Wie originell ist die Bergpredigt?

Eine religionsgeschichtliche Einordnung

Im Rahmen der Veranstaltung Die Bergpredigt, 03.04.2023

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Die Bergpredigt ist zweifellos einer der bekanntesten und wirkmächtigsten Texte des Neuen Testaments. Wie kaum ein anderer wurde und wird dieser Text als Ausdruck der spezifisch jesuanischen Ethik gelesen. Eine solche Leseweise trifft sicher Wesentliches – und muss gleichzeitig unbedingt ergänzt werden. Denn es zeigt sich, dass die Bergpredigt in vielerlei Hinsicht im Dialog mit anderen Texten und Traditionen steht. Sie ist nicht zu verstehen ohne den Kontext jüdischer Traditionen, in die sie eingebettet ist, die sie aufnimmt oder auch weiterschreibt. Darüber hinaus gibt es nichtjüdische Überlieferungen, die in der Bergpredigt ein Echo finden.

Die Seligpreisungen

Schon die Eröffnung der Redekomposition hat mit den Seligpreisungen Vorbilder im Alten/Ersten Testament. So eröffnet das Psalmenbuch in Ps 1 mit der Glückseligpreisung von Menschen, die sich an Gottes Weisungen halten, gerecht im Sinne der Tora handeln und sich nicht in frevlerische und ungerechte Machenschaften verwickeln lassen – und man darf ergänzen: auch wenn diese vielleicht einen schnellen Erfolg oder vordergründiges Glück versprechen. Diesen Menschen wird zugesagt, dass sie ein glückliches Leben führen werden, entsprechend dem weisheitlichen Zusammenhang von Tun und Ergehen: Wer sich gut verhält, dem oder der soll und wird es auch gut ergehen.

Auch nach Ps 41,2f. wird ein ethisch gebotenes, Tora-gemäßes Handeln mit einem glücklichen Leben belohnt: „Selig, wer sich des Geringen annimmt; zur Zeit des Unheils wird der Ewige ihn retten.“ Ähnliches ist in weiteren biblischen wie außerbiblischen frühjüdischen Texten zu finden. So formuliert das nicht kanonisierte Slavische Henochbuch wahrscheinlich im 1. Jahrhundert n. Chr.: „Selig ist, wer den Namen des Herrn fürchtet und immer vor seinem Angesicht dient, und die Gaben aufrichtig ordnet mit Furcht in diesem Leben, und in diesem Leben gerecht lebt und stirbt. (…) Selig ist, wer die Nackten mit einem Gewand bekleidet und dem Hungrigen sein Brot gibt. (…) Selig ist, wer Barmherzigkeit in seinem Herzen hat und Sanftmut im Herzen.“ (SlavHen 42,6.8.13)

In vergleichbarer Weise werden in den Seligpreisungen zu Beginn der Bergpredigt Menschen beglückwünscht, die nach der guten Weisung Gottes, der Tora, bzw. nach der Weisung Jesu, der die Tora vollmächtig auslegt, leben. Konkret: Menschen, die sanftmütig oder barmherzig sind, ein reines Herz haben oder Frieden stiften. Ihnen wird zugesagt, dass sie das Land erben, Erbarmen finden, Gott schauen und Kinder Gottes genannt werden (Mt 5,5.7–9). Ähnlich wie in den alttestamentlichen Seligpreisungen geht es um ein Handeln im Sinne Gottes – und um die guten Folgen, die dies hat. Der Vergleich mit alttestamentlichen und frühjüdischen Texten lässt auch die matthäischen Seligpreisungen im Sinne eines ethisch gebotenen, Tora-gemäßen Handelns verstehbar werden. Sie wollen Menschen zu solchem Handeln ermutigen und darin bestärken, auch wenn vieles dagegen spricht und die Widerstände groß sind.

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die erste Seligpreisung in ethischem Sinne verstehen (Mt 5,3). Menschen, die „arm sind vor Gott“ – wörtlich: „die Armen im Geiste“ – können verstanden werden als solche, die die Haltung von Armen einnehmen und daher mit den Armen solidarisch sind. Ähnlich setzen sich Menschen, die „hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“ (Mt 5,6), aus diesem Hunger und Durst heraus für Gerechtigkeit ein, so dass sich die Lage der Bettelarmen und real Hungernden zum Besseren wendet.

Schon dieser zugegebenermaßen unvollständige Durchgang durch die Seligpreisungen zu Beginn der Bergpredigt zeigt sowohl formale wie auch inhaltliche Parallelen zu alttestamentlichen und außerbiblischen frühjüdischen Texten. Matthäus lässt seinen Jesus die große Rede mit einer Sprachform eröffnen, die seinen Leserinnen und Lesern bekannt ist. Menschen werden glücklich gepriesen, die im Sinne Gottes bzw. im Sinne Jesu handeln. Auch inhaltlich lassen sich zu fast jeder der Seligpreisungen der matthäischen Rede auf dem Berg Parallelen in alttestamentlichen und außerbiblischen frühjüdischen Texten finden.

Eine gewisse Ausnahme bilden die Seligpreisungen der Trauernden und Verfolgten (Mt 5,4.10f.). Hier werden Menschen weder aufgrund einer Tora-gemäßen Haltung noch aufgrund eines Tora-gemäßen Handelns selig gepriesen, sondern weil es ihnen jetzt schlecht ergeht, ihnen jedoch Trost und schlussendliche Freude zugesprochen werden. Diese Stoßrichtung entspricht den Seligpreisungen, wie sie der Evangelist Matthäus in seiner Vorlage in der Spruchquelle Q vorgefunden hat (vgl. Lk 6,20–23). Hier werden real Arme, Hungernde, Trauernde und Verfolgte beglückwünscht, also Menschen, denen es in ihrem Leben schlecht ergeht. Sie dürfen sich freuen, weil Gott sich ihnen zugewandt hat; denn jetzt beginnt die neue Zeit Gottes – das „Reich Gottes“. Diese voraussetzungslose Zuwendung Gottes zu den Menschen, die jetzt nichts zu lachen haben, scheint mir ein Spezificum der vermutlich auf Jesus zurückgehenden Seligpreisungen zu sein.

Darüber hinaus scheint es genau diese inhaltliche Zusammenstellung, wie sie bei Matthäus zu finden ist, in keinem anderen Text zu geben. Auch die Art und Weise, wie die Seligpreisungen die Rede Jesu bei Matthäus eröffnen und eine Grundlage für das Verstehen der folgenden Inhalte schaffen, ist originell, auch wenn sie in ihrer Funktion für das Folgende entfernt an die Eröffnung des Psalmenbuches mit Ps 1 erinnert. In dieser Hinsicht ist es eine großartige theologische Leistung des Matthäus.

Die sogenannten „Antithesen“

Besonders drängend stellt sich die Frage nach der Originalität der Rede auf dem Berg in dem Abschnitt, der gewöhnlich den Titel „Antithesen“ trägt (Mt 5,21–48). Denn auf den ersten Blick grenzt sich der Jesus der Bergpredigt in jedem der Sprüche in dieser Reihe explizit von einem jüdischen Praetext ab und setzt diesem etwas Anderes, Neues entgegen: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist … Ich aber sage euch: …“.

Schon ein zweiter Blick auf den unmittelbar vorangehenden Textabschnitt zeigt allerdings, wie sehr die gesamte Rede Jesu und damit auch diese Spruchreihe explizit in einen jüdischen Kontext eingebettet wird und in diesem Horizont zu verstehen ist: „Denkt nicht, ich sei gekommen, die Tora und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.“ (Mt 5,17) Damit kann es in dieser Spruchreihe also weder um die Aufhebung der Tora noch um eine tatsächliche „Antithese“ gehen, sondern vielmehr um die rechte Auslegung der Tora. Diese erfolgt in der Perspektive unseres Textes „natürlich“ durch Jesus. Doch auch hier stellt sich die Frage: Ist nicht auch diese Auslegung der Tora durch Jesus, wie sie Matthäus vorstellt, bereits in einen jüdischen Diskussionskontext eingebettet? Gibt es für die Auslegung durch Jesus nicht bereits Vorbilder?

Faires Verhalten gegenüber Feinden in der jüdischen Tradition

Exemplarisch lässt sich dies an der letzten der sogenannten Antithesen zeigen, der Feindesliebe (Mt 5,43–48). Die Feindesliebe gilt gemeinhin als besonders typisch für Jesus. Schon in der Frühzeit des Christentums wurde sie als das spezifisch Christliche angesehen, wodurch sich Christinnen und Christen von anderen – insbesondere von Jüdinnen und Juden, aber auch von allen anderen – unterscheiden. So schreibt der Kirchenschriftsteller Tertullian (ca. 160–ca. 220 n. Chr.) um das Jahr 212 aus Anlass einer Verfolgung: „Denn unser Lehrsystem (disciplina) befiehlt uns, auch unsere Feinde zu lieben und zu beten für die, welche uns verfolgen, und darin besteht die uns eigentümliche und vollkommene Güte, die nicht die gewöhnliche ist. Denn die Freunde zu lieben ist Brauch bei allen; die Feinde, nur bei uns Christen allein.“ (Ad Scapulam 1,3)

Wie steht es also um die Originalität des Feindesliebegebots?

Die These, die in Mt 5,43 einleitend vorangestellt wird, bezieht sich auf Lev 19,18: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.“ Matthäus nimmt das Nächstenliebegebot aus Lev 19,18 noch an zwei weiteren Stellen seines Buches auf. Dort zitiert er es jeweils vollständig mit der Näherbestimmung „wie dich selbst“ (Mt 19,19; 22,39). Diese lässt er in Mt 5,43 weg und ergänzt stattdessen: „… und deinen Feind hassen.“

Um einen Anhalt für diese Ergänzung zu finden, wird gelegentlich auf Dtn 23,4–7; Ps 139,19–22; Sir 12,1–6 oder die Gemeinderegel aus Qumran 1QS 1,3f.9f. verwiesen. Dazu kommen außerjüdische vulgärethische Maximen, die besagen, dass man den Freunden Gutes tun solle, den Feinden dagegen möglichst schaden. Als ein frühes Beispiel sei Platons Dialog Menon genannt, in dem dieser Menon die Maxime vorbringt, es sei die Tugend des Mannes, „seinen Freunden wohlzutun, aber den Feinden weh.“ (Menon 71E)

Es ist also gut möglich, dass Matthäus in seiner These solche offenbar verbreiteten Vorstellungen aufnimmt. Es sei allerdings ausdrücklich festgehalten, dass ein explizites und allgemeines Verbot, die Feinde zu hassen, in den alttestamentlichen Schriften an keiner Stelle zu finden ist. Im Gegenteil: Im unmittelbaren Kontext von Lev 19,18 wird sogar ausdrücklich der Hass auf den Mitbürger, der sich vergangen hat, verboten. Dieser ist zwar kein „Feind“, doch auch nicht mehr ungebrochen ein „Bruder“ (Lev 19,17). Ebenso werden Rache oder sonst ein nachtragendes Verhalten untersagt (Lev 19,18a). Stattdessen wird den Angesprochenen empfohlen, die Übeltäter zurechtzuweisen. Unmittelbar darauf folgt das Gebot, den Nächsten zu lieben. Dieser Zusammenhang war dem Schriftgelehrten Matthäus zweifellos gut bekannt.

Matthäus zieht also in seiner letzten „Antithese“ das alttestamentliche Nächstenliebegebot aus Lev 19,18 heran und ergänzt es durch eine vermutlich verbreitete, aber nicht in den maßgeblichen Schriften begründete Maxime, den Feind zu hassen. Gegenüber dieser Maxime lässt er seinen Jesus pointiert Stellung beziehen: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

Damit wird auch das Nächstenliebegebot in dezidierter Weise interpretiert. Allerdings hatte, wie bereits oben erwähnt, schon der unmittelbare Kontext des Nächstenliebegebots in Lev 19,18 gefordert, gegenüber dem Nächsten, der Schuld auf sich geladen hat, keinen Hass zu hegen und damit den Schritt, eine solche Haltung auch gegenüber Feinden zu praktizieren, fast schon vorbereitet.

Explizit in den Blick kommt der Feind in einer Forderung des weisheitlichen Buches der Sprüche, wonach auch dem Feind in einer Notlage Hilfe gewährt werden solle: „Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, hat er Durst, gib ihm zu trinken; so sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt und der Ewige wird es dir vergelten.“ (Spr 25,21f.; vgl. auch Spr 24,17; Sir 10,6; 28,1–6)

Auch in einer Rechtssammlung im Buch Exodus, dem Bundesbuch, wird zur konkreten Hilfeleistung für den Feind aufgefordert, wenn dieser sich in einer Notlage befindet: „Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen. Wenn du siehst, wie der Esel deines Feindes unter seiner Last zusammenbricht, dann lass ihn nicht im Stich, sondern leiste ihm Hilfe!“ (Ex 23, 4f.)

Zwar ist hier nicht wörtlich vom „Lieben“ des Feindes die Rede; doch geht es um konkrete Handlungen, die dem Feind in einer Notsituation zugutekommen sollen. Gefordert ist nicht Liebe im emotionalen Sinne, sondern ein konkretes Tun, das man auch dem in Not geratenen Feind angedeihen lassen soll. Wen man sich unter dem Feind vorstellen soll, wird nicht näher ausgeführt.

Die beiden Texte aus dem Buch der Sprüche und dem Bundesbuch haben einen vielfältigen Nachhall in der frühjüdischen Bibelexegese gefunden. So führt ein Midrasch zu Spr 25,21 den Gedanken weiter und zeigt, wie man durch das positive Tun den Feind sogar zum Frieden bewegen könne: „R. Chama b. Chanina sagte: ›Wenn dein Feind, der dich töten will, hungrig und durstig in dein Haus kommt, gib ihm Speise und Trank, und Gott wird Frie-
den in sein Herz tun.“

Das nicht kanonisierte 4. Makkabäerbuch, das etwa zeitgleich zum Matthäusevangelium und vermutlich ebenfalls in Syrien entstanden sein dürfte, nimmt auf Ex 23,4f. Bezug und zeigt anhand des Beispiels der Hilfe für die Feinde, wie die Urteilskraft die Leidenschaften im Griff habe: „Und haltet das bitte nicht für etwas Paradoxes, wo doch die Urteilskraft mit Hilfe des Gesetzes selbst die Feindschaft zu überwinden vermag. Sie verzichtet darauf, durch Umhauen der Bäume die Kulturpflanzungen der Kriegsgegner zu verwüsten (vgl. Dtn 20,19f.), sie rettet das (verirrte) Vieh der persönlichen Feinde vor dem Zugrundegehen und hilft ihm, wenn es (unter seiner Last) zu-
sammenbricht, wieder auf die Beine.“ (4 Makk 2,9b)

Der jüdische Gelehrte Philo von Alexandria (ca. 10 v. Chr. – nach 40 n. Chr.) widmet in einem Anhang zu seinen Auslegungen der Einzelgesetze einen großen Teil seiner Ausführungen über die Tugenden der Menschenliebe und legt dar, dass diese ein zentraler Grundwert der Gesetzgebung des Mose sei. Zu dieser Menschenliebe gehöre auch das in der Tora gebotene wohlwollende Verhalten gegenüber den Feinden (De virtutibus / Über die Tugenden 109–120). Als einen besonderen Fall zieht er dabei das Beispiel aus Ex 23,5 heran, dass man, „wenn die Esel von Feinden unter dem Druck der Lasten, die sie zu tragen haben, erliegen und niedersinken“ (116), nicht vorübergehen, „sondern ihnen die Last erleichtern und ihnen aufhelfen“ solle (116). Daraus soll man lernen, „dass wir uns über das Unglück unserer Hasser nicht freuen sollen; denn die Schadenfreude ist, wie er wohl wusste, eine Empfindung unversöhnlichen Grolles, verwandt und zugleich entgegengesetzt dem Neid.“ Ein solches Laster ist für Philo mit einem tugendhaften Charakter nicht vereinbar, und tugendhaftes Verhalten ist seiner Ansicht nach auch gegenüber dem Feind an den Tag zu legen. An etwas späterer Stelle des Werkes erinnert er an die Weisheit der Alten, den Feind immer schon als potentiellen Freund zu sehen (151f.) und lässt Mose abschließend zur Nachahmung Gottes aufrufen: „… wenn du ähnliche Wohltaten erweist.“ (168) In seinen Fragen zum Buch Exodus (Quaestiones in Exodum 2,11–12) kennzeichnet Philo die Rückgabe des Tieres als „Liebeswerk“ und lässt dadurch erkennen, dass seine Auslegung vom Nächstenliebegebot in Lev 19,17f. inspiriert ist.

Ähnliche Auslegungen finden sich in zahlreichen weiteren jüdischen Schriften, so beim jüdischen Historiker Flavius Josephus oder in den Testamenten der Zwölf Patriarchen. Die Beispiele zeigen, wie breit die Überzeugung, dass es den Weisungen Gottes entspreche, sich auch dem Feind gegenüber wohlwollend und gütig zu verhalten, seine Notlage nicht auszunutzen – und grundsätzlich, dass es gottverehrenden Menschen nicht gezieme, Böses mit Bösem zu vergelten –, in der jüdischen Tradition verankert ist.

Faires Verhalten gegenüber Feinden in der nichtjüdischen Tradition

Auch in nichtjüdischen Texten finden sich ähnliche Überzeugungen. In unterschiedlichen Kontexten wird die vulgärethische Maxime, dass es geboten sei, den Freunden Gutes zu tun, den Feinden hingegen zu schaden, in Frage gestellt und zu einem alternativen Handeln aufgerufen.

So fordert Cicero (106–43 v. Chr.): „Nicht hören gar soll man auf die, welche die Meinung vertreten, man müsse den Feinden heftig zürnen und das für die Pflicht eines tapferen und hochgesinnten Mannes halten. Nichts ist nämlich lobenswerter, nichts eines großen und ausgezeichneten Mannes würdiger als Versöhnlichkeit und Milde.“ (De officiis 1,25,88)

Der griechische Philosoph Epiktet (ca. 50–138 n. Chr.) sagt gar über den Kyniker: „Schinden lassen muss er sich wie ein Esel und geschunden noch seine Schinder lieben, als Vater aller, als Bruder.“ (Dissertationes III 22,54)

Bei Seneca (1–65 n. Chr.) schließlich heißt es in seinem Buch über die Wohltaten: „›Wenn du die Götter‹, heißt es, ›nachahmst, dann erweise auch undankbaren Menschen Wohltaten; denn auch Verbrechern geht die Sonne auf, auch Seeräubern stehen die Meere offen.‹“ (De beneficiis IV 26,1)(Neuer Wettstein 530f Nr. 18 zu Mt 5,45.)

Die Feindesliebe als das spezifisch Christliche?

Schon diese wenigen ausgewählten Beispiele haben sowohl im jüdischen wie im nichtjüdischen Bereich einige interessante Ähnlichkeiten zum Feindesliebegebot der Bergpredigt zutage gefördert. Zwar fehlt eine wörtliche Parallele zur Formulierung, die Feinde zu „lieben“, und auch die Einkleidung in die Sprachform der „Antithese“ ist so nicht belegt; doch ist die Forderung der Sache nach vielfältig bezeugt. Und die Reihe der Beispiele könnte, wie die umfangreiche Sammlung im Neuen Wettstein zeigt, noch lange fortgesetzt werden. Allerdings zeigt sich beim näheren Hinsehen auch, dass konkrete Argumentation und Zielsetzung jeweils unterschiedlich akzentuiert sein können.

Demnach ist das Feindesliebegebot der Bergpredigt keineswegs einzigartig im Diskursraum der Antike. Es ist vielmehr eingebettet in frühjüdische Diskurse und hat Parallelen in der nichtjüdischen Literatur. Dennoch wiederholt der matthäische Jesus nicht einfach eine allgemeine Überzeugung der Zeit. Denn es hat sich ja ebenso gezeigt, dass es auch gegenteilige Voten gab. Mit dem Feindesliebegebot der Bergpredigt positioniert sich der matthäische Jesus also in dezidierter Weise. Er greift das Nächstenliebegebot des Alten/Ersten Testaments auf und führt es in profilierter Weise weiter, indem er sich in den Diskursen der Zeit auf die Seite derjenigen stellt, die ein wohlwollendes Verhalten auch gegenüber Feinden fordern, und er bringt dies in der Sprachform der Antithese pointiert zum Ausdruck.

Eigenständige Akzente setzt Matthäus auch in der Art und Weise der theologischen Begründung. Die Feindesliebe ist Ausdruck eines Glaubens an den einen Gott, der als Schöpfer seine Wohltaten auch den Bösen und Ungerechten zukommen lässt. Angesichts der jetzt anbrechenden basileia, der Königsherrschaft Gottes oder auch des Himmelreiches, wie es Matthäus ausdrückt, bietet Gott eine neue Heilschance, die für alle gilt, auch für die Sünderinnen und Sünder. Wer sich darauf einlässt, soll und kann in Entsprechung zu dieser grenzenlosen Güte Gottes handeln – er oder sie kann „handeln wie Gott“! Die grenzenlose Güte Gottes hat also ethische Konsequenzen für diejenigen, die sich auf diesen Gott berufen – wobei auch diese Nachahmung Gottes bereits im Buch Leviticus, bezeichnenderweise zu Beginn des für unsere Thematik prägenden Kapitels 19 grundgelegt ist: „Ihr sollt heilig sein, denn ich, der Ewige, euer Gott, bin heilig.“ (Lev 19,2; vgl. auch Lev 20,26; 21,8)

In beiden Texten geht es um eine Grundhaltung der Heiligkeit bzw. Vollkommenheit, die sich an Gottes Verhalten orientiert, sowie um ein Handeln, das aus dieser Haltung entspringt.

Die Bergpredigt inmitten jüdischer Diskurse

Was sich anhand des Gebotes der Feindesliebe gezeigt hat, lässt sich auch an weiteren Texten der Bergpredigt zeigen. So fordert Jesus in der ersten „Antithese“ in seiner Auslegung des Dekaloggebotes „Du sollst nicht töten / morden“: „Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein, und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.“ (Mt 5,21f.) Dazu gibt es eine Parallele im jüdischen Traktat Derech Erez Rabba, dessen Grundbestand aus mischnischer Zeit stammen dürfte. Hier wird Rabbi Elieser ben Hyrkanos, ein Zeitgenosse des Matthäus, so zitiert: „Wer seinen Mitmenschen hasst, siehe, der gehört zu denen, die Blut vergießen.“ (DER 11,14)

In der zweiten „Antithese“ aktualisiert Jesus das Dekaloggebot, nicht die Ehe zu brechen, indem er dem Ehebruch schon im Vorfeld einen Riegel vorschiebt und bereits den begehrlichen Blick von Männern auf Frauen problematisiert (Mt 5,27f.). Die Gefährlichkeit des begehrlichen Blicks wird auch im Testament der Zwölf Patriarchen thematisiert, wenn der scheidende Issachar im Rückblick auf sein Leben über sich sagt: „Außer meiner Frau erkannte ich keine andere; ich hurte nicht durch Erheben meiner Augen.“ (TestIss 7,2)

Das Gebot, keinen Meineid zu schwören, legt Jesus in der vierten „Antithese“ in seiner Aktualisierung so aus, dass man überhaupt nicht schwören solle. Dazu sagt der jüdische Gelehrte Philo von Alexandria in seiner Auslegung des Dekalogs: „Am besten, heilsamsten und vernunftgemäßesten wäre es ja, gar nicht zu schwören, wenn der Mensch bei jeder Aussage so wahr zu sein lernte, dass die Worte als Eide gelten könnten.“ (De decalogo 84) „Wenn aber eine gewisse Notwendigkeit (zum Schwören) zwingt“ (85), zum Beispiel im Rechtswesen, empfiehlt er die zweitbeste ­ Lösung: „wahr zu schwören“ (84) und dabei größte Zurückhaltung und Sorgfalt an den Tag zu legen (84–95).

Zum Gewaltverzicht der fünften „Antithese“ gibt es erschütternde Beispiele gewaltlosen Widerstands von Jüdinnen und Juden gegen römische Willkürmaßnahmen, von denen der jüdische Historiker Flavius Josephus berichtet (Bellum 2,169–174; Antiquitates 18,269–274.284).

Zum Vater Unser, dem Gebet Jesu (Mt 6,9–13), gibt es Parallelen in der jüdischen Gebetstradition, insbesondere im 18-Bitten-Gebet und im Kaddisch, das vermutlich in die Zeit vor 70 n. Chr. zurückreicht. Ähnlich wie zu Beginn des Vater Unsers heißt es hier: „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen geschaffen hat. Er lasse herrschen seine Königsherrschaft in eurem Leben und in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit.“

Auch mit der Vergebungsbitte nimmt das Vater Unser ein geläufiges Thema jüdischer Gebete auf, wie es beispielhaft in der sechsten Bitte des Achtzehngebets zum Ausdruck kommt: „Verzeihe uns, unser Vater, ja, wir haben gesündigt. Vergib uns, unser König, ja, wir haben treulos gehandelt.“

Ebenso gibt es jüdische und nichtjüdische Parallelen zur Goldenen Regel (Mt 7,12), zu den zwei Wegen (Mt 7,13f.) und zu zahlreichen weiteren Aspekten von Jesu Lehre auf dem Berg.

Das alles macht deutlich: Matthäus schöpft aus einer reichen Tradition der jüdischen Schriften und ihrer Auslegung. Matthäus erweist sich in seinem gesamten Werk, aber auch und besonders in der Rede auf dem Berg als ein ausgezeichneter Kenner der Tora, der prophetischen Schriften, der Psalmen und anderer Schriften, die heute zur Bibel gehören. Er kannte vermutlich nicht jede einzelne der anderen Schriften, auf die ich verwiesen habe. Aber diese Schriften sind Ausdruck jüdischer Diskussionen um die Schriftauslegung, die zu seiner Zeit geführt wurden und mit denen er sich auseinandersetzt.

Innerhalb dieser Diskussionen stellt Matthäus seinen Jesus in dieser wohlkomponierten Rede als einen überzeugenden jüdischen Lehrer dar, der gegenüber anderen Schriftinterpretationen seine Auslegung des Gotteswillens vorträgt und dabei durchaus auch pointiert Stellung bezieht. Dabei scheint die Verwurzelung in der jüdischen Tradition und die Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition klarer erkennbar als eine direkte Auseinandersetzung mit außerjüdischen ethischen Positionen. Allerdings ist dabei wiederum zu berücksichtigen, dass die jüdischen Diskussionen nicht völlig unabhängig von nichtjüdischen Diskussionen geführt wurden und umgekehrt.

Wenn wir nach besonderen Akzenten von Jesu Lehre auf dem Berg bei Matthäus suchen, dann scheinen sie mir vor allem in der konkreten Komposition der Rede mit ihrer rhetorischen Gestaltung, in der Art und Weise, wie Jesus inmitten der Diskussionen Stellung bezieht, und vor allem in der Einordnung in die Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes zu liegen. Denn wenn Gottes neue Welt jetzt im Kommen begriffen ist, und wenn Gott sich jetzt den Menschen in besonderer Weise zuwendet, dann kann (und muss) diesem Gottesreich entsprechend gehandelt werden. Wie das geht, entfaltet der matthäische Jesus in seiner Lehre auf dem Berg. Dass dabei nicht alles neu erfunden werden muss, zeigt schon die erstaunliche Tatsache, dass nirgendwo in Mt 5–7 der Begriff „neu“ begegnet – auch nicht im Abschluss der Rede in Mt 7,28f. Dies ist umso erstaunlicher, als in der Markus-Vorlage zu diesen Abschlussversen (Mk 1,22.27) noch von einer „neuen Lehre“ Jesu die Rede gewesen war. Dieser Aspekt findet bei Matthäus keine Aufnahme.

Vielleicht ist es also gar nicht die Absicht des Matthäus, die Lehre Jesu als neu und nie dagewesen zu präsentieren. Vielmehr gilt für den Tora-Lehrer Jesus in viel größerem Maße das, was Matthäus wohl über sich selbst als Schriftgelehrten, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist, schreibt: dass er „aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt“ (Mt 13,52). Neues – ja! Aber der Schatz, das ist der Schatz der Tora und der Propheten, der Schatz der jüdischen Schriften und die Tradition ihrer Auslegung.

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