Diese 24 Stunden haben die Welt verändert. Der letzte Tag des Jesus von Nazareth ist zweifellos ein entscheidendes Datum der Weltgeschichte. Es sind 24 Stunden voller Dramatik, voller Unrecht und Feigheit, voll von Intrigen und Gewalt.
Die diesjährigen biblischen Tage rücken den letzten Tag Jesu ins Zentrum und widmen sich den Personen und Figuren in den Passionserzählungen. Die vielen Gesichter und Namen im Umfeld der Passion sind wie Brücken: Sie führen ins Geschehen und erzählen ausdrucksstark von den Ereignissen und – vor allen Dingen – von der Bedeutung der letzten 24 Stunden Jesu.
Am Anfang ginge es nun darum, die Bühne des Geschehens auszuleuchten. Vor diesem Hintergrund soll dann der Scheinwerfer – Zug um Zug – auf einzelne Handlungsträger gerichtet werden. Der Blick auf die Vorgänge und Ereignisse stellt eine Verständnisfolie dar, auf der die Konturen der einzelnen Personen deutlich hervortreten.
Der Hintergrund
Zum Zeitpunkt: Alle Evangelien des Neuen Testaments stimmen darin überein, dass Jesus an einem Freitag gekreuzigt wurde. So betont das Markusevangelium: „42 Und als es schon Abend geworden war – es war nämlich Rüsttag, das ist der Vorsabbat –, 43 kam Josef von Arimathäa, ein angesehener Ratsherr, der selbst auch das Reich Gottes erwartete, und er wagte es und ging zu Pilatus hinein und bat um den Leib Jesu.“ (Mk 15,42-43)
Unklar aber ist, ob dieser Freitag der Rüsttag zum Paschafest (I) war oder der Paschatag selbst (II). Das Johannesevangelium (Joh 19,31) datiert den Todestag Jesu in ein Jahr, in dem – im Sinn der ersten Möglichkeit (I) – das Paschafest auf einen Sabbat fiel. Jesus wurde somit am Vortag eines besonders großen Pascha-Sabbats gekreuzigt. Die Synoptiker dagegen vertreten die zweite Möglichkeit (II) und gehen von einer Hinrichtung Jesu am Paschafeiertag selbst aus. Veranschaulichen wir die unterschiedlichen Datierungen des Todestags Jesu anhand einer Grafik. (siehe Grafik 1)
Das Paschafest datiert stets auf den 15. Nisan. Der Monatsname „Nisan“ leitet sich vom Akkadischen ab und bedeutet „Frühjahrsblüte“. Nach dem gregorianischen Kalender beginnt der 30 Tage dauernde Monat Mitte März. Der Vortag – der 14. Nisan – ist der Rüsttag: Die Vorbereitungen für die Paschafeier werden getroffen und am Nachmittag die Paschalämmer für das Paschamahl geschlachtet. Das Paschamahl findet in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan, nach Einbruch der Dunkelheit, statt.
Nach der Darstellung des Johannesevangeliums (I) fällt im Todesjahr Jesu das Paschafest – der 15. Nisan – auf einen Sabbat: „Die Juden nun baten Pilatus, damit die Leiber nicht am Sabbat am Kreuz blieben, weil es Rüsttag war – denn der Tag jenes Sabbats war groß –, dass ihre Beine gebrochen und sie abgenommen würden.“ (Joh 19,31) Somit stirbt Jesus am 14. Nisan, dem Rüsttag zum Paschafest, das in besagtem Jahr ein besonders großer Feiertag war und auf einen Sabbat fiel. Diese Datierung setzt zugleich voraus, dass Jesu Abschiedsmahl kein Paschamahl im eigentlichen Sinn war. Zum Zeitpunkt des regulären Paschamahls (in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan) war Jesus bereits tot.
Dagegen gehen die Synoptiker (II) von der Tatsache aus, dass Jesus mit seinen Jüngern ein Paschamahl feierte. Darauf weist die Aussage der Jünger hin, die Jesus fragen: „Und am ersten Tag der ungesäuerten Brote, als man das Passalamm schlachtete, sagen seine Jünger zu ihm: Wo sollen wir hingehen und das Passamahl für dich bereiten?“ (Mk 14,12) Der synoptischen Chronologie nach wird Jesus – nach Einnahme des Paschamahls – in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan verhaftet und am Nachmittag des 15. Nisan – dem Tag des Paschafests – gekreuzigt. Auch nach der synoptischen Darstellung ist der Todestag Jesu ein Freitag und insofern der Tag vor dem Sabbat (Mk 15,42-43).
Mit den unterschiedlichen Datierungen ist eine jeweils eigene theologische Aussage verbunden. Im Johannesevangelium stirbt Jesus zu der Zeit, in der die Paschalämmer für das Paschamahl geschlachtet werden: am Nachmittag des Rüsttages zum Paschafest, am Nachmittag des 14. Nisan. Schon am Beginn des Evangeliums wird Jesus als Lamm Gottes präsentiert: „Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes!“ (Joh 1,36; ebenso Joh 1,29)
Die synoptische Tradition ist dagegen vom Interesse bestimmt, das letzte Mahl Jesu als ein originales Paschamahl und als Mahl des neuen Bundes darzustellen.
Historisch dürfte eine Hinrichtung Jesu am Paschatag – aus kultischen, religiösen, politischen und gesellschaftlichen Gründen – äußerst unwahrscheinlich sein. Die synoptische Tradition widerspricht sich auch selbst, wenn sie einerseits von der Kreuzigung Jesu am Nachmittag des Paschatags ausgeht, aber andererseits das folgende Wort der jüdischen Autoritäten zitiert: „1 Es waren noch zwei Tage bis zum Paschafest und den Tagen der Ungesäuerten Brote. Und die Hohepriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten. 2 Denn sie sprachen: Ja nicht bei dem Fest, damit es nicht einen Aufruhr im Volk gebe.“ (Mk 14,1-2) Eine Versammlung des Synhedriums, eine römische Gerichtsverhandlung und eine öffentliche Hinrichtung, aber auch die angedeutete Feldarbeit von Simon von Zyrene (Mk 15,21) und der Kauf eines Leintuchs durch Joseph von Arimathäa (Mk 15,46) vertragen sich nicht mit dem Paschatag als Höhepunkt des jüdischen Festjahres. Das Leben in Jerusalem stand dann still. Die Feierlichkeiten konnten, durften und wurden nicht durch einen Prozess und durch eine das kultische Empfinden extrem belastende Hinrichtung gestört. Ebenso macht die in der synoptischen Tradition erwähnte Paschaamnestie nur am Rüsttag des Paschafestes Sinn. Die Freilassung sollte dem Gefangenen ja die Möglichkeit geben, mit seiner Familie das Paschamahl zu feiern. Nach der synoptischen Chronologie war das Mahl (in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan) zum Zeitpunkt der Amnestie (am Vormittag des 15. Nisan) bereits vorüber. Kurzum: Die synoptische Tradition weist doch deutliche Spannungen und Ungereimtheiten auf. Historisch ist der Datierung und Chronologie des Johannesevangeliums zu folgen.
Zum Ort: Der Ort des Geschehens ist Jerusalem. Jesus trifft dort nach einer langen Reise, von Galiläa herkommend, ein. Das Markusevangelium ist bemüht, diesen Weg Jesu hinauf nach Jerusalem als einen Weg in die Erniedrigung und ans Kreuz darzustellen (Mk 8,22-10,52). Die Aktion Jesu im Tempel dürfte den Konflikt verschärft und die jüdischen Autoritäten zu einem Einschreiten und Handeln bewogen haben.
In der Paschawoche und für die Paschafeierlichkeiten kommen gewaltige Pilgerströme in die Stadt. Neben den geschätzten 40.000 Einwohnern Jerusalems wohnen dann bis zu 100.000 Pilger in der Stadt und in den umliegenden Orten. Die Pilger beziehen Privatquartiere und öffentliche Herbergen, wohnen in Zelten und Hütten oder – wie wohl auch Jesus und seine Jünger (Mk 11,12) – in Vororten der Stadt.
Gerade am Rüsttag des Paschafests herrscht in Jerusalem hektische Betriebsamkeit. Das Schicksal eines einzelnen verurteilten Verbrechers dürfte in den Vorbereitungen auf das Fest kaum registriert worden sein. Allenfalls der Kreuzweg Jesu durch die überfüllten Straßen der Stadt wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Dies war durchaus auch eine bewusste Absicht, sollte doch die Hinrichtung und die öffentliche Zurschaustellung des Verurteilten abschreckend wirken. Der bevorstehende Beginn des Paschafestes erklärt die Eile und den überstürzten Prozess: Die Causa sollte schnell und kompromisslos erledigt werden, um die Feierlichkeiten nicht zu stören.
Zum (ungefähren) Verlauf: Die letzten 24 Stunden Jesu dürften wie folgt verlaufen sein: Nach einem Mahl mit seinen Jüngern, das zwar kein originales Paschamahl gewesen ist, aber doch (am Abend des 13. Nisan) im Dunstkreis und in zeitlicher Nähe zum Paschafest stattfand, wird Jesus von der jüdischen Tempelmiliz verhaftet. An der Auslieferung und dem Verrat des Aufenthaltsorts dürfte ein Jünger beteiligt gewesen sein. Die anderen Jünger flohen. Für die Zuverlässigkeit der beiden Aussagen – Verrat und Flucht – spricht das Kriterium der Tendenzwidrigkeit: derart negative Details des Geschehens sind wohl kaum von den Evangelisten erfunden worden. Vielmehr wurden sie – obwohl ernüchternd und belastend – überliefert, weil sie den Tatsachen entsprachen.
In einem informellen Vorverhör unter Vorsitz des Hohepriesters und unter Beteiligung einzelner Mitglieder des Synhedriums werden die Anklagepunkte sondiert. Die Blutgerichtsbarkeit oblag den Römern. Sollte Jesus vor Pilatus der Prozess gemacht werden, mussten die Argumente sorgsam gewogen und präzisiert werden. Religiöse Anklagepunkte dürften die Römer – im Gegensatz zu den jüdischen Autoritäten – kaum interessiert haben. Im Prozess Jesu werden darum auch zunächst religiöse Anklagepunkte vorgebracht, die dann – weil für Pilatus nicht stichhaltig – um politische ergänzt werden. Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes konnte als Angriff auf die Herrschaft Roms verstanden werden. Womöglich wurde an jenem Morgen noch anderen politischen Unruhestiftern der Prozess gemacht: die Erwähnung von Barabbas und zwei Mitgekreuzigten lässt diesen Schluss zu. Wenn es sich dabei um Aufständische handelte (Mk 15,7), könnte die politische Anklage auch auf den Prozess Jesu abgefärbt haben.
Den eigentlichen Urteilsspruch fällt Pilatus. Jesus wird – sollte es für die Hinrichtung eines Provinzialen minderen Rechts überhaupt eines offiziell nachprüfbaren Schuldspruchs bedurft haben – wegen Majestätsbeleidung (crimen laesae maiestatis) verurteilt. Nach den üblichen Praktiken der Geißelung und Verspottung wird Jesus zur Hinrichtungsstätte geführt und dort zusammen mit zwei weiteren Verurteilten gekreuzigt. Es war Freitag, der 14. Nisan des Jahres 30, der Rüsttag zum großen Pascha-Sabbat.
Ungewöhnlich war die Beisetzung des Leichnams Jesu in einem Einzelgrab. Eigentlich sollten die Gekreuzigten zur Abschreckung noch tagelang am Kreuz verbleiben. Die sterblichen Überreste wurden in aller Regel später in einem Massengrab verscharrt. Die Beisetzung Jesu in einem Einzelgrab hat sich der urchristlichen Erinnerung – aufgrund der Besonderheit – fest eingeprägt. Der ungewöhnliche Sachverhalt spiegelt sich in den gebrauchten Verben: Joseph von Arimathäa „wagte es, Pilatus um den Leichnam Jesu zu bitten“ (Mk 15,43). Die Herausgabe des Leichnams war keine Selbstverständlichkeit. Joseph muss um diesen Gunsterweis des Statthalters bitten. Nicht von ungefähr vermitteln die Erzählungen von der Beisetzung einen recht hektischen Eindruck. Es war Freitag, der Rüsttag zum großen Feiertag und Sabbat. Der Beginn der Paschafeierlichkeiten stand unmittelbar bevor. Es blieben nur wenige Stunden, um Jesus noch vor Sonnenuntergang zu bestatten.
Die Personen
Die letzten 24 Stunden Jesu ereignen sich an verschiedenen Handlungsorten. In den Erzählungen der Evangelien treten an den einzelnen Orten des Geschehens verschiedene Personen auf. Eine Übersicht soll veranschaulichen, welche Figuren mit welcher Handlungssequenz in Verbindung stehen. (siehe Grafik 2)
Unter den Personen der Passionserzählungen finden sich kleinere und größere Charaktere, entscheidende Handlungsträger und nur beiläufig erwähnte Anwesende. Bei allen Unterschieden zwischen den Evangelien zeigt sich doch eine bemerkenswerte Kongruenz durch alle Traditionen. Alle Evangelien stimmen größtenteils hinsichtlich der auftretenden Personen in den jeweiligen Handlungssequenzen überein. Im Unterschied etwa zur Geburt Jesu wurden die Ereignisse der Passion Jesu von Augenzeugen direkt verfolgt und tradiert. Schon in den 30er Jahren dürfte ein Ur- oder Kurzbericht des Geschehens vorgelegen haben. Die mündliche Weitergabe und die zunehmend schriftliche Fixierung der Passion Jesu gehen – in einem langen und komplizierten Traditions- und Überlieferungsprozess – Hand in Hand, greifen aufeinander aus und bedingen sich wechselseitig. Vor der Abfassung des Markusevangeliums jedenfalls lag eine schriftliche Fassung der Passion bereits vor. Sie bildete die Grundlage für die theologisch-literarische Bearbeitung und Entfaltung in den einzelnen Evangelien.
Die Regisseure
Jedes Evangelium beleuchtet die auftretenden Personen im Kontext der Passion Jesu anders. Die Zeichnung und Darstellung sind eigen und von der theologischen Konzeption, den Adressaten, den literarischen Fähigkeiten und Schwerpunkten, aber auch von der geistesgeschichtlichen Beheimatung des jeweiligen Evangeliums geprägt. Es geht also – der Gattung und dem Darstellungsinteresse der Evangelien nach – nie nur um eine krude Wiederholung vermeintlich historischer Fakten. Die Geschichte soll lebendig erzählt werden und muss darum entfaltet, übersetzt und auch – rein historisch gesehen – verändert werden. Vier Grundsätze erklären die Form und Art der Darstellung:
(1) Es wäre sicher falsch, die Passionsberichte als unhistorische Erzählungen abzutun. Die komplexe und lange Überlieferungsgeschichte und die erwähnten Details machen deutlich, dass sich die einzelnen Evangelisten sehr wohl auch der Geschichte und den Ereignissen verpflichtet wussten. Gerade auch die konkrete Personen, Namen und Ortsbezeichnungen belegen das durchaus historische Interesse.
(2) Zugleich aber sind alle Evangelien „nachösterlich“ entstanden. Sie setzen den Glauben an die Auferweckung und Erhöhung Jesu voraus. Oder anders: Der Osterglaube prägt die Darstellung der Passion und des Todes Jesu. Er liefert die Farben zur Zeichnung des Geschehens. Die Passion Jesu wird auf Basis der Ostererfahrung theologisch-christologisch gedeutet. Beispiele hierfür wären etwa die Finsternis beim Sterben Jesu, das Zerreißen des Tempelvorhangs oder das Bekenntnis des Hauptmanns. Über die historische Darstellung hinaus sind die Erzählungen an einer theologisch-christologischen Deutung des Geschehens interessiert.
(3) Immer geht es dabei auch um eine Verteidigung Jesu, der ja als Verbrecher verurteilt und gekreuzigt wurde. Der Hauptmann im Markusevangelium, der Schächer im Lukasevangelium, aber auch Pilatus selbst verbürgen sich für die Schuldlosigkeit Jesu. Für die urchristliche Verkündigung sind dies wesentliche Gewährsleute, um Jesus von neutraler oder sogar gegnerischer Seite aus positiv darzustellen.
(4) Schließlich sind die Evangelien stets mit Blick auf die Adressaten verfasst. Die Passion Jesu gewinnt Aufforderungscharakter und zielt auf das Verständnis und das Verhalten der intendierten Leserinnen und Leser. Das Lukasevangelium gestaltet die Passion Jesu als Modell: In der Apostelgeschichte stirbt Stephanus wie Jesus und vergibt seinen Mördern (Apg 7,59-60). Mit der Passion Jesu ist die Aufforderung zur Umkehr (Lk 23,48) oder zum Zusammenhalt der Jünger (Lk 22,32; Joh 19,26-27) verbunden. Die Darstellungsformen sind adressatenorientiert und wenden sich an eine judenchristliche oder reichsrömische Leserschaft: mit der Verwendung alttestamentlicher Traditionen oder pagan-hellenistischer Vorstellungen. Im Einzelnen lassen sich die Schwerpunkte und das theologische Kolorit der jeweiligen Evangelien wie folgt zusammenfassen:
Das Markusevangelium: Schon das älteste Evangelium gibt der Passion Jesu – mit Blick auf die Fragen und Verständnismöglichkeiten der Adressaten – einen eigenen theologischen Sinn und eine ethische Bedeutung. Martin Kähler bezeichnete das Markusevangelium als „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“. In der Tat: Das gesamte Wirken Jesu steht im Zeichen des Kreuzes und der Passion. In keinem anderen Evangelium tritt der Aufruf zur Kreuzesnachfolge so deutlich hervor. Immer wieder kündigt Jesus seine Passion an (Mk 8,31; 9,31; 10,33). Sie wirkt sich auf die Form und Gestaltung der Jüngernachfolge aus: auf die Bereitschaft zum Statusverzicht, zum Tragen des eigenen Kreuzes und zur Nachfolge Jesu im Alltag.
Das Matthäusevangelium: Für judenchristliche Adressaten verwendet das Matthäusevangelium insbesondere alttestamentliche Darstellungsmotive und Bilder: das Beben der Erde, das Öffnen der Gräber oder das Erscheinen Verstorbener im Moment des Todes Jesu (Mt 27,51-53). Deutlich negativ werden die Tat und der Tod von Judas gezeichnet. Auch die Rolle und Beteiligung des jüdischen Volks an der Verurteilung Jesu wird drastisch erweitert. Der Blutruf des Volks (Mt 27,25) gibt sicherlich kein historisches Geschehen wieder, sondern ist von Spannungen mit der jüdischen Gemeinde veranlasst und geprägt.
Positiver dagegen erscheint – als Kehrseite der Medaille – Pilatus: die Unschuldsgeste und die Warnung seiner Frau rücken – zulasten der Juden – den historisch eigentlich Verantwortlichen für den Tod Jesu in ein positives Licht (Mt 27,17-19.24). Um das in der Adressatengemeinde noch im Umlauf befindliche Gerücht vom Leichenraub zu entschärfen, unterstreicht das Matthäusevangelium die Bewachung des Grabes Jesu: Das Gerücht wird als bewusste Intrige entlarvt (Mt 28,11-15).
Das Lukasevangelium: Nur im Lukasevangelium findet der Rangstreit der Jünger im Abendmahlssaal statt (Lk 22,24). Jesus richtet ein Wort an Simon (Lk 22,31-32) und die Klagefrauen auf dem Kreuzweg (Lk 23,28-31). Er verheißt dem reumütigen Schächer das Paradies (Lk 23,43) und stirbt gewaltlos und vergebend. Das Lukasevangelium ist bemüht, die Passion Jesu als Handlungsmodell darzustellen: Die Art, wie Jesus leidet und stirbt, muss Konsequenzen für das Selbstverständnis und in der Lebensführung der Jünger zeitigen.
Das Johannesevangelium: Im Grunde spricht und handelt im Johannesevangelium nicht mehr der historische Jesus, sondern der auferstandene und zum Vater erhöhte Christus. Auch die synoptischen Evangelien nehmen das Leben und Wirken Jesu durch das Prisma des Osterglaubens wahr. Der johanneische Ansatz aber ist noch radikaler und durch und durch von einer christologischen Tiefenwahrnehmung Jesu bestimmt. Die Kreuzigung ist keine Erniedrigung, sondern die Verherrlichung Jesu. Der johanneische Christus leidet eigentlich nicht, sondern thront hoheitlich am Kreuz. Er sorgt für die Mutter und den Jünger und vollendet selbstbewusst seine Sendung: „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30) Die Passion Jesu wird ins Flutlicht des Osterbekenntnisses gerückt und zu einem eindrucksvollen christologischen Glaubensportrait umgestaltet.
Das theologische Kolorit und Aussageinteresse der einzelnen Evangelien bestimmen die Zeichnung der Figuren. So kann es passieren, dass ein und dieselbe Person in jedem Evangelium doch anders erscheint. Bleibt die Darstellung von Pilatus im Markusevangelium noch relativ neutral, erscheint sie im Johannesevangelium wie eine ironisierende Karikatur eines machtlosen Richters: Pilatus sitzt selbst auf der Anklagebank und erkennt die Wahrheit nicht, die in Person Jesu vor ihm steht (Joh 18,38).
Sicherlich ist in den Erzählungen über die Passion Jesu nicht alles aus der Luft gegriffen. Die Traditionen ranken sich um historische Haftpunkte. Die historische Fragestellung aber ist nicht die einzige und für die Evangelien auch nicht die entscheidende. Noch wichtiger sind die Hintergründe und die Bedeutung des Geschehens, das Ergriffensein und das existentielle Begreifen der Adressaten.
Die Bedeutung
Die Personen der Passionsgeschichte erfüllen verschiedene Funktionen. Es ist ein lohnendes Unterfangen, sich von ihnen an der Hand nehmen und in das Geschehen führen zu lassen. Sie sind wie Anker, Brücken und Spiegel für die Leserinnen und Leser.
Die Figuren sind keine Märchengestalten oder Phantasieprodukte. Wer in ihnen nur Erfindungen oder literarische Kondensate sieht, hat ihre Relevanz und Bedeutung noch nicht begriffen. Grundlegend darf angenommen werden, dass sich die Erinnerung an konkrete Personen, Handlungsträger und Zeugen des Geschehens tief in die urchristliche Erinnerung eingegraben hat. Inmitten aller Theologie und Deutung sind die Figuren auch als historische Haftpunkte wahrzunehmen. Wer ihnen folgt, erfährt – grundsätzlich und generell – etwas über das historische Geschehen und den Gang der damaligen Ereignisse.
Das Anliegen der Evangelien erschöpft sich aber nicht im Berichten über Gewesenes. Die Figuren sind eben nicht nur „Geschichte“. Sie sind dazu bestimmt und derart gestaltet, dass die Geschichte lebendig werden kann. Der Leser schaut aus ihrer Perspektive und durch ihre Brille auf die Ereignisse. Insofern fordern sie zum aneignenden Lesen auf: In ihrer Rolle werden die Leserinnen und Leser ein aktiver Teil des Geschehens und können die letzten Stunden Jesu konturreich nachvollziehen.
In den Gesichtszügen der Personen spiegelt sich das leitende Interesse des jeweiligen Evangelisten. Die Figuren repräsentieren und personifizieren den Aussagewillen und die Zielsetzung des Evangeliums. Sie sind Teil der literarischen Strategie: Impulsgeber, Platzhalter, Aktualisierungsauftrag und Handlungsmodell.
Schließlich sind sie – für jene, die mehr haben wollen als historische Informationen oder Kenntnisse über die Situation und Fragen der damaligen Adressaten – auch lehrreiche Spiegelbilder. Ja, man kann sich selbst in diesen Figuren erkennen. Manchmal erschrickt, errötet oder erbleicht man: Wie ähnlich sie einem doch sind! Meine eigene Feigheit verkörpert durch Petrus, meine Wankelmütigkeit dargestellt anhand von Pilatus, die Fassungslosigkeit hallt nach in den Tränen der Frauen beim Kreuz…
Von Martin Walser stammt der Satz: „Man kann, um sich zu begegnen, in den Spiegel schauen, auf alte und neuere Fotos, aber auch in ein Buch. Man begegnet sich da. Lesen ist nicht etwas wie Musikhören, sondern wie Musizieren. Das Instrument ist man selbst.“ Die Figuren der Passionserzählung musizieren mit uns. Man kann sich auf ihnen spielen. Oder anders: Sie bringen im aufmerksamen und hingebungsvollen Leser etwas zum Klingen.