Eine ganz normale Nation?

Deutschland und die Fußballweltmeisterschaft 1954

Im Rahmen der Veranstaltung "Historische Tage 2019", 06.03.2019

Sie werden sich fragen, warum Sie bei dieser Tagung einen Vortrag über Fußball anhören sollen. Gab es zwischen 1945 und 1989 nicht zahlreiche andere Themen, die mehr über diese Zeit aussagen und wichtigere Wendemarken oder Trends verkörpern? Was können Fußball und die Weltmeisterschaft von 1954 dazu beitragen, die frühe Bundesrepublik besser zu verstehen?

Eine Menge, wie ich zeigen möchte. Das Thema meines Beitrages erlaubt ungewöhnliche und interessante Einblicke in viele Bereiche, die Deutschland so kurz nach dem Krieg kennzeichneten. Dazu gehört nicht zuletzt die Frage, welche Rolle damals Nation, Nationalgefühl oder ein aufkommender Nationalismus spielten. Aber auch auf den Alltag, die große Politik und vorherrschende Sorgen wird der Beitrag eingehen.

Vorab eine Erläuterung. Wenn ich von Deutschland spreche, ist die Bundesrepublik gemeint. In der DDR besaß der Titelgewinn der westdeutschen Mannschaft ebenfalls bemerkenswerte Auswirkungen, auch hier erlaubt dieses Ereignis wichtige Einsichten. Doch die Verhältnisse in der DDR unterschieden sich so sehr von denen in der Bundesrepublik, dass ich darauf in der knappen Zeit nicht eigens eingehen kann.

 

Der Titel und die Analysen 50 Jahre später

 

Doch zurück zum Jahr 1954. Am 4. Juli wurde die (west)deutsche Nationalmannschaft in Bern Weltmeister und löste einen Begeisterungstaumel aus, der damals alle überraschte und noch heute fasziniert. Als 2004 der 50. Jahrestag dieses Erfolges gefeiert wurde, erschien eine kaum übersehbare Zahl an Beiträgen in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendungen gingen darauf ein, und der Film Das Wunder von Bern lockte mehrere Millionen Zuschauer in die Kinos.

Immer wieder wurde dabei die Frage diskutiert, wie die damalige Begeisterung zu erklären sei, und übereinstimmend betonten viele Autoren die nationale Bedeutung des Titelgewinns. Am 4. Juli 1954, so die verbreitete Meinung, fand die tatsächliche Gründung der Bundesrepublik statt. Besonders prägnant formulierte diese Position ein Leitartikel der Süddeutschen Zeitung, der fast auf den Tag genau fünfzig Jahre nach dem Endspiel erschien, von einem der beiden Chefredakteure stammte und all die Deutungsmuster enthielt, die zu diesem Thema im Umlauf waren (und noch sind).

Dem Artikel zufolge löste der Titelgewinn ein Wir-sind-wieder-wer-Gefühl aus, das erstmals nach dem Krieg die Möglichkeit bot, sich an einem Erfolg zu berauschen, der quasi gemeinschaftlich erwirtschaftet worden sei. Der Autor beschrieb Jubelfeiern, die zu patriotischen Kundgebungen gerieten, wies den Ereignissen eine staatstragende Bedeutung zu und sah hierin sogar das „wahre Gründungsdatum der Bundesrepublik“, das wichtiger gewesen sei als die Währungsreform, die Verabschiedung des Grundgesetzes und selbst der Fall der Mauer.

Diese Einschätzungen sind verständlich, denn der Titelgewinn zeitigte ganz ungewöhnliche Reaktionen. Den Berichten nach verfolgten fast alle Bewohner der Bundesrepublik – und der DDR – das Endspiel. Die Straßen wirkten wie leergefegt, die wenigen Fernseher – es gab im ganzen Lande gerade einmal 40.000 – waren umlagert, während die übergroße Mehrheit die Übertragung im Radio verfolgte. Der Sieg löste riesigen Jubel aus, und als die Mannschaft am Tage nach dem Endspiel aus der Schweiz zurückkam und mit dem Zug über Konstanz nach München fuhr, waren die Bahnhöfe und deren Umgebung völlig überfüllt, entlang der Strecke standen Hunderttausende. Allein in München haben etwa 400. 000 bis 500.000 Personen die Mannschaft empfangen und zeigten eine Begeisterung, die bis heute schwer zu erklären ist.

Es liegt nahe, darin den Ausdruck eines neuen Nationalismus zu sehen, der nach dem Krieg unterdrückt war und sich jetzt endlich wieder entfalten konnte. Einige Autoren gehen weiter. Sie bezeichnen die Ereignisse vom Juli 1954 nicht nur als nationale Jubelstürme. Für sie hat vielmehr die Mannschaft durch den Titelgewinn „die Verletzungen repariert, die während und nach dem Krieg erlitten wurden“.

Die Spieler hätten nachgeholt, „was den deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, die sich in den Augen der Bevölkerung durch ähnliche Qualitäten ausgezeichnet hatten, verwehrt geblieben war – der gerechte Lohn für Opfermut, Mannschaftsgeist und Bescheidenheit“. Die junge Republik, so eine andere Veröffentlichung, „berauschte sich an sich selbst. Hatte Bern nicht irgendwie den Ausgleich für Stalingrad gebracht?“ Waren die letzten Worte der Rundfunkübertragung – Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! – „nicht die Revanche für den 8. Mai? Und hatte nicht der deutsche Stehaufmann die Geschichte umgebogen, aus dem Zwischenstand in der Stunde Null noch ein 3:2 gemacht?“

Für die diese Deutung spricht, dass die deutschen Zuschauer im Stadion nach dem Abpfiff die erste Strophe der Nationalhymne sangen: Deutschland, Deutschland über alles, die offiziell verboten war. Daran hielt sich keiner. Zu groß war offensichtlich der Wunsch, Deutschland zu feiern und durch den Sieg der Mannschaft an vergangene Größe zu erinnern. Doch diese Deutung greift zu kurz, denn tatsächlich herrschten eine große Sorge vor einem aufkommenden Nationalismus und eine Unsicherheit, wie nationale Gefühle ausgedrückt werden konnten.

 

Nationalgefühl und nationale Symbole

 

Der Deutschland-Uniondienst der CDU/CSU warnte bereits am Montag nach dem Endspiel davor, „nach dem Fußballerfolg in Bern von einem ‚deutschen Fußballwunder’ zu sprechen“. Der große sportliche Erfolg dürfe nicht in nationale Phrasen gehüllt und das Geschehen in der Schweiz so kommentiert werden, als habe das deutsche Volk neun Jahre nach dem Zusammenbruch wieder zu ‚siegen’ verstanden. Ebenso zurückhaltend fielen die offiziellen Gratulationen von Adenauer und Heuss aus, die „lediglich protokollarisch korrekte Glückwunschtelegramme“ formulierten. Diese zeigten ein „zur Schau gestelltes Desinteresse“, da die Regierung glaubte, „sich keine nationale Ekstase leisten zu können“.

Das Absingen der ersten Strophe der Nationalhymne bezeichneten Kommentare übereinstimmend als „mehr oder minder“ gedankenlos – so selbst Eduard von Schnitzler, Chefkommentator der DDR, der ansonsten tatsächliche und vermeintliche Fehlentwicklungen im kapitalistischen Westen begierig aufgriff. Diese zurückhaltenden Beurteilungen werden verständlich, wenn wir die Bemühungen betrachten, nach dem Krieg eine Nationalfahne, eine Hymne und einen nationalen Feiertag zu bestimmen. ‚Normale’ Staaten hatten alle drei Elemente aufzuweisen, doch die Bundesrepublik gehörte nicht zu diesen Staaten. Hier war noch zu bewusst, welchen Missbrauch die Nationalsozialisten mit den nationalen Symbolen betrieben hatten.

Am einfachsten war die Frage nach der Flagge zu lösen. Hieran bestand der größte Bedarf, da der neu gegründete Staat bei offiziellen Anlässen auf eine Nationalfahne angewiesen war. Bereits 1949 entschied sich der Parlamentarische Rat für die Farben Schwarz-Rot-Gold, die auf die deutsche Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts verwiesen und nach heftigem Streit bereits in der Weimarer Republik zur Nationalflagge gewählt worden waren. Bedeutend schwieriger war die Frage nach einem Nationalfeiertag zu beantworten. Welches Ereignis in der deutschen Geschichte war so positiv verlaufen und so wenig umstritten, dass es die ganze Nation, jenseits von Klasse, Religion oder Geschlecht ansprechen konnte? Das war im Kaiserreich nicht gelungen. Hier hatten die Feiern zum Geburtstag des Kaisers oder zum Sieg im Krieg gegen Frankreich (Sedantag) nur einen Teil der Bevölkerung angesprochen. Auch die Weimarer Republik hatte keine überzeugende Antwort gefunden. Es war deshalb ratsam, in dieser Frage vorsichtig vorzugehen, und Gustav Heinemann unterbreitete 1950 den Vorschlag, dafür jeweils den ersten Sonntag im September zu nehmen, um an die erste gemeinsame Sitzung der beiden Bonner Parlamente, des Bundestags und des Bundesrates, zu erinnern. Doch die Mehrheit der Bevölkerung betrachtete einen solchen – etwas konstruierten – nationalen Gedenktag mit einer gewissen Distanz, zumal er nicht in großer Öffentlichkeit gefeiert, sondern im Rahmen einer Staatskundgebung begangen wurde.

Genauso wichtig war die Suche nach einer Nationalhymne, denn zunehmend gab es Staatsbesuche oder andere internationale Kontakte, die eine Hymne erforderten. Diese Kontakte nahmen auch im Sport zu und führten zu kuriosen Lösungen, als etwa 1950 der Hamburger Sportverein in den USA ein Spiel bestritt. Die Gastgeber konnten nicht auf eine Nationalhymne zurückgreifen und spielten deshalb die ‚Nordseewellen’. Bei anderen Gelegenheiten ertönten deutsche Volkslieder oder aktuelle Schlager, die aber spätestens dann keinen Ersatz mehr boten, als die Olympischen Spielen 1952 in Helsinki und Oslo anstanden, an denen erstmals nach dem Krieg wieder deutsche Sportler teilnehmen konnten.

Die zuständigen Vertreter des Nationalen Olympischen Komitees wandten sich deshalb im Mai 1951 an Adenauer und baten um seinen Rat, welches Lied bei einem deutschen Olympiasieg gespielt werden sollte. Adenauer riet zum Deutschlandlied, „da ein anderes Lied im Ausland nicht bekannt“ sei. Kurz zuvor hatte er bei einer Kundgebung in Berlin bereits dazu aufgefordert, dieses Lied zu singen, allerdings nur die dritte Strophe. Das war verständlich, denn das Deutschlandlied wies eine demokratische Tradition auf. Es besaß aber auch eine nationalistische Aussage, da die erste Strophe ‚Deutschland, Deutschland über alles’ stellte und die Nation von der Maas bis an die Memel vereinen wollte. Adenauer forderte deshalb dazu auf, lediglich die dritte Strophe zu singen, die von derartigen Untertönen frei war und sich darauf beschränkte, ‚Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland’ zu fordern. Doch derart feine Unterschiede konnte nicht jeder nachvollziehen. Entsprechend erhoben sich die drei anwesenden Stadtkommandanten nicht von ihren Sitzen, als die Hymne erklang, und im Ausland war eine heftige Reaktion zu verzeichnen.

Als Ausweg gab Theodor Heuss eine neue Nationalhymne in Auftrag, die jedoch nur wenig Zustimmung fand, denn Melodie und Inhalt galten als zu kühl und wenig ansprechend. Zugleich rückten die Olympischen Spiele näher, und Adenauer und Heuss einigten sich schließlich auf die dritte Strophe des Deutschlandlieds. Für die Olympischen Spiele wiederum war in der Zwischenzeit eine andere Lösung gefunden worden. Hier verständigten sich die Verantwortlichen auf ‚Freude, schöner Götterfunke’ aus Beethovens 9. Sinfonie. Doch Außenstehenden, denen die Problematik nicht so vertraut war, fiel es schwer, den Verzicht auf eine Nationalhymne zu verstehen. Als in Oslo die erste Siegerehrung für einen Deutschen anstand, glaubten die verantwortlichen Norweger, durch ein Versehen die falschen Noten erhalten zu haben. Sie setzten die Zeremonie deshalb ab und holten die Siegerehrung vierundzwanzig Stunden später nach, als sie die Bestätigung erhalten hatten, dass Beethovens Melodie tatsächlich die Nationalhymne ersetzte.

 

Begegnungen mit dem Ausland

 

Eine vergleichbare Unsicherheit charakterisierte auch die zunehmenden Reisen von Deutschen ins Ausland. Im Frühjahr 1954, kurz vor der Weltmeisterschaft, bemühten sich niederländische Stellen darum, deutsche Touristen zu gewinnen, und erzielten einen unerwarteten Erfolg. Über die Osterfeiertage reisten mehr als 150.000 Deutsche in die Niederlande, wo sie jedoch nicht nur Begeisterung auslösten. Denn die Straßen waren voll mit deutschen Autos und Bussen, zwischen denen die wenigen holländischen Fahrzeuge wie verloren wirkten. Da auf denselben Straßen und mit derselben Fahrtrichtung im Jahre 1940 Hitlers Wehrmachtkolonnen eingefallen waren, kamen schmerzhafte Erinnerungen auf, der Vergleich mit der wenige Jahre zurückliegenden Invasion lag nahe.

Das Verhalten einiger Deutscher bestärkte die unguten Gefühle, wenn diese gestikulierend auf frühere Wirkungsstätten verwiesen oder erklärten, bei der Sprengung von Hafenanlagen beteiligt gewesen zu sein. Doch die große Mehrheit der Besucher verhielt sich zurückhaltend, während auf holländischer Seite ein erstaunliches Entgegenkommen zu bemerken war. Da die Hotels ausgebucht waren, wurden Privatleute übers Radio gebeten, Zimmer und Betten zur Verfügung zu stellen. Dazu waren genügend Holländer bereit, und deutsche Touristen fanden bei ihnen eine Bleibe.

Diese Zurückhaltung bei nationalen Gefühlen zeigte sich auch daran, dass die Berichterstattung über die Weltmeisterschaft und deren Auswirkungen rasch abklang. Nach wenigen Tagen hatten andere Ereignisse wieder den Vorrang gewonnen. So ging die Süddeutsche Zeitung lediglich am Tag nach dem Endspiel in ihrer Titelseite auf die Weltmeisterschaft und deren Auswirkungen ein, verbannte die Berichte ansonsten in den Sportteil und ging anschließend gar nicht mehr darauf ein – abgesehen von einem kurzen Hinweis auf den Empfang in München, zu dem sich immerhin, wie erwähnt, etwa 500.000 Personen eingefunden hatten. Selbst die Bild-Zeitung befasste sich nur kurz mit der WM und der allgemeinen Begeisterung. Auch in anderen Zeitungen waren keine Beiträge zu finden, welche die Frage der nationalen Identität erörterten oder gar von einem Gründungsdatum des neuen Staates sprachen.

Dazu trug auch bei, dass der Fußball bei weitem nicht die Anerkennung erfuhr, die wir heute kennen. Er war in weiten Teilen der Bevölkerung überaus populär, galt jedoch weiterhin als Arbeitersport, der im Bürgertum wenig Interesse, oft sogar Ablehnung fand. Entsprechend enthielten die ‚seriösen’ Zeitungen zwar Spielberichte, befassten sich ansonsten aber nicht mit diesem Sport. Das galt erst recht für Akademiker, Intellektuelle oder andere Meinungsführer. Bei ihnen gab es Ausnahmen. Doch die Vorstellung, Fußballspieler könnten über den Kreis von Fans und Jugendlichen hinaus als Vorbilder dienen oder gar die Nation einen, waren damals geradezu absurd.

 

Der Kontext

 

Am 3. Juli 1954, dem Tag vor dem Endspiel in Bern, schrieb die FAZ: „Was wir hier erleben, ist in des Wortes echter Bedeutung: Geschichte“. Doch von Fußball war in diesem Artikel nicht die Rede. Sie meinte andere Ereignissen, die damals die Schlagzeilen der Zeitungen bestimmten, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Dazu gehörten vor allem die Auseinandersetzungen über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und der Krieg in Indochina.

Der Wiederbewaffnung hatten die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs bereits 1952 zugestimmt und wollten dazu die Europäische Verteidigungsgemeinschaft gründen. Doch die Zustimmung des französischen Parlamentes stand aus und wurde immer unwahrscheinlicher. Das lag nicht zuletzt am Krieg in Vietnam, wo französische Truppen die Herrschaft über diese Kolonie zurückgewinnen wollten, im Mai 1954 jedoch in Dien Bien Phu eine verheerende Niederlage erlitten. Die Regierung in Paris stürzte, und der neue Ministerpräsident Pierre Mendès-France war am 17. Juni mit nur einem Versprechen angetreten: innerhalb von dreißig Tagen Frieden zu schließen. Dieser war aber weiterhin nicht in Sicht, vielmehr drohten ein Eingreifen Chinas und der USA und damit eine Ausweitung des Krieges.

Vor diesem Hintergrund war eine Zustimmung des französischen Parlaments zur westdeutschen Wiederbewaffnung ausgeschlossen. Das bedeutete für Adenauer einen herben Rückschlag. Zusammen mit den Regierungen in Washington und London versuchte er deshalb, Druck auf Paris auszuüben und gab ein Interview, das am Vortag des Endspiels erschien und großes Aufsehen erregte. Zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft, so Adenauer, gebe es nur eine Alternative: eine eigenständige Bundeswehr. Er fügte gleich hinzu, dass keiner diese Lösung wolle, auch seine Regierung nicht. Doch es war unsicher, was er wirklich beabsichtigte. Entsprechend groß war die Empörung in Frankreich darüber, dass so wenige Jahre nach dem Krieg die deutsche Regierung anscheinend eine eigene Armee forderte.

Zusätzlich zu Wiederbewaffnung und dem Krieg in Indochina gab es zahlreiche andere Themen, die damals die Öffentlichkeit beschäftigten. Dazu gehörten die mehr als 1,5 Millionen Vermissten des Zweiten Weltkrieges, von denen vermutlich die weitaus größte Zahl verstorben war. Doch jeder Einzelne konnte hoffen, dass sein Vater, seine Mutter, seine Geschwister oder Freunde zu den Überlebenden gehörten und vielleicht bald gefunden würden. Ein anderes wichtiges Thema war die verbreitete Armut. Das Wirtschaftswunder hatte eingesetzt und erstaunliche Erfolge gezeigt, die jedoch nur teilweise unten ankamen. Vor allem Witwen, Waisen und Rentner mussten mit sehr geringen Beträgen auskommen. Mit dem Alter kam für viele die Armut.

Weniger Beachtung fanden Kriegsverbrecherprozesse oder das Verfahren um das Konzentrationslager in französischen Struthof im Elsass, das parallel zur Weltmeisterschaft stattfand und dessen Urteile am Freitag vor dem Endspiel ergingen. Diese Prozesse riefen die Schrecken des Krieges und die Verbrechen des Nationalsozialismus in Erinnerung, die nicht einfach vergessen oder verschwiegen werden konnten. Die Zeitungsberichte hierzu blieben allerdings begrenzt, jedenfalls in Deutschland. Die französischen Zeitungen hingegen berichteten ausführlich darüber, in einem auffallend sachlichen Ton. Mehrfach hieß es ausdrücklich, dass nicht Deutschland oder Deutsche insgesamt vor Gericht stünden, sondern einzelne Personen und deren Verhalten.

 

Ein Medienereignis

 

Umso schwieriger ist es, die Begeisterung nach dem Titelgewinn zu erklären. Dagegen sprachen die beschriebene Unsicherheit gegenüber nationalen Gefühlen, die Vielzahl anderer Themen und Probleme, die die öffentlichen Debatten bestimmten, und der geringe Stellenwert des Fußballs, der zwar viele anzog, zahlreiche andere aber abstieß und ungeeignet war, ein Gemeinschaftsgefühl zu stiften. Dieses entstand dennoch und ist vor allem auf ein neuartiges und packendes Medienerlebnis zurückzuführen, das fast die ganze Nation am Radio oder Fernsehapparat einte.

Bei den Übertragungen herrschte eine geradezu unerträgliche Spannung. „Atemlose Stille wechselte mit stürmischem Geschrei, das die Räume zu sprengen drohte, als die entscheidenden Tore fielen. Die Menschen sprangen von ihren Sitzen hoch, warfen die Arme in die Luft, Biergläser fingen auf den Tischen an zu tanzen“ – so einer von vielen derartigen Zeitungsberichten. Diese Begeisterung herrschte in ganz Deutschland, auch in der DDR, setzte sich bei der Heimkehr der Mannschaft fort und beruhte auf mehreren Faktoren. Dazu gehörten der unerwartete Verlauf des Turniers, bei dem die deutsche Mannschaft in der ersten Runde gegen die Ungarn chancenlos war und dennoch das Endspiel erreichte; die ungeheure Anspannung während des Spiels, als sie früh mit zwei Toren zurück lag und ohne Chancen schien; der überraschende Sieg des krassen Außenseiters; ein intensives Gefühl der Gemeinschaft und nicht zuletzt die Möglichkeit, sich als Deutsche endlich wieder unbeschwert über ein Ereignis freuen zu können, das nicht politisch belastet war.

Selbst alte Mütterchen, so ein Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung, „die kaum wissen, wie ein Fußball aussieht, [brechen] beim Anblick einer Fußballmannschaft in Freudentränen aus“. Das war in der Tat schwer zu erklären, denn nicht nur alte Mütterchen brachen in Tränen aus, sondern auch viele andere, die mit Fußball wenig zu tun hatten, über das Spiel kaum etwas wussten und oft nicht einmal wussten, wie die Spieler hießen oder aussahen.

In diesen Bekundungen entlud sich auch ein Gefühl von und ein Bedürfnis nach nationaler Gemeinsamkeit. Viele wollten dabei vernünftig bleiben und warnten vor falschen Zungenschlägen. Doch auch sie konnten der Versuchung nicht ganz widerstehen und bezeichneten etwa das Absingen der Nationalhymne in Bern als nationales Erlebnis. Andere beschrieben „die seit langem in jedem einzelnen von uns schlummernde Sehnsucht, sich mit allen Deutschen aus einem unpolitischen Anlass heraus zu begeistern und zu freuen und endlich einmal wieder zu fühlen, dass wir alle, ohne Rücksicht auf Politik und Konfession, ein Volk sind“. Wieder Andere sahen in dieser Vorstellung eher Grund zur Sorge, wenn sie bei der Rückkehr der Mannschaft „auf die wogende Menschenmenge“ blickten und nachdachten über „Vergangenes und (vielleicht) Zukünftiges, jedoch ohne die Gedanken recht fassen zu können.“ Für einen Moment wussten sie nicht, ob sie sich mitfreuen oder ob ihnen nicht ein wenig bange werden sollte: „Aber dann siegt die Freude.“

Diese Freude war verbreitet, und es sprach wenig dafür, allzu bange zu sein. Denn in der Begeisterung entluden sich kein aufbrausender Nationalismus, sondern die gemeinsam erlebte Spannung und die Teilhabe an einem neuartigen Medienereignis. Wer heute die Reportage von Zimmermann hört oder Berichte in damaligen Zeitungen liest, kennt das Ergebnis des Endspiels und blickt mit großer Distanz darauf zurück. Doch auch er wird er sich der darin übermittelten Spannung kaum entziehen können. Damals war diese viel ausgeprägter, und entsprechend erwähnten Berichte immer wieder eine ‚unerträgliche Spannung’, die nicht nur im Stadion herrschte, sondern auch vor den Fernsehgeräten und Radioapparaten.

Die gemeinsam erlebte und durch Medien erzeugte Spannung war der wohl wichtigste Grund für die überschwänglichen Reaktionen. Ein vergleichbares und zudem politisch unbelastetes Erlebnis hatte es bis dahin nicht gegeben, zumindest nicht für derart viele Menschen. Erst 1954 gab es genügend Radio- und Fernsehapparate, und erst jetzt fand ein Ereignis statt, das sowohl eine äußerst intensive Spannung erzeugte wie auch weitgehend folgenlos blieb. Auf der einen Seite ging es um alles – um den Gewinn der Weltmeisterschaft. Auf der anderen aber stand nichts auf dem Spiel. Die Mannschaft brachte einen Pokal mit nach Hause, doch mit ihrem Sieg erzielte sie keinen Exportrekord, trug nichts zur Debatte über die EVG oder andere Kontroversen bei und löste keines der drängenden politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Probleme. Wie heftig auch immer dieses Erlebnis die Beteiligten ergriff, es hat ihr Leben und die weitere Geschichte der Bundesrepublik nicht weiter verändert.

Hinzu kam eine weitere Neuigkeit: Das Spiel wurde direkt – heute würde man sagen: live – aus der Schweiz übertragen. Diese Form der Übertragung war für viele so ungewöhnlich, dass ein Journalist in Freiburg zu seinem Erstaunen eine Spannung bemerkte, „wie sie 300 km weiter in Bern nicht anders gewesen sein kann“. Genau wie im Berner Stadion würden die Anwesenden bei den entscheidenden Toren von den Sitzen springen – so als befänden sie sich am Ort des Geschehens. Direktübertragungen waren nicht neu und gerade im Sport beliebt. Neu jedoch waren die Kombination von Radio und Fernsehen, die flächendeckende Ausstrahlung, die größere Zahl der Empfangsgeräte und die Übertragung eines Ereignisses, das nicht nur die kleine Gruppe von Fußballbegeisterten, sondern weite Teile der Bevölkerung ansprach, die sich von dem neuartigen Medienerlebnis mitreißen ließen.

Dessen Bedeutung zeigt schon die Zahl der 171 Journalisten aus beiden Teilen Deutschlands und dem Saarland, die eigens zur Weltmeisterschaft in die Schweiz reisten. Darunter befanden sich 132 Vertreter von Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Illustrierten und Magazinen, 22 Fotografen und siebzehn Radio- und Fernsehreporter. Die Übertragung der Fernsehsendungen war Aufgabe der Eurovision, deren erste europäische Sendung am 6. Juni 1954 stattgefunden hatte, und die in den Spielen in der Schweiz ihre Bewährungsprobe sah. Das bedeutete einen technischen Durchbruch, den allerdings in Deutschland wegen der geringen Zahl der Fernsehgeräte nur wenige genießen konnten. Die Sendungen im Radio waren deshalb viel wichtiger. Doch hier war das Interesse an den Spielen der Nationalmannschaft anfangs gering, zumindest nach Meinung der Verantwortlichen. Denn die Radioanstalten übertrugen vom ersten Spiel gegen die Türkei lediglich die zweite Halbzeit, sehr zum Unmut vieler Zuhörer, die sich heftig darüber beschwerten.

Trotz dieser zögerlichen Schritte in die moderne Medienwelt ist festzuhalten, dass die Fußballweltmeisterschaft 1954 das erste Sportereignis war, das weltweit ‚live’ im Radio und in Europa auch an Fernsehapparaten miterlebt werden konnte. Das hatte es bis dahin nicht gegeben, auch nicht jenseits des Sportes. Doch da es in der Bundesrepublik nur die erwähnten wenigen Fernseher gab, konnte nur eine winzige Zahl die Ereignisse auf einem Fernseher verfolgen und sich – im engen Sinne des Wortes – ein Bild davon machen. Andere warteten deshalb am Bahnhof auf Schlachtenbummler, die von den Spielen in der Schweiz nach Hause kamen. Denn diese hatten „das Spielgeschehen mit eigenen Augen verfolgt, sie konnten von den Flanken Fitz Walters und von Toni Tureks Hechtsprüngen“ aus eigener Anschauung berichten. Aus Orten, wo der Fernsehempfang schlecht war, fuhren Busse in andere Städte, um dort die Übertragungen verfolgen zu können. Wo immer ein Empfang möglich war, wuchs der Andrang so sehr an, dass Wirtschaften Berechtigungskarten verteilten und vor Kinos lange Schlangen entstanden, um Einlass zu erhalten.

 

Eine virtuelle Gemeinschaft

 

So entstand eine Gemeinschaft, die wegen ihrer Größe und der Intensität ihrer Gefühle eine neue Qualität besaß und die am besten mit dem Begriff ‚virtuell’ bezeichnet werden kann. Sie war virtuell, weil sie auf einem medial vermittelten Ereignis beruhte, bei dem fast keiner der so Begeisterten persönlich anwesend war und das sie meist nicht einmal auf einem Fernseher oder im Kino mit eigenen Augen verfolgen konnten. Ihnen stand lediglich die Stimme des Radioreporters zur Verfügung, verstärkt durch ihre Vorstellungen und Gefühle.

Wer an dieser Gemeinschaft Anteil nahm, wollte dieses Erlebnis offensichtlich mit anderen teilen – wie Friedrich C. Delius in seiner Erinnerung beschreibt. Als kleiner Junge musste er die Übertragung zuhause alleine hören, lief nach dem Abpfiff sofort auf den Kirchplatz und hoffte, „dass meine Freunde nach dem Ende der Übertragung aus den Haustüren stürmten und andere Leute suchten, um sich und uns als Weltmeister zufeiern“. Anfangs kam keiner, er fühlte er sich wie nackt in seinem „Siegesgefühl, allein unter den niedrigen Ästen der Linden, und wartete ungeduldig, entdeckt zu werden mit meiner blanken, springenden Freude“. Er schämte sich nicht seiner Gefühle, sondern genoss vielmehr den „berauschenden Moment“, aber das Dorf blieb ruhig. Enttäuschung machte sich breit, bis zuerst Erwachsene und dann seine Freunde auftauchten und „wir uns, wie blöde geworden, Wortbrocken wie ‚Weltmeister’ und ‚Deutschland’ und ‚Dreizuzwei’ zuriefen“ und von der „ungewohnten Wucht der Worte“ mitgerissen wurden. Sie kippten, lachten, johlten, und er war „ohne es zu begreifen, der glücklichste von allen, glücklicher vielleicht als Werner Liebrich oder Fritz Walter“.

Der Sog dieser Gefühle und der Wunsch, dazu zu gehören, waren so groß, dass – so Dolf Sternberg – auch die „Unempfindlichsten“ erfasst wurden, die vom Spiel „wenig verstehen und sonst nur ihre eigenen, individuellen Gedanken und Empfindungen hegen“. Jetzt jedoch konnten sie nicht anders, als sich gehen zu lassen und „sogar glücklich darüber zu sein, dass sie nicht ungerührt geblieben sind“.

Doch diese Stimmung verflog in kürzester Zeit. Im Nachhinein drängt sich der Eindruck auf, dass die Bewohner der Bundesrepublik beim Aufwachen verwundert ihre Augen rieben, sich frugen, was passiert war, und über sich selbst staunten. Sie wären noch erstaunter, wenn sie heutige Berichte lesen würden, denen zufolge sie damals eine neue Identität begründeten. Tatsächlich hatten sie eine neuartige Gemeinschaft erlebt, die auf einem spannenden Erlebnis beruhte, das sie vorübergehend faszinierte und zusammenband, aber auch rasch wieder verflog – wie Jahr später bei der Weltmeisterschaft im Jahre 2006. Auch hier fehlte es nicht an Versuchen, der allgemeinen Begeisterung einen Sinn zu geben, und erneut war die Rede von Nationalbewusstsein und nationaler Identität. Diese Elemente mögen eine Rolle gespielt haben. Doch entscheidend war auch jetzt eine durch Medien erzeugte Gemeinschaft, die gekennzeichnet war durch Intensität und Spannung, keine politischen Botschaften verkündete und im Moment des gemeinsamen Erlebens zwar ein intensives Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugte, jedoch rasch verflog und vor allem in Erinnerungen fortlebt.

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