Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Künstlerinnen und Künstler, liebe Frau Professorin Doberauer, sehr verehrte Frau Professorin Pontoppidan, sehr geehrter Herr Dr. Budde, auf den Maler Henri Matisse geht die Bemerkung zurück, die ich sinngemäß so wiedergeben kann: Jeder bewundert die Blumen in meinen Gemälden, aber niemand betrachtet die Blumen in meinem Garten. Bezogen auf die heutige Ausstellung ließe sich die Bemerkung von Matisse auf ein Bild in dieser Ausstellung im Foyer übertragen, und man könnte fragen: Warum bewundern wir einen gemalten, verdreckten Betonmischer in dem Bild von Lola Cuallado, haben uns aber wohl noch nie für den verdreckten Betonmischer an der nächsten Baustelle interessiert – uns jedenfalls noch nie ästhetisch in seiner Erscheinungsweisen versenkt?
Wenn ich mich an einer Antwort versuche, dann fällt sie wie folgt aus: Vielleicht haben wir ja doch schonmal beispielsweise in der Kindheit den Betonmischer als faszinierend wahrgenommen, dies aber im Lauf des Lebens – irgendwie – vergessen. Fest steht hingegen dies: Alles an dem gemalten Lkw von Lola Cuallado ist als Malerei ausdrücklich gemacht und so gemalt, es ist so, wie es auf der Leinwand steht, und nicht anders. Dieses Ausdrückliche lässt uns näher hinsehen, lässt uns die Dreckspuren nicht einfach nur als Dreckspuren wahrnehmen, sondern als ausgewogenes Gesprenkel, wenn nicht gar als Dripping, als All-over, es lässt uns zudem das Gerüst der Leiter dieses Lkw als Skulptur sehen, die Rillen der Reifen als visuelle Attraktion, das Rostrot der mächtigen Radkappe als differenzierte Peinture. So erkennen wir schließlich auch eine lange Geschichte der Malerei in diesem Bild, die darin gleichsam mitvermalt ist, wir erkennen den sogenannten amerikanischen Foto-Realismus darin wieder, womöglich das Dripping eines Jackson Pollock, die Dingwelt von Malerinnen und Malern wie Konrad Klapheck oder Tatjana Doll. Und wir stellen fest: Was so ein Betonmischer nicht alles an ästhetischen Optionen in sich trägt – wenn eine Malerin wie Lola Cuallado ihn malt.
Und: Wir finden es überhaupt aufregend, dass im Foyer dieser Akademie plötzlich ein Betonmischer parkt, wenn auch nur zur Hälfte. Einen solchen halben Betonmischer haben wir nun tatsächlich noch nie gesehen. Von Lola Cuallado hängt im Vortragsaal übrigens ein weiteres, expressives Bild mit einem Gegenstand der Schwerindustrie – was ist es, ein Förderband?
Bleiben wir noch etwas bei den Bildern in diesem Vortragssaal. Da hängen unter dem Titel Die drei Grazien drei schlanke Hochformate von Donghwan Kim. In seinen Bildern verarbeitet er Elemente aus Bauornamenten, Steinstatuen oder klassischen Gemälden und verbindet sie in Neuinterpretationen mit Menschen und Objekten aus seinem täglichen Leben. Es sind keine Heiligen, keine Nischenfiguren aus religiösen Kontexten, die da in Übergröße in sich versunken sind, sondern junge Leute mit Smartphone und Coffee to go, getaucht in verschattetes Licht, das ihre Gesichter in Dunkel taucht oder in zwei Hälften teilt. Ich würde sagen, das könnten Mitglieder aus allen Gesellschaften dieser Welt sein, ja auch uns selbst könnte der Maler in einem solchen Moment schon einmal so gesehen haben, Donghwan Kim modelliert seine unbekannten Protagonisten malerisch wie ein Bildhauer, womöglich zitiert er kunsthistorische Vorbilder, taucht die Figuren in seltsame, vielleicht nächtliche Monochromie.
Wiederum ein Bild weiter sehen wir eine nun tatsächlich somnambul anmutende Landschaft in dunkler Monochromie. Sie stammt von dem Maler Chenzhong Xu. Das Licht spielt auch in seinem Gemälde eine besondere Rolle, nicht nur wegen der Abwesenheit von Tageslicht in der Darstellung, sondern auch deshalb, weil sich das Licht in den unterschiedlichen Weisen des Farbauftrags, in den malerischen Gesten auf unterschiedliche Arten spiegelt, mit jedem Schritt vor diesem Bild ändert sich dessen Aussehen. Chenzhong Xu sieht die reduzierte Farbigkeit als Angebot der Meditation, spricht von „Seelenfrieden“, man könnte sie auch sehen als Möglichkeit der Abgeschiedenheit (bekanntlich ein Motiv des Philosophen und Theologen Meister Eckhart). Wenn Sie sich fragen sollten, wie es kommt, dass die zweiteilige Landschaft so exakt in die Rahmung der Wand passt, dann lautet die Antwort: Das ist kein Zufall, denn Chenzhong Xu hat es für diese Wand gemalt.
Im denkbaren Kontrast dazu steht die Explosion im Bild von Kun Su direkt daneben, wir können nicht genau erkennen, was da explodiert und sehen doch auf den ersten Blick eine Katastrophe sinnbildlich für die Gegenwart, wir sehen Gewalt, die malerisch mit abstrakten Mitteln und durchaus attraktiv ein Ereignis darstellt, das eigentlich automatisch mit Krieg assoziiert wird.
In der Reihung der Werke sehen wir vier völlig unterschiedliche Zugänge zur Welt und wie diese sich in der Malerei darstellen lässt. Hinter mir an der Stirnwand sehen sie zwei große Hochformate, die erkennbar wiederum für den Ort geschaffen wurden, die aufsteigenden Rauchschwaden von Justus Körtgen, die unheilvoll anmutenden Verschlingungen von Serafina Gmach und, deutlich kleiner im Format über dem Flügel hängend, ein angstvolles Antlitz, gemalt von Christina Reschetnikov, die sich vor allem für die innere Welt der Menschen interessiert. Mit schmutzigen Farben, hässlichen Formen und Experimenten mit Texturen, Techniken und verschiedenen Materialien erzeugt sie düstere Gemälde, die Abneigung und gemischte Gefühle hervorrufen. Zuletzt thematisiert sie ihre Trauer und Angst angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, in dem bereits Mitglieder aus ihrer Familie gefallen sind.
Meine Damen und Herren, vor allem liebe Künstler:innen, Sie sehen es mir hoffentlich nach, dass ich mich mit meinen etwas ausführlicheren Bemerkungen zu einzelnen Werken insbesondere auf solche beschränke, die sich in diesem Vortragssaal und somit in Ihrem Augenschein befinden, dies ganz einfach deshalb, weil Sie meinen Ausführungen etwas näher am jeweiligen Bildgegenstand folgen können und ich Sie nicht allzu sehr ermüde mit meinen eigenen Beobachtungen.
Lassen Sie mich den Bogen nicht allzu weit spannen, aber ich möchte gern auf einige grundsätzliche Befunde der bildenden Kunst in der Gegenwart zu sprechen kommen. Es ist heute nicht mehr völlig selbstverständlich, sich Kunst zunächst einmal frank und frei unter ästhetischen und formalen Aspekten und Kriterien zuzuwenden. Kultur und bildende Kunst sind einem außergewöhnlich heftigem Stresstest ausgesetzt. Dieser Stresstest ist vielschichtig. Er umfasst sämtliche politische Streitfragen der Gegenwart, den Konflikt um die letzte documenta und die aktuellen Kriege sowie die politisch-kulturellen Konflikte, die sich daraus überall auf der Welt ergeben und auch den Kultur- und den Kunstbetrieb sowie die Diskurse darüber überlagern.
Zugleich wird inzwischen eine „Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“ proklamiert – als ob eine Kunst, die sich aus sich selbst generiert und auf sich selbst, ihre ureigenen Mittel besinnt, nicht mehr glaubhaft und relevant sein könnte. Legitime, schlechterdings basale Prinzipien der bildenden Kunst werden in Frage gestellt oder gar aufgegeben. Ich möchte aber festhalten: Kunst, so sie sich denn tatsächlich als Kunst versteht, ist immer schon und unwiderruflich autonom, ihre Sprache ist ästhetisch verfasst, und selbst wenn sie sich mit allen erdenklichen Phänomen, Krisen, Konflikten dieser Welt beschäftigt, bleibt sie in dieser ihrer ästhetischen Verfasstheit eigenständig, autonom, will sagen: Sie kann sich nicht einfach in eine andere kulturelle Sprache übersetzen lassen. Sie ist visuell. Man könnte es auch anders formulieren: Kunst nach dem Ende der Autonomie ist keine Kunst mehr. Und selbst eine Kunst, die sich mit kriegerischen Konflikten wie den aktuellen befasst, bleibt, wenn sie sich als Kunst versteht und nicht als bloßen Aktivismus, autonom, selbstbezüglich, unersetzbar in der Art und Weise, wie sie sich ausdrückt.
Ich verstehe die Kunstakademie als hervorragenden Ort, um die Unverzichtbarkeit und die Unersetzbarkeit dieser ästhetischen Sprache immer wieder der eigenen Zeit gemäß zu entwickeln, zu erproben, auf ihr zu bestehen. Damit wären wir wieder bei der Ausstellung PINXIT mit Malerei von 22 Künstlerinnen und Künstlern aus der Klasse von Professorin Anke Doberauer.
Eine Klassenausstellung ist gewiss nicht zu verwechseln mit einer thematischen Gruppenschau. Eigentlich gilt das Gegenteil: Es geht nicht um thematische Kohärenz, vielmehr sollen möglichst unterschiedlichste Temperamente zum Vorschein kommen. „Die Suche nach formalen und inhaltlichen Lösungen und das Spiel mit der Wahrnehmung der Betrachterinnen verbindet sich in den Arbeiten der jungen Malerinnen mit Fragen nach der aktuellen conditio humana“, heißt es in der Projektbeschreibung.
Jene conditio humana teilt sich in den ausgestellten Werken wie erwähnt auf unterschiedliche Art und Weise mit. Da wären zum Beispiel Farbfeldmalerei: Abstraktion mit figurativen Anspielungen, bisweilen wie der Fenster-Blick
nach draußen.
So von Antonio Sarcinella, er befasst sich mit Phänomen und Begriff des Raums und seiner Beziehung zwischen Innen und Außen. Wechselnde chromatische Konstellationen werden in identischen Kompositionen erprobt.
Räumlichkeit und Struktur sind auch Themen von Paul Graßl, Resultat ist eine fünfteilige Linoldruck-Serie, die von der Parallelperspektive japanischer Bildrollen inspiriert sind, in denen Räumlichkeit ohne Fluchtpunkte
dargestellt wird.
Des Weiteren treffen wir in der Ausstellung immer wieder auf Menschen als Motiv der Malerei, „Motiv“ hier im doppelten Wortsinn gemeint als Sujet wie auch
als Beweggrund.
Leon Kiel führt das Thema „Figur“ zu Selbstdarstellungen auf der Suche nach seiner Identität in Kinderbildern. Fotografien nutzt er als Impuls, um im Malprozess durch veränderte inhaltliche und farbliche Kompositionen und Ausschnitte Unerwartetes seines Ichs zu entdecken.
Benigno Alba Valdés verarbeitet die Themen Krankheit, Schmerzen, Heilung und die Kraft, die aus der Familie und den eigenen Wurzeln resultiert.
Evgenia Shepeleva konzentriert sich auf Erinnerungen und Träume. Sie lässt sich dabei stark von der slawischen Kultur inspirieren, in der die Textilkunst eine wichtige Rolle spielt.
Sofiia Kozoriz arbeitet in diversen Medien, um gemischte Gefühle über den Krieg in ihrer ukrainischen Heimat zu vermitteln – Momente von Heimatverlust.
Sevilay Hannas entfaltet eine Welt von Zerbrechlichkeit, Verletzlichkeit, Schönheit und Hässlichkeit.
Leon Habelt entwirft eine Welt als Bühne und das menschliche Handeln als Schauspiel. In unbestimmten Räumen treten Figuren und Gegenstände auf, die in unklaren Beziehungen zueinanderstehen und isoliert vor sich hin zu existieren scheinen.
Helge Hossfeld befasst sich mit einer Ästhetik des Hässlichen und zeigt Ausschnitte der Welt fotografischer und/oder gedanklicher Vorlagen.
Julija Kalinova berührt in ihren Gemälden die Themen Religion und Heimat.
Bastian Maria Meindl verbindet spirituelle und interreligiöse Ansätze mit heutiger Popkultur.
Anna Wandaller setzt sie sich malerisch wie auch skulptural mit Symbolen von Kultur, Brauchtum und Natürlichkeit auseinander.
Kun Su malt Interieurs in Korrespondenz mit Diego Velazquez, Hans Memling, Jan Vermeer und von deren Alten Meistern beeinflusst.
Schließlich und endlich gibt es dezidiert politische und gesellschaftspolitische Themen:
Ilvie Schlotfeldt thematisiert in einer Multimediaarbeit den Missbrauchsskandal in der Erzdiözese München und Freising von 2022.
Lisa Bahuschewskaja engagiert sich in der belarussischen Protestbewegung gegen Machthaber Aleksandr Lukashenko. An den Protestmärschen gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 nahm sie in Minsk aktiv teil. Für die Ausstellung PINXIT steuert sie unter anderem ihre Arbeit Escape über den zwischen Belarus und Polen gelegenen Bialowieża-Wald bei. Dieser ist seit Ende 2021 für zahlreiche Migrant:innen in der Hoffnung auf den Grenzübertritt in die EU zur gefährlichen Flüchtlingsroute zwischen Polen und Belarus geworden.
Panni Somody beschäftigt sich mit vergangenen und aktuellen Traditionen sowie politischen Ereignissen, insbesondere in ihrer ungarischen Heimat. Künstlerisch bewegt sie sich dabei zwischen bildender und performativer Kunst.
Ich darf damit zum Ende meiner Ausführungen kommen. Sie sehen, die Ausstellung PINXIT ist zeitgenössisch und durchaus krisen- und konfliktorientiert ausgerichtet, will aber unbedingt unter den formalen Kriterien von Malerei betrachtet und begutachtet werden.