Fünfzig Jahre Pfarrgemeinderat

Biblische Vergewisserungen

Im Rahmen der Veranstaltung "Gute Wahl. 50 Jahre gewählte Pfarrgemeinderäte in Bayern", 28.09.2018

50 Jahre gewählte Pfarrgemeinderäte in Bayern: Das ist eine Erfolgsgeschichte, für die wir dankbar sein dürfen. Dieses Jubiläum darf aber auch ein Anlass sein, innezuhalten, sich über diese Institution der Pfarrgemeinderäte zu vergewissern und tragfähige Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Auch dafür dient diese Veranstaltung.

Die Bibel bietet dafür allerdings weder passgenaue Modelle noch einfache Rezepte. Was wir aber finden können, sind Maximen, die den Blick auf Menschen in der Jesusbewegung und in den frühen Gemeinden prägten und von denen das Miteinander in der Jesusbewegung und in den frühen Gemeinden bestimmt war. Das ist der Grund, auf dem wir bis heute stehen – und daran müssen wir die Art und Weise, wie wir heute Kirche gestalten, messen lassen. Fünf solcher Leitperspektiven seien im Folgenden thesenartig vorgestellt.

 

Kirche gibt es nur, weil es in der Jesusbewegung Frauen und Männer gab, die mit Vollmacht ausgestattet waren und Verantwortung übernahmen

 

Es ist ein Gemeinplatz der historischen Jesusforschung: Jesus hat Männer und Frauen in die Nachfolge gerufen. Charakteristisch für die Jesusbewegung ist es, dass diese Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu mit Vollmacht ausgestattet und zur Verantwortungsübernahme befähigt wurden. Aufbauend auf Thesen des Heidelberger Neutestamentlers Gerd Theißen lässt sich dies an drei Aspekten zeigen.

 

a) Gruppenmessianismus: Jesus hat, so weit wir sehen können, von sich selbst weder als Messias noch als Sohn Gottes gesprochen. Jedoch ist nicht auszuschließen, dass messianische Erwartungen an ihn herangetragen wurden. Dabei lässt sich die interessante Beobachtung machen, dass Jesus diese Erwartungen und Hoffnungen nicht exklusiv auf sich bezogen, sondern sie auf die Jüngerinnen und Jünger übertragen hat. Charakteristisch dafür ist das Wort, dass die Zwölf dereinst auf Thronen sitzen und Israel regieren würden (Mt 19,28//Lk 22,28). Damit wird ihnen eine Hoheitsaufgabe des Messias übertragen, wie dies verschiedentlich in der frühjüdischen Literatur zum Ausdruck kommt (vgl. PsSal 17,26). Dieser »Gruppenmessianismus« bedeutet eine bemerkenswerte Demokratisierung: Die gesamte Gruppe der Nachfolgenden übernimmt messianische Aufgaben.

 

b) Teilhabe an der Verheißung: Im Zentrum der Botschaft und Praxis Jesu stand bekanntlich das im Kommen begriffene Reich Gottes. Jesus war überzeugt, dass Gott bereits das weltgeschichtliche Ruder übernommen hatte und dass sich diese Gottesherrschaft nun mit unaufhaltsamer Macht ausbreitete. Allerdings brachte Jesus diese Gottesherrschaft nicht exklusiv mit seiner Person in Verbindung. Vielmehr verankerte er sie in verschiedenen Kollektiven: bei den Armen (Mt 5,3), den Kindern (Mk 10,14), den Jüngerinnen und Jüngern (Lk 12,32; Mk 4,12; Lk 17,20f) oder auch dem Volk (Mt 8,11). Diese werden als Träger und Repräsentanten der Königsherrschaft Gottes angesehen. Das Kommen der Königsherrschaft Gottes wird demnach als ein Geschehen verstanden, das von Gott her initiiert und ermöglicht wurde, das von Jesus »aufgedeckt« und erfahrbar gemacht wurde und auf das sich nun alle einlassen dürfen und sollen, insbesondere die »Kleinen« und Schwachen. Auch dies bedeutet eine grundlegende Teilhabe aller – eine Demokratisierung.

 

c) Charisma-Teilhabe: Die Evangelien sind sich einig, dass Jesus mit einer besonderen Vollmacht ausgestattet war, die seine Lehre und auch sein Handeln geprägt hat (vgl. Mk 1,22). Dies zog Menschen in seinen Bann und brachte außergewöhnliche Dinge zustande. Allerdings verstand Jesus seine Sendung und seinen Auftrag nicht exklusiv, sondern teilte sie mit den Nachfolgerinnen und Nachfolgern: Er ließ sie an seiner Vollmacht und seinem Charisma partizipieren. Das zeigt sich besonders in den Berufungs- und Aussendungsüberlieferungen: Jesus sendet Jüngerinnen und Jünger nach dem übereinstimmenden Zeugnis der synoptischen Tradition mit einem Auftrag aus, der seinem eigenen entspricht: Wie er selbst sollen sie die Gottesherrschaft ankündigen, Dämonen austreiben und Kranke heilen und werden dazu von ihm mit Vollmacht und Kraft ausgestattet (Mk 3,13–19; Mt 10,1–15; Lk 9,1–6; 10,1–12). Im Blick ist dabei nicht nur der Zwölferkreis, sondern auch eine Gruppe von 72 Jüngerinnen und Jüngern, die in dieser Weise von Jesus ausgesandt werden (Lk 10,1–12). Es zeigt sich: Die mit der Gottesherrschaft verbundene Kraft und Vollmacht bleiben nicht auf Jesus beschränkt, sondern werden auf alle Jüngerinnen und Jünger übertragen. (Voll-)Macht wird geteilt und zur Befähigung aller eingesetzt. Macht ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu, lebensfeindliche Mächte (Dämonen) zu vertreiben, das Heilwerden von Menschen zu ermöglichen, Grenzen zu überschreiten und viele an einen Tisch zu bringen. Im Mittelpunkt steht dabei das umfassende Wohl der Menschen. So entstehen Räume, in denen Neues möglich wird: Ermöglichungsräume.

 

Für die Fragestellung des heutigen Tages ist dies in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung.

 

a) Die Jesusbewegung ist von ihrem innersten Anliegen her geprägt durch Teilen von und Teilhabenlassen an Macht. Jesus wird gezeichnet als einer, der sein Charisma, seine Vollmacht und seine Botschaft mit anderen teilt und der andere befähigt, daran teilzuhaben und das Gleiche zu tun wie er selbst. Dies gilt nicht nur für einige Auserwählte, sondern für viele, wie das Motiv der Aussendung der 72 Jüngerinnen und Jünger zeigt (Lk 10,1–12).

b) Genau hierin ist der Ursprung der Kirche und des Kirchengedankens zu suchen. Weil es diese mit Vollmacht ausgestatteten Menschen gab, die das Leben Jesu teilten, mit ihm unterwegs waren, verkündeten und heilten, und weil die Gottesherrschaft nicht exklusiv mit der Person Jesu verbunden war, konnte dieses messianische Kollektiv den Tod Jesu überstehen und tragfähige Zukunftsperspektiven entwickeln. Die Ostererscheinungen konnten als Beginn der von Jesus verheißenen endzeitlichen Wende interpretiert werden. Die messianische Aufgabe, die von Jesus in die Hände der Gruppe gelegt worden war, konnte von dieser Gruppe weitergetragen werden.

Darin, dass es bevollmächtigte und in dieser Vollmacht handelnde Frauen und Männer gab, die die Verkündigung Jesu und das gemeinsame Reich-Gottes-Projekt weitertrugen, liegt demnach eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass es Kirche überhaupt gibt. Dabei ist die zu beobachtende Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit dieser Menschen keine Selbstanmaßung, sondern hat ihren Grund im Selbstverständnis Jesu und in seiner Botschaft und Praxis.

Diese Verantwortlichkeit vieler gilt es auch in heutigen kirchlichen Strukturen wirksam werden zu lassen: Kirche muss dadurch geprägt sein, dass (Voll-)Macht geteilt wird, dass es Teilhabe vieler an Entscheidungsprozessen gibt, dass es transparente Strukturen und Kontrollgremien gibt und dass es demokratische Institutionen wie Räte geben muss, in denen viele verschiedene Menschen Verantwortung übernehmen und maßgebliche Prozesse mitgestalten.

 

Die ersten Gemeinden waren von allen Getauften getragen, die ihre spezifischen Kompetenzen in die Gemeinden einbrachten

 

Was sich in der Jesusbewegung beobachten ließ, wurde in den ersten Gemeinden, wie sie in den authentischen Briefen des Paulus sichtbar werden, weitergeführt: Die Gemeinden wurden von allen Getauften getragen.

Ein erstes Indiz dafür lässt sich bereits darin erkennen, dass für Paulus das Gegenüber seiner Briefe stets die ganze Gemeinde ist. Das ändert sich bemerkenswerterweise in den späteren Pastoralbriefen, die nicht von Paulus stammen: Hier wendet sich der Verfasser (Pseudopaulus) an einen Gemeindeleiter (Timotheus, Titus) und erteilt diesem Anweisungen, wie er die Gemeinde leiten und für Ordnung sorgen soll.

Demgegenüber hat Paulus die gesamte Gemeinde im Blick. Prägend für seine Wahrnehmung der Christusgläubigen, die die Gemeinde bilden, sind die beiden Aspekte Taufe und Charisma. Auch wenn diese Begriffe derzeit eine Hochkonjunktur erleben und viel darüber geschrieben wurde und wird, möchte ich bei ihnen ansetzen; denn sie bergen ein enormes Potential für unsere Fragestellung. Diese Art, auf Menschen zu schauen, ist durch und durch respektvoll, wertschätzend und demokratisch. Sie ist eine Herausforderung und bleibender Stachel im Fleisch aller derzeit im Entstehen begriffenen neuen Gemeindekonzepte.

Grundlegend für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Christusgläubigen ist nach Paulus der Glaube an – besser: das Vertrauen auf – den Messias Jesus. Rituell markiert wird dies in der Taufe, die für Paulus (mindestens) zwei Aspekte beinhaltet.

 

a) In der Taufe werden die Getauften buchstäblich Christus-förmig. Das hat konkrete Auswirkungen auf das Leben und Handeln: „Wisst ihr denn nicht, dass wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden ja mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln.“ (Röm 6,3–4)

In der Taufe vollziehen demnach die Glaubenden mit dem eigenen Körper und der eigenen Existenz den Weg des Christus nach – durch den Tod hindurch ins Leben. Für Paulus heißt das: „Ich bin mit Christus gekreuzigt worden. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2,19f)

Wer sich in dieser Weise ganz von diesem Christus prägen lässt, buchstäblich Christus-förmig wird, kann nicht mehr in der gleichen Weise leben und handeln wie zuvor. Vielmehr wird das Handeln von diesem Christus geprägt, und das heißt: vom Gekreuzigten, der sich ans unterste Ende der sozialen Skala gestellt hat und den verachtetsten aller Tode gestorben ist – der aber von Gott auferweckt wurde und nun als der Sohn Gottes bekannt wird. Das stellt die herrschende Werteskala und die sozialen und politischen Machtverhältnisse auf den Kopf.

Das hat Folgen: Wer diesem Christus zugehörig ist, kann nicht all die in der Gesellschaft herrschenden Machtstrukturen, die Gewaltverhältnisse, das Unrecht, die Gewinnmaximierung und all die vermeintlich alternativlosen Sachzwänge weiterschreiben. Vielmehr kann und soll, wer diesem Christus zugehörig ist, neu und anders handeln, Gott Frucht bringen (Röm 7,4) oder auch als neue Schöpfung (2 Kor 5,17) leben. Für das gemeindliche Miteinander formuliert es ein Text aus dem Galaterbrief, der wahrscheinlich anlässlich von Taufen gesprochen oder gesungen wurde, so: „Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne und Töchter Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,26–28)

Dies ist nicht weniger als eine Magna Charta für christliche Gemeinden. Alte Strukturen und Machtverhältnisse, die Menschen nach ihrer Herkunft, ihrem sozialen Status, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung einteilen und bewerten, haben ausgedient. Angesagt sind dagegen vorbehaltlose Anerkennung von Frauen und Männern, Fremden und Einheimischen, Armen und Reichen, Jungen und Alten. Angesagt ist die Teilhabe aller.

 

b) Die Taufe ist für Paulus grundlegend mit dem Geistempfang verbunden. Das prägt das Miteinander in der Gemeinde: „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt.“ (1 Kor 12,13)

Alle Getauften sind demnach Träger, Trägerinnen des Heiligen Geistes, und in allen Getauften wirkt die Geistkraft. Dies hat konkrete Auswirkungen in den konkreten Gaben, die die Geistkraft schenkt und die Paulus Charismen nennt. Gemeint sind Begabungen, Fähigkeiten oder auch getaufte Kompetenzen, so Thomas Söding.

Die Bandbreite der Charismen, die Paulus in den Gemeinden wahrnimmt, ist enorm. Paulus stellt sie in zwei Listen in 1 Kor 12,4–11 und Röm 12,4–8 zusammen. Für ihn ist entscheidend, dass sie alle den einen Ursprung in der Geistkraft haben und dass in ihnen die Kraft Gottes wirkt. So gelingt es ihm, einerseits die Vielfalt und Verschiedenheit der Begabungen wahrzunehmen und zu würdigen. Andererseits ist dieser Blick dazu geeignet, auch die Zusammengehörigkeit all dieser Verschiedenheiten plausibel zu machen; denn alle Getauften bilden den Leib des Christus: „Ihr aber seid der Leib des Christus und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm.“ (1 Kor 12,27)

Jedes einzelne Glied ist notwendig für einen lebendigen Leib des Christus. Da gibt es keine Wichtigen und Unwichtigen; denn es braucht alle, damit der Leib funktionieren kann und der Christus wahrhaft erlebbar und erfahrbar werden kann.

Grund für die geschenkten Begabungen und gleichzeitig Kriterium und Maßstab, wie sie eingesetzt werden sollen, ist der Nutzen für alle: „Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.“ (1 Kor 12,7)

Ein solcher Blick auf die Getauften ermöglicht es, die Fähigkeiten, die vorhanden sind, wahrzunehmen, wertzuschätzen und dafür zu sorgen, dass das Potential, das in all den verschiedenen Begabungen liegt, zur Entfaltung kommen kann. Dabei geht es nicht um Befugniszuteilungen – dass etwa nur bestimmte Menschen bestimmte Charismen hätten und ausüben dürften. Vielmehr zeigt schon ein kurzer Blick in die Grußliste des Römerbriefs (Röm 16,1–16), dass verschiedenste Menschen, Frauen ebenso wie Männer, Sklavinnen und Sklaven oder Freigelassene ebenso wie Freigeborene, Menschen jüdischer wie nichtjüdischer Herkunft, solche Charismen bis hin zum Charisma der Leitung und Verkündigung ausgeübt haben.

Nicht umsonst ist in den Strukturdebatten der jüngsten Zeit immer wieder auf diese biblischen Grundlagen als Inspiration für Pastoralkonzepte oder Kirchenentwicklungsstrategien rekurriert worden. Zu Recht ist in diesem Zusammenhang von Charismenförderung die Rede, von einer charismen-orientierten Pastoral oder gar von einer Charisma-first-Strategie, wie Stefan Moosburger schreibt. Dies ist grundlegend nicht nur für Pastoralkonzepte generell, sondern auch und gerade für die demokratischen Institutionen wie die Räte. Denn in diesen Räten kommen getaufte Menschen zusammen, die mit unterschiedlichen und je speziellen Kompetenzen ausgestattet sind, die sie zum Nutzen der Gemeinde einbringen wollen. Noch deutlicher als der Begriff Charisma mag in der gegenwärtigen Diskussion der Begriff Kompetenzen zum Ausdruck bringen, worum es geht. Es darf nicht dabei bleiben, durchaus wohlwollend, aber letztlich folgenlos von Charismen zu sprechen. Vielmehr gilt es, die vorhandenen Kompetenzen der Ratsmitglieder ernstzunehmen und zur Geltung kommen zu lassen. Allerdings lässt sich kritisch fragen, ob die bisherigen Strukturen tatsächlich dazu geeignet sind. Können und dürfen die Räte wirklich Verantwortung übernehmen? Welche Entscheidungskompetenz haben sie letztlich? Wird die besondere Stellung des Pfarrers der Verantwortungsbereitschaft und den Kompetenzen der Ratsmitglieder gerecht? Ist es gewollt, dass die Räte Position beziehen und selbst Ziele vorgeben? Gleicht die gegenwärtige Rätestruktur nicht über manche Strecken einem Fahren mit angezogener Handbremse – wenn nämlich vorhandene Kompetenzen nicht zur Geltung kommen dürfen – oder auch einem Fahren auf Gleisen, deren Richtung immer schon vorgegeben ist – wenn nämlich keine wirkliche Entscheidungskompetenz besteht?

Damit verbunden ist die Frage, wie viel professionelle Kompetenz in den Räten gewollt ist. Denkbar wäre es, gezielt Menschen mit bestimmten Kompetenzen und Fähigkeiten anzufragen – natürlich unter der Voraussetzung, dass sie gewählt werden. Inspirationsquelle hierfür könnte die Praxis in Schweizer Kirchgemeinden oder Schulpflegen sein, für die gezielt Frauen und Männer mit den benötigten professionellen Kompetenzen gesucht werden. Solche gefragten Kompetenzen könnten neben den Finanzen auch Personalverantwortung, Öffentlichkeitsarbeit, handwerkliche und kreative Fähigkeiten, ein Blick für soziale Fragen, Kulturmanagement, Ökologie und Nachhaltigkeit, zeitgemäße Kinder- und Jugendarbeit, Wissen, was Armut ist und vieles andere mehr, sein. Zweifellos sind solche Kompetenzen, auch professioneller Art, bereits heute in vielfältiger Weise in den Räten und Gremien vertreten. Doch könnten Bemühungen um solche Kompetenzen gewiss noch verstärkt werden – wohl wissend, dass es immer schwieriger wird, außerhalb der kirchenaffinen Milieus Menschen zu gewinnen, die bereit sind, ihre Kompetenzen im Kontext Kirche einzubringen. Hier liegen grundsätzliche Fragen, die entschieden werden müssen, wenn man Strukturänderungen hin zu einer wirklichen Teilhabe an Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen vornehmen will.

 

Die Gemeinden des Paulus sind lokal angesiedelt

 

Förderlich dafür, dass sich Menschen engagieren, ist es, dass spürbar wird, dass sich durch das Engagement das lokale Umfeld zum Besseren verändert. Attraktiv und lohnend scheint daher ein Engagement vor Ort. Dies läuft allerdings dem Trend der Pastoralkonzepte der letzten Jahre deutlich entgegen; doch ist zu fragen, ob die immer größer werdenden Seelsorgeeinheiten oder Pastoralräume wirklich förderlich für die Einbindung von Menschen und für das Engagement vieler sind.

Die Gemeinden im Neuen Testament sind jedenfalls Gemeinden an einem konkreten Ort. Paulus schreibt an die Gemeinde Gottes, die in Korinth ist (1 Kor 1,2). Man trifft sich in Hausgemeinden, also in Häusern oder Wohnungen von Gemeindemitgliedern. Das heißt: Es sind überschaubare Gruppen, man kennt sich, man kann gemeinsam Leben gestalten und einander unterstützen, man trägt natürlich auch Konflikte aus, wovon es in den Korintherbriefen reichlich Beispiele gibt, aber man weiß: Es ist nicht egal, ob ich da bin oder nicht. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für Engagement.

Die Tatsache, dass sich auch heute noch viele Menschen in Gremien und Räten engagieren und sogar eigens nach München reisen, um 50 Jahre gewählte Pfarrgemeinderäte zu feiern, mag meiner These widersprechen. Doch liegt in den größer werdenden pastoralen Einheiten m.E. die Gefahr, dass persönliche Verbindlichkeit verloren geht. Engagement lebt – auch – von persönlichen Beziehungen. Räte können engagierte Verantwortungsträger und gestaltende Kräfte vor Ort sein – sie können aber auch von den sich verselbstständigenden Strukturen aufgesogen oder lahmgelegt werden.

 

Kennzeichen der neutestamentlichen Gemeinden ist eine Vielfalt an Modellen und Strukturen

 

Bei den paulinischen Gemeinden des Anfangs ist es nicht geblieben. Die Zeiten haben sich verändert, die Gemeinden sind gewachsen, neue Situationen an unterschiedlichen Orten haben die Gemeinden immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. So ist es nicht verwunderlich, dass wir in den neutestamentlichen Schriften unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinden und daher auch verschiedene Strukturmodelle finden. So kennen zum Beispiel die Apostelgeschichte, der Jakobusbrief und der Erste Petrusbrief Ältestenräte, die die Geschicke einer Gemeinde lenken (Apg 20,17; 21,18f; Jak 5,14; 1 Petr 5,1). Die Pastoralbriefe setzen eher auf einen Gemeindeleiter, einen Episkopos, das heißt einen Aufseher, der genau hinschaut (1 Tim 3,1–7). Sie kennen daneben aber auch ein Gremium von Diakonen, eine Gruppe von Ältesten oder auch eine Gruppe von Witwen (1 Tim 3,8–13; 5,3–16.17–22).

Das Johannesevangelium ist dagegen eher skeptisch gegenüber Ämtern. Vor allem Hirten erregen das Misstrauen der Gemeinde; denn es gibt nur einen guten Hirten: Jesus Christus selbst (Joh 10,1–21). Wenn Petrus im Schlusskapitel des Werkes (Joh 21) Hirte werden will, dann ist er auf einen Lehrer angewiesen: den Jünger, den Jesus liebte. Darüber hinaus wird ihm aufgegeben, dass er lieben muss. Und die Erzählweise macht deutlich, dass er trotz seines Versagens bei der Verleugnung eine neue Chance bekommt. Er wird als fehlbarer und vergebungsbedürftiger Hirte gezeichnet.

Die Offenbarung des Johannes will im neuen Jerusalem nicht einmal mehr einen Tempel sehen; denn Gott und das Lamm wohnen direkt unter den Menschen. Die Stadt als Ganze hat die Form des Allerheiligsten und ist Ort der Gegenwart Gottes. Das Allerheiligste wird zum Lebensraum für die Bewohnerinnen und Bewohner der neuen Stadt – oder umgekehrt: Der Lebensraum der Bewohnerinnen und Bewohner der neuen Stadt wird zum Allerheiligsten. Es gibt kein Kultpersonal mit den entsprechenden Privilegien und Machtpositionen mehr, vielmehr haben alle gleichermaßen direkten Zugang zu Gott (Offb 21,1–22,5). Die Liste ließe sich fortsetzen.

Es kann nun gewiss nicht darum gehen, eines dieser Modelle als Rezept herzunehmen und umzusetzen. Vielmehr ist dieses Prinzip der Vielfalt inspirierend. Diese Vielfalt – und darin eingeschlossen auch Uneindeutigkeit oder Widersprüchlichkeit – ist im Kanon unserer Heiligen Schrift erhalten geblieben. Damit wird den Leserinnen und Lesern bis heute einiges zugemutet – aber auch zugetraut.

Es zeigt sich: Die neutestamentlichen Gemeinden reagierten mit großem Einfallsreichtum und in großer Freiheit auf sich verändernde Situationen. Sie versuchten, jeweils in Rückbindung an die Botschaft Jesu, angemessene Antworten auf neue Herausforderungen zu finden. Sie entwickelten Bestehendes weiter, fanden oder erfanden neue Strukturen. Als die Schriften kanonisiert wurden, ist keines der Strukturmodelle als einzig gültig erklärt worden. Lesen wir dies als Ermutigung für heute, nicht bei einem einmal gefundenen Modell zu verharren, sondern auf die Anforderungen der Zeit und des Kontextes zu reagieren, erfinderisch zu sein und in der Freiheit von Geistträgerinnen und Geistträgern auch neue Wege zu beschreiten, die den Herausforderungen unserer Zeit (zumindest) gerechter werden.

 

Die neutestamentlichen Texte ermutigen dazu, transparente und demokratische Strukturen zu stärken

 

Die neutestamentlichen Perspektiven auf Menschen und speziell auf christusgläubige Menschen ermutigen dazu, die vor allem seit dem II. Vatikanum entstandenen demokratischen Organe der Mitbestimmung und Mitgestaltung keinesfalls aufzugeben, sondern sie vielmehr zeitgemäß weiterzuentwickeln. Denn die (synoptischen) Evangelien zeichnen einen Jesus, der seine Jüngerinnen und Jünger an seiner Vollmacht teilhaben lässt und mit ihnen seine Charismen teilt. Paulus macht ernst damit, dass jeder und jede Getaufte Geistträger, Geistträgerin ist und Kompetenzen in die Gemeinde einzubringen hat. Die neutestamentlichen Gemeinden in ihrer Gesamtheit gehen höchst unterschiedliche Wege, wie sie sich organisieren, und diese Vielfalt wird den Leserinnen und Lesern bis heute zugemutet und zugetraut.

In einer zeitgemäßen Aufnahme und Weiterführung der neutestamentlichen Befunde gilt es demnach, alle Formen von Partizipation in den kirchlichen Strukturen zu stärken. Eine Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien ist den neutestamentlichen Texten ohnehin fremd. Vielmehr geht es um die Würdigung von Taufe und Geistbegabung aller und um Beteiligung möglichst vieler auf Augenhöhe. Abschließend seien einige Beispiele möglicher Konsequenzen benannt.

  • Demokratisch gewählte Organe wie Räte auf allen Ebenen müssen mehr Gewicht erhalten und mit realen Entscheidungs- und Leitungskompetenzen ausgestattet werden. Ihre Kontrollfunktion gegenüber den Leitungspersonen und -gremien muss gestärkt werden.
  • Vielfalt ist produktiver als Monokultur. Das gilt auch für kirchliche Gremien und Strukturen, in denen Frauen und Männer, Verheiratete und Unverheiratete, Einheimische und Fremde, Alte und Junge, Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung und aus unterschiedlichen Milieus und viele mehr vertreten sein müssen. Es müssen viele Stimmen gehört und viele Perspektiven eingebracht werden können. Dies ist umso bedeutsamer vor dem Hintergrund, dass bereits viele kritisch Denkende kaum mehr bereit sind, sich in bestehende Gremien ohne echte Chance auf Kompetenzeinbringung wählen zu lassen. Anzudenken wären in diesem Zusammenhang daher neue demokratische Beteiligungsformen wie Foren, Workshops oder Ähnliches.
  • Eine solche Vielfalt einerseits und tatsächliche Beteiligung und Kontrolle durch demokratisch gewählte und funktionsfähige Organe andererseits sind ein Gegengewicht gegen möglichen Machtmissbrauch einiger weniger. In diesen Tagen ist viel von kirchlichen Strukturen die Rede, die Machtmissbrauch erst ermöglichen oder sogar fördern. Wenn die Kirche dem entstandenen Vertrauensverlust entgegenwirken will, wird sie nicht umhin kommen, genau diese Strukturen auf den Prüfstand zu stellen. Dabei kann es entlastend sein, diese Strukturen als historisch gewachsene wahrzunehmen. Gegenüber den vielfältigen Modellen des Anfangs ist ohnehin ein Traditionsverlust festzustellen. Das könnte ein Anstoß sein, sich auf einige jener Anfangstraditionen wieder neu zu besinnen.
  • Gewiss sind Pfarrgemeinderäte nicht die Lösung für alle Probleme und Missstände in der Kirche. Doch steht und fällt Kirche mit glaubwürdigen Frauen und Männern, die für die Botschaft Jesu brennen, die diese Botschaft im Alltag und im lokalen Umfeld zu leben versuchen und auf dieser Basis in Kirche und Gesellschaft etwas in Bewegung bringen wollen. Sichtbar werden solche glaubwürdigen Frauen und Männer auch und gerade in den Räten, die Raum für solches Engagement bieten. Dieser Raum ist aber durchaus noch ausbaufähig.

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