte man danach eine angemessene Gegenleistung erwarten, und die würde in einem Angriff des Hauses auf die Niederlande bestehen, und dann würde man der Aufständischen Herr werden. Also transferierte man große Summen Golddukaten nach Wien und setzte die besten Regimenter aus Flandern und der Wallonie nach Böhmen in Marsch.

Fassen wir das bislang Gesagte zusammen, so waren es mindestens drei Gründe, die dafür sorgten, dass aus dem antihabsburgischen Aufstand ein Krieg wurde, der das ganze Hl. Römische Reich erfassen sollte. Da war zunächst der Verfassungskonflikt in Prag, der sich um die Frage drehte welche Rechte der König besaß und in welchem Maß er bei der Regierung des Landes auf die Stände Rücksicht nehmen musste oder gar auf deren Zustimmung angewiesen war. Dieser Verfassungskonflikt hatte auch beim Aufstand der Niederlande eine zentrale Rolle gespielt, und er sollte sich ab 1640 in England wiederholen, wo das Parlament in der „bloody revolution“ gegen den König Krieg führte und ihn schließlich hinrichten ließ. Insofern gehört der böhmische Aufstand in die Frühphase der europäisch-atlantischen Revolutionen, in deren Verlauf die Parlamentarisierung der Regierungsmacht durchgesetzt wurde. Was in anderen Fällen zu Revolutionen oder der Verselbständigung von Staaten gegenüber einem Imperium wurde, entwickelte sich in Böhmen zu einem Krieg, der zwar im wesentlichen auf deutschem Boden ausgetragen wurde, aber tatsächlich ein europäischer Krieg war.

Es waren indes nicht nur seine absolutistischen Neigungen, sondern auch seine gegenreformatorischen Vorstellungen, die Ferdinand dazu veranlassten, mit den aufständischen Böhmen nicht zu verhandeln und nach einem verfassungspolitischen Kompromiss zu suchen. Die konfessionelle Aufladung des Verfassungskonflikts, die bereits in den Niederlanden eine Rolle gespielt hatte, sorgte dafür, dass es nicht bei einer Auseinandersetzung zwischen böhmischen Ständen und habsburgischem König blieb, sondern die Aufständischen auf ein Netz protestantischer Unterstützungsmächte zurückgreifen konnten, die den Böhmen den Rücken stärkten, sie mit Geld unterstützten, so dass die über ihr Ständeheer hinaus weitere Truppen anmieten konnten. Das wiederum führte dazu, dass sie sich den spanischen Truppen nicht umgehend geschlagen geben mussten. Aus dem Aufstand wurde ein Krieg. Dies war die zweite Ebene des Krieges, die von Anfang an eine zentrale Rolle spielte: der konfessionelle Konflikt innerhalb Europas, durch den sowohl die Bündnis- als auch die Feindschaftslinien vorgezeichnet waren, was dafür sorgte, dass der Konflikt nicht auf Böhmen beschränkt blieb, sondern von Anfang an zu einem europäischen Konflikt wurde. Freilich war 1618/1619 noch offen, wie viele Akteure in diesen Krieg hineingezogen würden.

Es wäre jedoch falsch, aus dem Umstand, dass dieser Krieg – auch – ein Konfessionskrieg war, zu schlussfolgern, er sei dies gänzlich oder auch nur hauptsächlich gewesen. Das war er keineswegs, und neben der Überlagerung des Verfassungs- und des Konfessionskonflikts spielte bis 1631 (und teilweise auch noch darüber hinaus) eine Rolle, dass die politischen Akteure entscheiden konnten, ob sie den Krieg eher als einen Verfassungs- oder als einen Konfessionskonflikt ansahen. Das spielte vor allem im Fall des sächsischen Kurfürsten eine Rolle, der als Oberhaupt der Lutheraner in Deutschland keineswegs auf Seiten der aufständischen böhmischen Protestanten in den Krieg eingriff, sondern es länger als ein Jahrzehnt mit dem Kaiser hielt. Johann Georg hätte jedoch bestritten, dass er damit de facto für die katholische Seite Partei ergriff und in Abrede gestellt, dass es sich wesentlich um einen Konfessionskrieg handelte. Er sah vielmehr vor allem den Verfassungskonflikt, also den Aufstand des Adels gegen den König, und der war für ihn Widerstand gegen die Obrigkeit. Das aber kam für einen Lutheraner mit Blick auf Römer 13, wo jedermann aufgerufen wird, der Obrigkeit untertan zu sein, denn diese sei von Gott, nicht in Frage. Also hielten es die Sachsen – und in ihrem Schlepptau auch die reformierten Brandenburger lange mit dem Kaiser. Hier gingen die Frontlinien mitten durch die konfessionellen Lager hindurch.

Neben der Ablehnung einer jeden Form von Aufruhr spielte für den sächsischen Kurfürsten indes noch etwas ganz anderes eine Rolle, und das war das Interesse an der Ausweitung seines Herrschaftsgebiets. Johann Georg hatte sein Auge nämlich auf die Ober- und Niederlausitz geworfen und beide Herrschaftsgebiete, die mit den aufständischen Böhmen (wie auch Schlesien und Mähren) ein Verteidigungsbündnis eingegangen waren) sich als Pfand für die Militärhilfe aushändigen lassen. Johann Georg ließ die beiden Lausitzen von seinen Truppen besetzen, strich dort Steuern und Abgaben ein und setzte darauf, beide Gebiete seinem Kurfürstentum eingliedern zu können. Das waren sehr profane Motive, wie man sie im klassischen Staatenkrieg findet, in dem es um Grenzverschiebungen und die Ausweitung eines Herrschaftsgebiets geht.

Diese weitere Ebene des Krieges spielte neben dem sächsischen Kurfürsten auch für Herzog Maximilian von Bayern eine Rolle, der nicht nur an der Übertragung der Kurwürde von dem in Heidelberg residierenden Pfälzer Friedrich auf ihn selbst interessiert war, sondern auch an der Eingliederung der Oberpfalz in das Herzogtum Bayern. Reputationsgewinn und Machtvergrößerung trieben Maximilian an, auch wenn daneben sein gegenreformatorischer Eifer eine wichtige Rolle spielte. Ganz selbstlos stellte er das von Generalleutnant Tilly kommandierte Heer der Liga Ferdinand nicht zur Verfügung, sondern erst, nachdem ihm der 1619 zum Kaiser Gewählte als Gegenleistung den Kurhut und die Oberpfalz zugesagt hatte. Ferdinand sah sich dazu gezwungen, nachdem es den spanischen Truppen nicht gelungen war, die Böhmen zur Schlacht zu stellen und sie zu schlagen. Nicht zuletzt die protestantische Unterstützung der Böhmen, die inzwischen Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz anstelle Ferdinands zum König gewählt hatten, machte diese neuerliche Ausweitung des Krieges erforderlich. Mit ihr war die Ordnung des Reichs zur Disposition gestellt. Von nun an ging es nicht nur um die Verfassung Böhmens, sondern auch um die des Reichs.

So wurden immer neue Konflikte in den Krieg hineingezogen, und je mehr das der Fall war, desto schwieriger wurde es, den Krieg zu beenden. Außer einem Verfassungskrieg, einem Konfessionskrieg und einem Staatenkrieg war der Krieg auch ein Hegemonialkrieg, und er war das spätestens von dem Zeitpunkt an, da Richelieu begriff, dass sich ihm hier die Möglichkeit zur Aufsprengung des Rings der Habsburger um Frankreich bot bzw. dass Habsburg, wenn es in diesem Krieg erfolgreich war, Frankreich endgültig umklammern würde. Mehr und mehr machte er Frankreich zur Kriegspartei, erst mit Subsidien an die Schweden, seit 1635 dann auch mit eigenen Truppen. Die Neuordnung Europas wurde auf deutschem Boden ausgefochten. So wurde der böhmische Aufstand zum europäischen Krieg.

 

Warum der Krieg so lange dauerte

 

Natürlich waren die vier Ebenen, auf denen der Krieg stattfand, einer der Hauptgründe dafür, dass alle Friedensbemühungen ein ums andere Mal scheiterten. Wobei die Vorstellung von den Ebenen des Krieges den Eindruck vermittelt, die Motive und Ziele des Krieges seien voneinander apart gewesen, was aber nicht der Fall war. Sie durchdrangen vielmehr einander, und es lässt sich nicht generell sagen, welches der Motive das ausschlaggebende war. Das lässt sich nur im konkreten Einzelfall abschätzen, und auch da muss man davon ausgehen, dass sich die Bedeutung der Kriegsgründe und Kriegsziele im Kalkül eines politischen Akteurs im Laufe der Zeit verschoben. Diese sich beständig verändernde Gemengelage war einer der Gründe dafür, dass weder der Ausgang einer großen Schlacht, also die Entscheidung über Sieg und Niederlage, noch ein Friedensvertrag zwischen einigen der kriegsbeteiligten Parteien den Krieg beendete.

Die Historiker haben den Dreißigjährigen Krieg als einen aus mindestens vier Kriegen bestehenden Krieg beschrieben: dem böhmisch-pfälzischen Krieg, der trotz der vernichtenden Niederlage der Böhmen am Weißen Berg und der militärischen Erfolge Tillys und seiner spanischen Verbündeten in der Ober- und der Rheinpfalz nicht zu Ende ging, sondern sich im niedersächsisch-dänischen Krieg fortsetzte, als Christian IV. von Dänemark in den Krieg eingriff, wobei er sich auf den Rückhalt der protestantischen Mächte im Nordwesten Europas stützen konnte. Beim Eingreifen des Dänen, der als Herzog von Holstein ein Reichsstand war, spielten ein weiteres Mal unterschiedliche Motive und Ziele eine Rolle: die Verfassungsfrage, die Konfessionsfrage und nicht zuletzt die dänische Position im Machtgefüge von Ost- und Nordsee. So lebte der Krieg wieder auf, und er wurde auf der Gegenseite dieses Mal nicht nur von Tilly, sondern auch von Wallenstein geführt, der für den Kaiser ein gewaltiges Heer aufgestellt hatte. Tilly und Wallenstein zerschlugen Christians Streitkräfte und besetzten Dänemark bis zur nördlichen Küste Jütlands, aber sie waren nicht in der Lage, dem König auf die dänischen Inseln zu folgen oder ihm die Kontrolle der Ostsee, die er mit Hilfe seiner Flotte behauptete, streitig zu machen.

Damit wird eine weitere Ursache für die lange Dauer des Krieges sichtbar: der Umstand, dass keine der großen Schlachten in der Lage war, den Krieg zu entscheiden, weil die je siegreiche Macht nicht die Fähigkeiten besaß, den militärischen Erfolg in uneingeschränkte politische Dominanz umzuwandeln. Wallensteins Siegeszug endete an den Küsten von Ost- und Nordsee, weil er keine Flotte aus dem Boden stampfen konnte, wie er zuvor Heere aus dem Boden gestampft hatte. Zum Symbol für die Grenze von Wallensteins im Landkrieg überlegene Macht wurde die Stadt Stralsund, die der kaiserliche Generalissimus nicht zu erobern vermochte, da sie über See versorgt wurde. Einige Jahre später wiederholte sich das bei dem Schwedenkönig Gustav Adolf, der bis über die Donau vorgestoßen war und die Heere Tillys in großen Schlachten zertrümmert hatte, nun aber nicht auf Wien ins Zentrum der kaiserlichen Macht marschieren konnte, weil er dann seine Versorgungslinien nach Pommern und zur Ostsee überdehnt worden wären. Also führte er einen systematischen Verwüstungskrieg gegen Bayern, um Herzog Maximilian die Mittel zur Fortführung des Krieges zu nehmen, aber das war nur ein weiterer Eskalationsschritt des Krieges, ohne dass damit eine kriegsentscheidende Entwicklung verbunden gewesen wäre. Immer mehr trat im Verlauf des Krieges an die Stelle des anfänglichen Gedankens einer Niederwerfung des Gegners die Strategie der Ermattung, was eine weitere Erklärung für die lange Dauer des Krieges ist.

Das Ausscheiden Christians IV. von Dänemark im Frieden von Lübeck führte nicht zum Ende des Krieges, weil nun der alte Kontrahent der Dänen um die Hegemonie im Ostseeraum, nämlich Schweden, in den Krieg eingriff – der offiziellen Lesart nach, um den Protestantismus in Deutschland zu retten, was für Gustav Adolf zweifellos eine Rolle spielte, aber zweifellos auch, um im Hegemonialkonflikt der beiden Mächte Skandinaviens den Sieg davonzutragen. 1644 haben Schweden und Dänemark dann gegeneinander Krieg geführt, wiewohl beide dem Lutherschen Bekenntnis anhingen. Das zeigt einmal mehr, dass der Dreißigjährige Krieg kein reiner Religionskrieg, sondern immer auch ein Staaten- und ein Hegemonialkrieg war. So begann mit der Landung Gustav Adolfs im Jahre 1630 auf Usedom der schwedische Krieg, der bis zur Schlacht von Nördlingen (1634) dauerte und dann in den schwedisch-französischen Krieg überging. Im Prager Frieden von 1635 unternahm der Kaiser noch einmal den Versuch, den Krieg zu beenden, aber er hatte dabei die Ebene des Hegemonialkriegs außer Betracht gelassen und in religionspolitischer Hinsicht seine eigenen Vorstellungen überzogen, so dass es im Reich einige Fürsten gab, die nur darauf warteten, das zeitweilig unterbrochene Kriegsgeschehen wieder aufnehmen zu können.

Fassen wir zusammen: die Überlagerung unterschiedlicher Kriegsmotive und Kriegsziele in der Gemengelage eines Verfassungs-, eines Religions-, eines Staaten- sowie eines Hegemonialkriegs sorgten dafür, dass sich nach jedem Abschnitt des Kriegsgeschehens immer wieder Gründe fanden, die in der Sicht einiger Akteure gegen die Beendigung und für die Fortsetzung des Krieges sprachen. Erst Max von Trautmannsdorff, dem kaiserlichen Verhandlungsführer in Münster und eigentlichen Architekten des Westfälischen Friedens, gelang es in den sich über mehr als vier Jahre hinziehenden Verhandlungen in Münster und Osnabrück, die Ebenen des Krieges voneinander zu separieren, auf allen Ebenen tragfähige Kompromisse zu finden und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sich diese Kompromisse nicht widersprachen. Aber auch dann wäre die kaiserliche Seite, die sich im Kriegsverlauf lange Zeit auf der Siegerstraße gesehen hatte und sich in den Verhandlungsergebnissen von Münster und Osnabrück zu vielen Zugeständnissen genötigt sah, wohl kaum zu unterschreiben bereit gewesen, wenn nicht die Aussicht auf eine Verbesserung der Kriegslage und damit der eigenen Verhandlungsposition infolge einiger Niederlagen geschwunden wäre. Es war die Erschöpfung aller beteiligten Parteien, die sie schließlich in den Frieden einwilligen ließ.

Was aber hatte dazu beigetragen, dass diese Erschöpfung nicht schon viel früher eingetreten ist und das Kämpfen beendet hat? Betrachtet man den Dreißigjährigen Krieg als einen Krieg, der wesentlich auf deutschem Boden ausgetragen wurde, auch wenn es gelegentlich zur Ausweitung des Kriegsgeschehens auf dänischen, polnischen, ungarischen, italienischen und französischen Boden kam, so fällt auf, dass er von einer offenen und eben nicht einer geschlossenen Kriegsökonomie getragen wurde. Das heißt, der Krieg „ernährte“ sich nicht nur aus den Ressourcen, die im Gebiet der jeweiligen Kriegsschauplätze zu finden waren, sondern wurde über seine gesamte Dauer von außen „angefüttert“. Bei einer geschlossenen Kriegsökonomie wären nach einiger Zeit die Ressourcen zur Weiterführung des Krieges ausgegangen, und der Zustand definitiver Erschöpfung wäre sehr viel früher eingetreten. Tatsächlich aber strömten von Anfang an Gelder und Waffen, Nahrungsmittel und Munition sowie vor allem Soldaten von außen in das Kriegsgebiet ein und sorgten dafür, dass der Zustand des „Ausbrennens“ vorerst nicht eintrat. Der Verfassungskonflikt und der Staatenkrieg um die Zugehörigkeit von Territorien waren die Ebenen des Krieges, die innerhalb des Reichs entschieden werden konnten, aber die Ebenen des Konfessions- und des Hegemonialkriegs hatten europäische Ausmaße und sorgten dafür, dass der Krieg ein europäischer Krieg wurde, der ständig von außen „angefüttert“ wurde.

 

Was wir aus dem Dreißigjährigen Krieg für gegenwärtige und künftige Kriege lernen können

 

Ob man aus der Geschichte grundsätzlich lernen kann, ist eine umstrittene Frage. Sicherlich lässt sich nichts lernen, wenn man die Konstellationen der Vergangenheit schematisch auf die Gegenwart überträgt und dann nach Parallelen sucht. Man muss schon nach strukturellen Mustern und Modellen Ausschau halten bzw. diese durch die Analyse von Konstellationen herausarbeiten, um Ähnlichkeiten beobachten zu können. Dabei ist zu beachten, dass die Methode des Vergleichs nicht mit einer platten Gleichsetzung zu verwechseln ist, denn der Vergleich ermöglicht die Beobachtung von Ähnlichkeiten wie Unterschieden, und letztere sollten nicht unter den Tisch fallen, wenn Ähnlichkeiten entdeckt werden. Ein zentraler Unterschied zwischen dem damaligen Krieg und heutigen Kriegen besteht in der Waffentechnik, der eine ganz andere Vernichtungskraft als früher eigen ist, als die Reichweite der Waffenwirkung auf das unmittelbare Schlachtfeld begrenzt war. Das hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert.

Auf diesen Unterschied konzentriert, fällt auf, dass die Todesraten des Dreißigjährigen Krieges nicht auf die Gefallenen der großen Schlachten beschränkt waren, die nur einen relativ geringen Bruchteil der Toten infolge des Krieges stellten. Bedeutsamer ist die Zahl der Toten, die nicht in der Konfrontation des Militärs entstanden, sondern Folge soldatischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung waren. Je schlechter die Versorgungslage in Deutschland wurde, desto häufiger und intensiver wurde die Ausplünderung der Bauern durch die Soldaten, die Misshandlung der Männer und die Vergewaltigung von Frauen, das Abbrennen der Dörfer und das Abschlachten ganzer Familien. Für die Überlebenden begann der Hunger, nachdem das Zugvieh von den Soldaten geschlachtet oder mitgenommen und das Saatgut verzehrt worden war. Das erhöhte die Zahl der Toten, und schließlich breiteten sich mit den umherziehenden Heeren und den Flüchtlingsströmen Seuchen aus, wie sie die weitgehend stationäre Gesellschaft seit der „großen Pest“ Mitte des 14. Jahrhunderts nicht mehr erlebt hatte. Am Ende des Krieges war die im Reichsgebiet lebende Bevölkerung um ein Drittel geschrumpft.

Das ist die erste Analogie, die wir zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und den „neuen Kriegen“ unserer Zeit beobachten können. Krieg, Hunger und Seuchen, die in der 1648 ausgehandelten „Westfälischen Ordnung“ voneinander getrennt worden waren, haben sich in den „neuen Kriegen“ wieder miteinander verbunden und sind abermals zu einer verheerenden Einheit geworden, zusammen übrigens mit einer intensivierten Gewalt des Militärs gegen die Bevölkerung. Ostkongo, Libyen, Somalia, Jemen sind nur Stichworte für die Beobachtung dessen. Ein zentrales Element der Westfälischen Ordnung war die Beschränkung der Kriegsgewalt auf die Konfrontation der Soldaten, und das ist über lange Zeit bis ins 20. Jahrhundert hinein auch weitgehend gelungen. Das ist inzwischen vorbei. Die neuen Kriege werden ebenso gegen die Zivilbevölkerung geführt wie gegen die militärischen Kräfte des politischen Gegners.

Die Westfälische Ordnung hatte für die Einschränkung des freien Söldnerwesens gesorgt, indem sie die Aufstellung stehender Heere begünstigt hat. Das war die Voraussetzung dafür, dass die Staaten die Herren des Krieges wurden und die an wirtschaftlichen Parametern orientierten Kriegsunternehmer keine Rolle mehr spielten. Auch das ist vorbei, und wir sind seit einiger Zeit mit der Wiederkehr von Warlords konfrontiert, die internationale Märkte für militärische Arbeitskraft geschaffen und zu einer Reökonomisierung des Kriegsgeschehens beigetragen haben. Sie leben vom Krieg – eine Formel, die im Dreißigjährigen Krieg häufig zur Beschreibung der Lage verwendet wurde.

Und dann ist da noch die Wiederkehr der Gemengelage unterschiedlicher Kriegsmotive, in denen sich machtpolitische Ziele mit religiös-konfessionellen Beweggründen sowie das Interesse an Grenzverschiebungen mit der Frage nach der verfassungspolitischen Ordnung eines Staates verbinden. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und den Kriegen im Nahen Osten, in Syrien, Libyen und im Jemen. Das ist die dritte Ähnlichkeit. Solche Kriege, das lernen wir aus dem Vergleich, dauern lange und sind schwer zu beenden, und die Verhandlungen zu ihrer Beendigung sind schwierig und kosten viel Zeit. Und wenn das geschafft ist, gibt es die immensen Kosten für den Wiederaufbau eines völlig zerstörten Landes. Das sind keine schönen Aussichten, doch nur wer sich mit ihnen vertraut gemacht hat, wird in der Lage sein, den auf ihn zukommenden Herausforderungen gewachsen zu sein.

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