Ganz großes Kino

Die Passion Jesu im Film

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In der Geschichte des Kinos ist die Gestalt Jesu Christi die mit Abstand am häufigsten bearbeitete historische Figur. Das Genre der Jesusfilme lässt sich heute in seiner ästhetischen Variationsbreite und interpretativen Vielfalt kaum mehr überschauen. Entsprechend der überragenden Bedeutung der Passionsgeschichte in den Evangelien wie im kulturellen Gedächtnis zumindest der westlichen, christlich geprägten Gesellschaften wird diese auch in fast allen Filmen mit Jesusfiguren in der Hauptrolle thematisiert. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Zugangsweisen unterscheiden: zum einen die direkten Darstellungen mit expliziten Jesusfiguren, zum anderen die Transfigurationen, bei denen menschlichen Protagonisten, Männern wie Frauen, signifikante Züge Jesu Christi eingezeichnet werden, sodass diese Figuren eine zumindest fragmentierte christomorphe Kontur gewinnen.

Ein Klassiker einer solchen, durch die Filminszenierung induzierten Christusförmigkeit ist Carl Theodor Dreyers „Die Passion der Jungfrau von Orléans“ (1928). Seine ausgebauten Bezugnahmen zur Passion Jesu verdichten sich in der Nahaufnahme der Heiligen mit einer geflochtenen Krone und einem Spottzepter zu einer filmischen Passions-Ikone.

Ein herausragendes Beispiel aus dem Gegenwartskino ist der deutsche Spielfilm „Kreuzweg“ (2014) von Dietrich Brüggemann, der wie Dreyer bereits im Titel auf die Passion Jesu als Referenztext verweist. Der Film erzählt von eines vierzehnjährigen Mädchens, das in einem fundamentalistischen christlichen Gemeinschaft – mit Anklängen an die Pius-Bruderschaft – aufwächst und sich immer tiefer und wahnhafter in eine Opfer-Idee verstrickt: in vermeintlicher imitatio Christi will sie ihr Leben hingeben, damit ihr jüngerer Bruder von einer schwere Krankheit geheilt wird. Auch die Geistlichen ihrer Gemeinschaft können sie nicht von diesem selbstzerstörerischen Vorhaben abbringen und sie stirbt schließlich an Auszehrung.

Dem gerade hinsichtlich der Passionsmotivik enorm vielgestaltigen Feld der Transfigurationen kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die direkten Jesusfilme, und dabei insbesondere auf deren Golgotha-Handlung, also den Abschnitt von der Ankunft auf der Schädelstätte bis zur Kreuzabnahme. Der kleine Streifzug durch die Kinogeschichte ist zugleich eine Reise durch die Interpretationsgeschichte der Passion Jesu.

 

Die Passion Jesu als und die Geburt des Erzählkinos

Der älteste erhaltene Jesusfilm ist „La Vie et la Passion de Jésus Christ“, produziert von den Gebrüdern Lumière, entstand 1897, kaum eineinhalb Jahre nach den ersten öffentlichen Vorstellungen des Kinematographen. Die Lumière-Passion war den Auftakt für das erste Erfolgs-Genres der Kinogeschichte. Mehr noch: mit den Filmbearbeitungen der Passion beginnt überhaupt erst das Erzählkino, nachdem man zuvor bevorzugt Alltagsszenen festgehalten oder kleine Humoresken inszeniert hatte. Der Lumière-Film besteht aus dreizehn, jeweils ca. einminütigen Szenen. Wie bei den nachfolgenden Stummfilm-Passionen konnten die Szenen von den Kino-Betreibern einzeln erworben und von ihnen je nach Geschmack oder erhoffter Publikumsattraktivität zusammengestellt werden. Die Zahl der Szenen stieg binnen weniger Jahre stark an (auf 40 bis 50, je nach Produktionsfirma) und entsprechend vergrößerten sich die Gestaltungsmöglichkeiten der Impresarios bei der Komposition ihres Jesusfilms.

Der Lumière-Film ist noch mit einer stationären Kamera nach dem Guckkasten-Prinzip gefilmt. Da man ausreichend Licht brauchte, wurde im Freien gedreht; woher etwa auch die starken Schatten der vor einer Brandmauer aufgerichteten Kreuze rühren. Trotz der einfachsten Mittel ist diese erste filmische Passionserzählung doch in verschiedener Hinsicht ungewöhnlich und wirft bereits einige grundsätzliche Fragen auf, die dann die gesamte weitere Geschichte der filmischen Evangelienbearbeitungen durchgreifen werden: Wie soll man mit den biblischen Erzählungen, umgehen? An welche ästhetischen Traditionen schließt man günstigerweise an? Wie soll man sich zu der Gewalt, die der Passion Jesu eingezeichneten ist, verhalten? Und: Wie soll man das Geschehen historisch und theologisch interpretieren, z.B. hinsichtlich der brisanten Frage der Schuld am Tod Jesu?

Bereits die Lumière-Passion erlaubt sich erstaunlich große Freiheiten beim Umgang mit der biblischen Überlieferung: Sie klammert die Hohenpriester und Pilatus vollständig aus der Passionshandlung aus. Verantwortlich für den Tod Jesu ist kurioserweise allein der Tetrarch Herodes Antipas, der Jesus seinen Erfolg beim Volk neidet und ihn deshalb aus dem Weg räumen will. Vielleicht steht die auffällige Exkulpierung der jüdischen Autoritäten in Zusammenhang mit der Situation im damaligen Frankreich: mit dem Antisemitismus, der im Zuge der Dreyfus-Affäre aufgelodert ist. Es ist gut denkbar, dass die Lumières die Frage des Anteils des Hohen Rats am Tod Jesu einfach übersprungen haben, um der grassierenden Judenfeindschaft nicht weiter Auftrieb zu geben. Damit wäre ihr Film zugleich das erste Beispiel für die (oftmals implizite) Verflechtung der Evangelien-Inszenierung mit aktuellen Problemlagen. In ästhetischer Hinsicht erinnert der Lumière-Film an das im 19. Jahrhundert sehr beliebte Stellen von ‚Lebenden Bildern‘.

Weitaus wichtiger ist aber der Einfluss des Passionsspiel-Genres. Dieses steht an erster Stelle unter den verschiedenen älteren Traditionen, die im Jesusfilm zusammenfließen. Das Vorbild schlechthin war das damals bereits weltberühmte Spiel von Oberammergau. Wichtige Inspirationen für den Jesusfilm kamen und kommen daneben von populären Bilderbibeln, v.a. die von Gustave Doré und J. James Tissot, und von Meisterwerken der bildenden Kunst, wie besonders solchen von Dürer, Rembrandt und Rubens. So zeigt sich, um wenigstens ein Beispiel zu nennen, Cecil B. DeMilles Inszenierung der Todesszene auf Golgotha in seinem enorm wirkmächtig gewordenen „König der Könige“ (1927) stark inspiriert von Rembrandts berühmter Radierung „Die drei Kreuze“. Hier wie dort überstrahlt ein theatralisch von oben einströmendes, auf Jesus zentriertes „göttliches“ Licht das Leiden.

Einflussreich für die frühen Filmpassionen waren auch das im 19. Jahrhunde florierende Genre der Leben-Jesu-Romane, die Orientmalerei und die ebenfalls noch junge Fotografie, sei es mit landeskundlichen Aufnahmen aus dem Heiligen Land, sei es mit inszenierten Bildern, wie denen des amerikanischen Fotopioniers Fred Holland Day. Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch die Wirkung der Panoramen auf den Passionsfilm, jener großen‚ begehbaren Rundgemälde, wie man heute noch eines in Altötting besichtigen kann.

Sein hoher Stoff und der multiple Anschluss an ältere Kunsttraditionen nobilitierten das Jesusfilm-Genre und trugen mit bei zu seiner Erfolgsgeschichte. Dabei wurden die filmsprachlichen Mittel in schneller Folge weiter entwickelt: neue Spezialeffekte ermöglichten die Darstellung der Begleitwunder der Passion, wie dem Erdbeben oder der Öffnung der Gräber (vgl. Mt 27,51f.), die Kamera wurde mobiler und nicht selten wurden einzelne Szenen aufwändig von Hand koloriert.

Ungeachtet der Pluralisierung in der Inszenierung war die basale Intention in allen Passionen der Stummfilmzeit immer dieselbe: Es ging stets um die Schaffung frommer, zur religiösen Erbauung geeigneter Werke, die zugleich einiges zur Befriedigung eben jener Schaulust beitragen, die der Kirchenvater Augustinus noch als „Begierlichkeit der Augen“ (voluptas bzw. concupiscentia oculorum) verurteilt hatte.

 

Exegetischer Zwischenruf

Beim Umgang der Film-Inszenierungen mit ihren biblischen Vorlagen ist zu bedenken, dass letztere selbst schon den schmalen Bestand an historisch belastbaren Traditionen sehr imaginativ ausgefaltet haben: Bereits die je verschiedenen Inszenierungen der Passion in den Evangelien sind umfangreiche Erweiterungen und tiefgreifende Interpretationen der den Evangelisten überkommenen Überlieferungen. Was wir von der Passion historisch festmachen können, ist bis heute umstritten. Für manche ist das Einzige, was man sicher wissen könne, das auch außerchristlich, z. B. bei Tacitus, belegte Moment der Kreuzigung an sich. Besonders die amerikanische Forschergruppe The Jesus Seminary unterzog die Evangelienüberlieferung einer radikalen historisch-kritischen Befragung: In ausgedehnten Expertengesprächen diskutierten in den 1980 und 90er Jahren jeweils mehrere Dutzend ausgewiesene Fachvertreter der neutestamentlichen Exegese die Worte Jesu und die Erzähltraditionen über ihn, um schließlich jeweils per Abstimmung zu einer abschließendem Einschätzung zwischen den Polen „sicher historisch“ und „sicher nicht historisch“ zu kommen. Die Ergebnisse, basierend auf den Mehrheitsvoten publiziert die Forschergruppe auf verschiedene Weise. Im Jahre 1999 erschien unter dem Titel „The Gospel of Jesus according to the Jesus Seminary“ eine Art populäre Zusammenfassung dessen, was man der Gruppe zufolge wirklich von Jesus wissen könne.

Für den Für den Tod Jesu auf Golgotha stellt sich dies folgendermaßen dar: „Die verschwörerischen Priester banden Jesus und übergaben ihn Pilatus, dem römischen Statthalter. Dann ließ Pilatus Jesus geißeln und übergab ihn zur Kreuzigung. Und die römischen Soldaten bringen ihn an die Stätte Golgotha, was bedeutet ‚Schädelstätte‘, und die Soldaten kreuzigen ihn. Und es waren einige Frauen, die das Ganze aus der Ferne beobachteten. Unter ihnen waren Maria von Magdala und Maria, die Mutter von Jakobus dem Jüngeren und Joses und Salome. Diese Frauen waren regelmäßig Jesus nachgefolgt und hatten ihn bedient, seit er in Galiläa unterwegs war. Und mit ihnen waren viele andere Frauen, die in seiner Begleitung nach Jerusalem gekommen waren. Und dann tat Jesus seinen letzten Atemzug.“

Das ist nach Auffassung des Jesus Seminary der historisch belastbare Kenntnisstand zum hinsichtlich des äußeren Geschehens beim Tod Jesu. Ungeachtet ob man diesem Befund zustimmen will oder ihn als zu skeptisch ablehnt: er stimmt mit der unstrittigen Aussage überein, dass die biblischen Passionsgeschichten allesamt viel dem Alten Testament verdanken und von diesem her gelesen werden müssen. Denn in allen vier Evangelien sind die Passionsdarstellungen durchsetzt mit Anspielungen auf oder direkten Zitaten aus alttestamentlichen Überlieferungen. Der wichtigste Referenztext, der sehr viel zur Ausgestaltung der Golgotha-Szene beigesteuert hat, ist Psalm 22, aber auch Psalm 69 und verschiedene prophetische Traditionen sind mit eingeflossen. Alle Passionserzählungen, insbesondere aber die biblischen Inszenierungen des Geschehens auf Golgotha stehen in einem fortwährenden Dialog mit dem Alten Testament und sind schon allein deshalb keine Berichte, sondern zuvorderst theologische Interpretation des ihnen zugrunde liegenden Geschehens.

Alle Passions-Darstellungen im Neuen Testament sind ein intertextuelles Geflecht von Texten. Die sich so formierende und die Passionsdarstellungen bestimmende erzählende Christologie der Evangelien wird dann in den Filmbearbeitungen derselben nochmals interpretativ weitergeführt. Wie in der Theologie gibt es dabei auch in den filmischen Christologien zwei Grundrichtungen der Interpretation, die je anders beim christologischen Grundbekenntnis des Konzils von Chalcedon (451), das die Zwei-Naturen-Lehre festgezurrt hat, ansetzen: Zum einen die „Christologie von oben“, die bei ihrem Nachdenken über Jesus Christus (analog zum Prolog des Johannesevangeliums) vom „wahren Gott“ ausgeht, vom präexistenten Logos (Joh 1,1), der sich inkarniert hat. Der christlogische Akzent liegt also auf der Göttlichkeit, der Gottessohnschaft Jesu Christi. Die andere Grundrichtung, die „Christologie von unten“, nimmt hingegen ihren Ausgangspunkt beim „wahren Menschen“ Jesus aus Nazareth.

 

Filmische „Christologien von oben“

Die in den Jesusfilmen entwickelten Christologien waren bis in die 1960er Jahre ganz entschieden von der Christologie von oben regiert. Immer hatten sie versucht, den Gottessohn auf die Leinwand zu bringen. Dazu wollten sie ihren Protagonisten durch ihnen geeignet scheinende Techniken der Inszenierung überhöhen, ihn mit einer Aura der Transzendenz umkleiden. Erst in den 1960er Jahren kam mit Pier Paolo Pasolinis „Das erste Evangelium – Matthäus“ (1964) der Umschwung: Im Geist der Christologie von unten rückte der Mensch Jesus von Nazareth in den Vordergrund.

Emblematisch für die Hoheits-Christologie der Jesusfilme der Stummfilmzeit kann die Schlusseinstellung von David W. Griffith‘ „Intolerance“ (1916) stehen. Die Szene hat einen eigenen Titel, „Das unendliche Licht“, der bereits die Transzendenz-Orientierung anzeigt, und ist in der Bildkomposition an die Gemälde von William Turner angelehnt. Die im großen Panorama aufragenden Kreuze auf Golgotha sollen von diesem Licht überstrahlt erscheinen, ganz im Sinne der Hoheitsperspektive der Christologie von oben. Neben der Lichtführung ist in den Stummfilmen ein anderes beliebtes Mittel, um diese Perspektive zu etablieren, die Verlangsamung der Bewegungen und Gesten Jesu, wodurch dieser wie jemand, der nicht von dieser Welt ist, erscheinen soll. Die Passionshandlung wird dabei regelmäßig vom Johannesevangelium als leitender Vorlage beherrscht, da das vierte Evangelium bis zuletzt die Erhabenheit und Souveränität des Gottessohnes akzentuiert.

Die einzige Abweichung von den Standard-Schemata der Hoheits-Inszenierung findet sich in der Passionshandlung der deutschen Produktion „I.N.R.I.“ (1923), gedreht unter der Regie von Robert Wiene, der mit dem expressionistischen Klassiker „Das Cabinett des Dr. Caligari“ von 1920 Filmgeschichte geschrieben hat. Anders als alle Regiekollegen in der Stummfilmzeit – und noch lange darüber hinaus – erinnert Wiene bei der Inszenierung der Passionshandlung an die Kunst aus der Zeit der spätgotische Passionsfrömmigkeit, die – in oftmals noch heute erschreckender Drastik – Jesus als den Schmerzensmann ins Zentrum gestellt hatte. Zwar exponiert auch Wiene Jesus traditionell hoheitsvoll, doch auf dem Kreuzweg und auf Golgotha entdeckt er den als „wahrer Mensch“ wahrhaft Leidenden: in Nah- und Großaufnahmen, die Jesu Antlitz von den Qualen völlig verzerrt, ja fast wie vom Wahnsinn gezeichnet, erscheinen lassen. Zwar kehrt Wiene im Setting der Golgotha-Szene zur Christologie von oben zurück, etwa indem er die römischen Soldaten eine Art Ehrenspalier bilden und sie beim Tod Jesu ihre Lanzen senken lässt. Dennoch ist er der erste und auf lange Zeit einzige, der zumindest in der Passionshandlung die alles beherrschende Hoheits-Perspektive aufgebrochen hat. Getrübt wird diese Leistung durch den auch hier, wie in allen Jesusfilmen vor dem Holocaust und mit einem erschreckenden Revival in Mel Gibsons „Die Passion Christi“ aus dem Jahre 2004, ungeniert heftig ausagierten antijüdischen Zug. Dieser verdichtet sich in der Darstellung des Hohen Rates unter Führung des als Erzschurke gezeichneten Kajaphas. Aber das wäre ein eigenes Thema.

Die in der Stummfilmzeit schier allgegenwärtige Hoheitschristologie, nicht zuletzt auch in der Passionshandlung, kehrt Jahrzehnte später noch einmal eindrucksvoll wieder: in „Die größte Geschichte aller Zeiten“ (1965), dem für lange Zeit letzten monumentalen Jesusfilm aus Hollywood. Unter der Regie von George Stevens gab Max von Sydow, der berühmte Bergman-Darsteller, einen recht ungewöhnlichen Christus. Der u.a. im Grand Canyon Massiv, wie auf einer großen Naturbühne, gedrehte Film ist eine Art Passionsspiel in Cinemascope: sehr weihevoll, sehr auf Erbaulichkeit hin stilisiert, ja mitunter geradezu liturgisch anmutend. Stevens komponierte grandiose Bilder für die breite Leinwand und verwandelte die Jesusgeschichte tatsächlich in ganz großes Kino, allerdings nicht, um die Schaulust zu bedienen, sondern um die Zuschauer religiös zu ergreifen. Der ganze Film ist entschieden aus der Perspektive der „Christologie von oben“ inszeniert. Er wird eröffnet durch eine Einstellung auf ein Fresko, das den Hauptdarsteller in einer Kirchenkuppel als Christus-Pantokrator zeigt. Dann fährt die Kamera gleichsam in der Bewegungsrichtung der Inkarnation vom (gemalten) Himmel hinab auf die Erde und die Kindheitsgeschichte Jesu setzt ein: mit der Großaufnahme einer Kerze, die für das Licht steht, das das auf die Erde gekommen ist. Dieser Abstiegsbewegung korrespondiert am Ende des Films eine Aufstiegsbewegung der Kamera zurück in einen dem Fresko ähnlichen Himmel.

Ein besonders eindringliches Beispiel, wie sich die für Stevens leitende Hoheitschristologie mit einer Inszenierung, die Erbauung und Ergriffenheit intendiert, verbindet, ist die Golgotha-Szene. Stevens zieht gewissermaßen alle Register, um die vermeintlichen Erwartungen der Zuschauer zu bedienen und sie emotional zu ergreifen: Jesus spricht die bekannten sieben letzten Worte am Kreuz, die sich bei einer Evangelienharmonie ergeben. Er leidet zwar, bleibt aber würdevoll, wie ein romanischer Christkönig am Kreuz. Die innere Anteilnahme der Zuschauer wird gespurt durch die sakrale Musik- und Chorbegleitung, die, nach requiem-artigem Beginn beim Tod Jesu, triumphierend anschwillt und so die Heilsbedeutung seines Sterbens unterstreicht. Die durch und durch feierliche Stimmung wird nicht durch irgendwelchen Spott seitens der Soldaten oder der Priester getrübt, und auch das Gewaltsame der Szene ist maximal zurückgenommen.

Was George Stevens hier inszeniert hat, ist ein liturgisches Spiel auf Zelluloid, das bewusst nicht den Anspruch einer historischen Rekonstruktion erhebt. Stevens‘ Passionshandlung ist eine Art Karfreitags-Meditation für (wie Stevens selbst) gläubige Zuschauer oder solche, die zumindest offen dafür sind, sich anrühren zu lassen. Aber diese Zuschauer sind seinerzeit weithin ausgebleiben und der Film wurde zu einem ökonomischen Desaster. „Die größte Geschichte aller Zeiten“ hatte durchaus Qualitäten, wenn man ihn heute mit einigem Abstand wiedersieht. Aber in den 1960er Jahren wollte das Publikum einen derart auf Erhabenheit abzielenden Film nicht mehr sehen. Nicht nur die Zeit der großen Bibelepen, die in den 1950er Jahren überragende Erfolge feiern konnten, war vorbei, auch im Glaubensleben kamen in den.1960er Jahren große Umbrüche im Gang. Während die tradierten Lehrmeinungen der hohen Christologie an Zustimmung verloren, erstarkte das Interesse am Menschen Jesus und an neuen, alternativen, auch politischen Blicken auf ihn. So konnte beispielsweise 1971 ein Buch wie Adolf Holls „Jesus in schlechter Gesellschaft“ im deutschen Sprachraum zum Bestseller werden.

Nach dem Misserfolg von „Die größte Geschichte aller Zeiten“ migrierte die Jesuserzählung vom Kino ins Fernsehen und fand dort teilweise wieder ein großes Publikum. Das Interesse war also noch vorhanden, aber ins Kino wollte man dafür nicht mehr eigens gehen. Am erfolgreichsten war Franco Zeffirellis aufwändiger Vierteiler „Jesus von Nazareth“ (1976). In seiner Evangelienharmonie, die der definitive, quasi kanonische Jesusfilm sein wollte, nahm Zeffirelli durchaus Rücksicht auf das neue Interesse am historischen Jesus und verstärkte den Realismus der Darstellung, überhöhte aber dennoch immer wieder seinen Protagonisten in der Spur der Christologie von oben.

Nicht unpassend nannte Zeffirelli diese eigenwillige Stilmischung einmal „emphatischer Realismus“. So zeigt er in der Passionshandlung zwar in bisher nicht gesehener Weise die Leiden Jesu, stilisierte aber die Bilder des Gekreuzigten nachdrücklich in Richtung des Ikonenhaften, zu bewegenden Andachtsbildern, begleitet von einem Score, der wie bei Stevens stark emotionalisierend wirken sollte. Ein von Zeffirelli bevorzugtes visuelles Verfahren, um in Jesus den Gottessohn aufscheinen zu lassen, sind Gegenlichtaufnahmen, die ihn wie mit einem Lichtkranz umkleiden und die Konturen auflösen, um so eine Art Transzendenz-Aura zu etablieren. Ein schönes Beispiel ist die „Ecce homo“-Szene, als Jesus nach der Geißelung wieder zu Pilatus kommt und dabei wie aus dem Licht heraustritt. Verstärkt wird dies direkt im Anschluss daran, indem Zeffirelli Pilatus und Jesus so anordnet und von tief unten filmt, dass der im Vordergrund platzierte Jesusdarsteller riesenhaft aufragt.

 

Die Wende hin zum „wahren Menschen“ Jesus von Nazareth

Am Ende ist Zeffirellis Epos weiterhin der traditionellen filmischen Hoheitschristologie verpflichtet, obgleich bereits zehn Jahre zuvor, fast zeitgleich mit Stevens, Pier Paolo Pasolini mit „Das erste Evangelium – Matthäus“ (1964) ein ganz anderes Konzept entwickelt hatte, das die Jesusfigur deutlich stärker erdet. Pasolini lässt seinen Jesus erfüllt sein von einer tiefen Option für die Armen und mit einem dezidiert gesellschaftlich-politischen Anspruch agieren. Rückblickend erscheint Pasolinis Matthäus-Bearbeitung wie ein Präludium der Theologie der Befreiung. In der Darstellung der Passion, die vergleichsweise knapp ausfällt, schwenkt Pasolini freilich doch wieder stärker in die traditionellen Bahnen ein: Das Gewaltsame und die Schmerzen werden gewissermaßen an die Schächer delegiert, wogegen Jesus nur andeutungsweise als Leidensgestalt gezeichnet ist. Zudem bindet Pasolini zum Ende hin vermehrt Motive der johanneischen Hoheitschristologie ein. Musikalisch kommentiert er das Geschehen auf Golgotha zunächst mit Klängen aus der Bachschen Matthäus-Passion, wechselt dann aber zu einem russischen Revolutionschor. Insofern verknüpft die Begleitmusik der Kreuzigung beide Dimensionen der Bedeutung Jesu Christi, an denen Pasolini gelegen ist: den wahren Menschen, dessen Botschaft von gesellschaftsverändernder Kraft ist, und den Sohn Gottes, der sein Leben für die Menschen hingibt.

Noch konsequenter als Pasolini begibt sich zehn Jahre später, zeitgleich mit Zeffirelli, sein Landsmann Roberto Rossellini mit seinem letzten Film „Der Messias“ (1975) auf die Suche nach dem Menschen Jesus. „Der Messias“ ist eine Fernsehproduktion, entstanden im Rahmen eines Zyklus über Schlüssel-Gestalten der Menschheitsgeschichte. Rossellini inszenierte ihn sehr nüchtern, fast dokumentarisch. Da auch die Wundertradition fast komplett übersprungen ist, wird der „wahre Gott“ eigentlich erst ganz am Ende, in einer sehr behutsam, indirekten Auferstehungsszene erinnert. Was Rossellini interessiert, ist der Mensch Jesus und seine Botschaft. Alle theologischen Überhöhungen werden stark zurückgefahren, wo nicht sogar gänzlich eliminiert. Besonders markant zeigt sich dies in der Passionshandlung. Der gesamte Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und ist ein intimes, eher unaufgeregtes Geschehen zwischen Pilatus und einer Gruppe von Mitgliedern des Hohen Rats.

Noch frappierender ist die Golgotha-Szene von „Der Messias“. Sie ist die vielleicht ungewöhnlichste, ja verstörendste der ganzen Filmgeschichte: Rossellini streicht die meisten der aus den Evangelien und deren Wirkungsgeschichte vertrauten Bild- und Handlungsmotive und reduziert das Geschehen auf die bruta facta. Als vertrautes Moment bleibt einzig das im Johannesevangelium benannte Trio der engsten Vertrauten Jesu präsent – seine Mutter, Maria aus Magdala und der Lieblingsjünger –, aber nicht wie bei Johannes unmittelbar am Fuß des Kreuzes, sondern in einigem Abstand. Wie im Wissen um die Heilsbedeutung des nahen Todes ihres Sohnes steht die Mutter aufrecht und gefasst, wogegen Magdalena zu Boden gesunken und in Tränen aufgelöst ist. Der Tod am Kreuz ist um alle intertextuellen Verbindungen zum Alten Testament, die ihn semantisch aufladen und überhöhen, bereinigt.

Man könnte meinen, Rossellini hätte bereits die Befunde des Jesus Seminary gekannt und berücksichtigen wollen: Es gibt keine Verfinsterung der Sonne, keinen Spott, keinen Schwamm, keinerlei letzte Worte, keinen Dialog mit den Schächern, keinen römischen Hauptmann, der sich bekennt, kein Erdbeben, keinen zerreißenden Tempelvorhang: Jesus stirbt wortlos, ohne Todesschrei, einsam, von fast allen verlassen, an einem heißen Tag vor den Mauern Jerusalems, Und von dort klingen die fröhlichen Gesänge der Kinder herüber, die mit ihren Eltern zum um Pessachfest in die heilige Stadt gepilgert sind. Das Volk nimmt keinerlei Anteil an diesem schmählichen Tod, und eine Mutter, die vorbeikommt, zieht ihr Kind schnell fort und verbietet ihm, überhaupt zu den drei Kreuzen hinzusehen.

Es wird den Zuschauern also fast alles vorenthalten, was ihnen bei der Golgotha-Szene vertraut ist. Aber gerade dieser Kontrast, diese Durchkreuzung fast aller Erwartungen kann eine positive, konstruktive Energie freisetzen: Es wird verständlich, weshalb der Apostel Paulus vom Skandal des Kreuzes spricht (1 Kor 1,23). Und man begreift, welcher Abgrund sich im Verlassenheitsruf des Gekreuzigten auftut, wenn man diesen nicht mit dem Hinweis entschärft, dass er einen Vers aus einem von Heilsgewissheit überwölbtem Psalm (Ps 22,2) zitiert.

 

Das Kreuz als Ort der Versuchung

 

Dass Jesus „wahrer Mensch“ geworden ist, erweist sich besonders im Moment seines Versucht-Werdens, unbeschadet dass er keiner Versuchung erlegen ist (vgl. Hebr 4,15). Am Ende der bestandenen Versuchungen in der Wüste bemerkt der Evangelist Lukas, dass der Satan danach für „eine gewisse Zeit“ von ihm abgelassen hat (Lk 4,13). Diese Notiz lässt einen weiteren Anschlag des Widersachers erwarten, aber keines der Evangelien erzählt von einem solchen. Dies Leerstelle hat die Phantasie von Gläubigen und Künstlern befeuert. So sah die Mystikerin Anna Katharina Emmerick – und in ihren Spuren später Mel Gibson – in ihren Visionen, die Clemens Brentano in dem Buch „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus“ (1835) niedergelegt hat, den Satan ein zweites Mal bei Jesu Gebetskampf im Garten Getsemani an diesen herantreten. Nikos Kazantzakis verlegte in seinem Roman „Die letzte Versuchung“ (1951) den neuerlichen Versuchungs-Versuch direkt in die Todesstunde auf Golgotha. Darin folgte ihm Martin Scorsese in seiner Verfilmung dieses Romans „Die letzte Versuchung Christi“ (1988), bei der ihm vor allem an der Akzentuierung des wahren Menschseins Jesu gelegen war, ohne deshalb seine Göttlichkeit irgendwie bestreiten zu wollen.

Die Brücke von der ersten Versuchung in der Wüste zur Versuchung am Kreuz ergibt sich nicht nur aus der im Verlassenheitsruf Jesu anklingenden Versuchung, an seiner Sendung zu verzweifeln, sondern noch deutlicher aus der Aufforderung Satans in der Wüste bzw. auf der Tempelzinne: „Wenn du Gottes Sohn bist, dann, stürz dich hinab“ (Lk 4,9), denn die Engel würden ihn dann ja retten. Analog dazu sagen Spötter auf Golgotha: „Wenn du Gottes Sohn bist, dann steig herab vom Kreuz“ (Mt 27,40). Scorsese lässt den Satan in Gestalt eines jungen, blondgelockten Mädchen-Engels an den Gekreuzigten herantreten. Seine Botschaft an Jesus: Er habe genug gelitten, sein himmlischer Vater wolle seinen Tod nicht. Er könne vom Kreuz herabsteigen. In seiner Agonie erkennt Jesus den Satan nicht, er lässt sich von ihm von der Schädelstätte wegführen – und die große Todesvision von einem anderen Lebens mit Familie und Kindern entfaltet sich. Erst als alter Mann findet Jesus aus dieser Verstrickung heraus, und er kehrt aus eigenem Willen an das Kreuz zurück, das er in Wahrheit nie verlassen hatte. Glücklich, auch dieser letzten Versuchung widerstanden zu haben, stirbt er befreit, lachend und mit den Worten „Es ist vollbracht!“ (Joh 18,39).

Die Versuchung Jesu in der Wüste verbindet auch ein neuer Jesusfilm mit einer letzten Versuchung auf Golgotha und reichert so ebenfalls die biblische Passionserzählung um ein neoapokryphes Moment an: „40 Tage in der Wüste“ (2017) von Rodrigo Garcia, dem Sohn von Gabriel Garcia Marquez. Der Satan, dem Jesus in dieser kammerspielartigen Meditation in der Wüste begegnet, ist eine Art Alter Ego seiner selbst, eine Personifikation seines Schattens, seiner inneren Anfechtungen, die seiner Sendung und seinem Weg ans Kreuz widerstreben. Konsequenter Weise spielt der Hauptdarsteller Ewan McGregor zugleich Jesus und Satan. Trotz Jesu zeitweiliger Schwäche gelingt es diesem Satan am Ende nicht, mit seinen kritischen Anfragen an das Gottesbild – in denen sich wohl nicht wenige Zuschauer wiederfinden werden –, das Verhältnis Jesu zu seinem Vater zu demontieren.

Am Ende der Wüstenzeit gehen Jesus und Satan getrennte Wege. Aber der Satan kündigt an, er werde in der Stunde von Jesu größter Not, also beim Todeskampf auf Golgotha, wiederkommen. Jesus brauche ihm dann nur ein Zeichen zu geben, und er werde er ihn retten. Von der Wüste springt der Film am Ende dann unversehens direkt nach Golgotha. Der Gekreuzigte ist dem Tode nahe, da erscheint ihm der Satan in Gestalt eines schönen Kolibris und schwirrt vor Jesu Augen. Jesus bräuchte ihm nur mit einem Blick, einer kleinen Bewegung ein Zeichen zu geben, aber er wendet sich vom Versucher ab – und stirbt. Eine fantastische Imagination, in der das Menschsein und die Versuchbarkeit Jesu zusammenschießt mit der Treue zu seiner Sendung und dem Ja zu seinem Sterben.

 

Übermenschliche Leiden – Mel Gibsons „Die Passion Christi“


In der Spur der Suche nach dem wahren Menschen, jetzt besonders nach dem wahren Leiden Jesu, bewegt sich auch Mel Gibson. Mit seinem krassen Naturalismus hat er in „Die Passion Christi“ (2004) die Gewaltdarstellung derart forciert, dass der Film für viele Zuschauer fast unerträglich, ja zum Albtraum wurde. Wie bereits in der Leidensmystik von Anna Katharina Emmerick, der Hauptinspirationsquelle Gibsons, dient die Maximierung der hyperrealistisch inszenierten Qualen fein weiteres Mal der Entwicklung einer dezidierten Hoheitschristologie. Gibson will deutlich machen: So unendlich wie Jesus kann kein Mensch leiden, dieses Meer der Qualen kann nur der Mensch gewordene Gottessohn durchschreiten. Gibson vertritt ein „quantifizierendes“ Verständnis vom Opfertod Jesu, wie es Jürgen Werbick einmal genannt hat. Für Gibson hat uns Jesus erlöst, weil er unendlich mehr gelitten hat als jeder Mensch vor oder nach ihm. Dabei übersah Gibson, dass es nicht auf das Maß der Leiden ankommt – und nebenbei gibt es sicher etliche Menschen, die noch grausamere Tode gestorben sind. Entscheidend ist vielmehr die Identität des Gekreuzigten: dass in ihm Gott selbst sein Leben hingibt für die Menschen. Ganz abgesehen davon, dass der krasse Realismus und die Ausfaltung der Leiden von den in Sachen Gewalt überaus zurückhaltenden Passions-Inszenierungen der Evangelien nicht gedeckt ist: Der Ansatz von Mel Gibson ist schlichtweg theologisch inadäquat.

 

Inkulturation und Aktualisierung

 

Während Gibsons Versuch, über den Leidensrealismus zum wahren Menschen Jesus vorzudringen, in eine Sackgasse führt, eröffnet der in jüngerer Zeit vermehrt beschrittene Pfad einer Inkulturation und Aktualisierung der Passionsgeschichte neue Perspektiven. Dazu sei abschließend auf drei, leider allesamt wenig bekannte Filme aus Sardinien, Südafrika und Deutschland aufmerksam gemacht.

Hingewiesen sei zunächst auf die sardische Passion „Su Re“ (Der König) von Giovanni Columbu (2012). Der Film ist eine Art filmische Karfreitagsmediation, die nicht linear erzählt ist, sondern meist fragmentierte Szenen zwischen Abendmahl und Kreuzestod kaleidoskopisch montiert. Man könnte sich den Film sehr gut in der Fastenzeit in einer Endlosschleife anstelle eines Hungertuchs auf einer Leinwand über dem Altar projiziert vorstellen. Neben der ungewöhnlichen, alle Bild-Erwartungen durchkreuzenden Jesusfigur, die von einem untersetzten Darsteller vorgestellt wird, dessen Gesicht an mittelalterliche Holzskulpturen erinnert, sind es die wettergegerbten Gesichter der Laiendarsteller und die „Bühne“ der kargen Landschaften und archaischen Bauten der sardischen Megalithkultur, die Columbus Film seine Intensität und unverwechselbare Aura verleihen.

Der zweite Hinweis gilt dem südafrikanischen Film „Son of Man“ (2006). In ihm transponiert  der seit vielen Jahren in Südafrika lebende Regisseur Mark-Dornford-May die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu in ein namenloses, von Gewalt zerfurchtes afrikanisches Land unserer Gegenwart, hinter dem allerdings immer wieder das Südafrika der Apartheidszeit durchscheint. Mit ausschließlich schwarzen Darstellern erzählt der Film relativ dicht entlang der Narration der Evangelien die Kindheit Jesu, die Sammlung seines Jüngerkreises und – natürlich nur in Auszügen – sein öffentliche Wirken. Ungeachtet davon, dass Jesus seine Botschaft, die auf die Ansage einer gerechten, egalitären Gesellschaft zentriert ist, mit der Forderung konsequenter Gewaltfreiheit verbindet, sehen ihn die herrschenden Eliten als Bedrohung für ihr Regime und versuchen ihn zu beseitigen. Jesu Verkündigung ist mit etlichen Anklängen an Worte des bekannten Anti-Apartheid-Aktivisten Steve Biko (1946-77) durchsetzt.

Und Jesu Tod ist ebenfalls an die Ermordung Bikos angelehnt, denn Dornford-May hatte erkannt, dass er sich im Horizont seiner Aktualisierung bei der Passionshandlung stärker von den Evangelien lösen musste: Statt Jesus den Prozess zu machen, lässt ihn die Machtclique, nachdem er ein Angebot, mit ihnen zu kooperieren, ausgeschlagen hatte, durch ihre Schergen erschlagen und irgendwo in der Wüste verscharren, genau so wie es vielen Regimegegnern ergangen ist. Doch Jesu Mutter erfährt den Ort, wo man seinen Leichnam versteckt hat. Sie gräbt ihn aus und stellt ihn, angebunden an ein Holzkreuz, auf einem Hügel über der Stadt zur Schau: als Zeichen des Widerstands gegen die Strategie, Dissidenten verschwinden zu lassen, und als Zeichen der Hoffnung, dass Jesus und seine Botschaft über seinen Tod hinaus präsent bleiben.

Unter dem Kreuz versammeln sich wieder seine zuvor enttäuschten und verzweifelten Anhängerinnen und Anhänger, und angeführt von Jesu Mutter trotzen sie gewaltlos, singend und tanzend den Soldaten, die angerückt sind, um die Gruppe aufzulösen und das Kreuz zu beseitigen. Ganz am Ende eines Epilogs, der nach der Erhöhung am Kreuz zeichenhaft die eigentliche Auferstehung thematisiert, in der letzten Einstellung des Films reckt der Auferstandene seine Faust in den Himmel, lachend und triumphierend über die Mächte des Todes. Es gab in den letzten zwanzig Jahren keinen Film, der die bleibende Aktualität der Botschaft Jesu ähnlich vital und hoffnungsstiftend neu entborgen hätte, wie „Son of Man“.

Der dritte und letzte Hinweis gilt „Jesus Cries“ (2015), dem ersten, größtenteils via Crowdfunding realisierten Spielfilm der Fotografin Brigitte Maria Mayer. Der Film verlegt die sich vom Tempelprotest Jesu bis zur Auferstehung erstreckende Handlung in unsere, leicht in die Zukunft verschobene Gegenwart und ist in Berlin und Umgebung gedreht. Nicht nur der avantgardistische Soundtrack und die ausgezirkelten, auch farbdramaturgisch bestechenden Bildkompositionen zeichnen den Film aus, sondern auch sein freier, innovativer Zugriff auf die Passionshandlung, der gleichzeitig doch rückgebunden bleibt an die biblischen Traditionen. Mayer begreift Jesus als einen energischen, kraftvollen Revolutionär, der in einer Zeit großer gesellschaftlicher Unruhen – sie werden durch einmontierte dokumentarische Bilder u.a. vom Taksim-Platz evoziert – zu einem (gewaltlosen) Aufstand gegen das herrschende Unrechtssystem aufruft.

Dessen Repräsentanten reagieren mit Verhaftung, Folter – inszeniert in Anlehnung an Bilder aus dem irakischen Foltergefängnis Abu Ghraib – und Kreuzigung des Unruhestifters. Wie bei Dornford-May sind es wieder die Frauen, hier Maria Magdalena, die die entmutigten Jünger wieder aufrichten und ermutigen, die Botschaft Jesu über dessen Tod hinaus weiterzutragen. Doch Jesus bleibt nicht im Tod: Der Film blendet die Auferstehung nicht aus, sondern thematisiert sie in symbolhaften Bildern, die Motive der griechischen Mythologie aufnehmenden. Indem diese den Film nicht nur beschließen, sondern auch eröffnen, wird die gesamte Passionshandlung von der Hoffnung auf den Sieg über den Tod und die Strukturen des Bösen überwölbt. „Jesus Cries“ hat sicher auch Ecken und Kanten, und manche werden sich an den, allerdings wenigen, expliziten Gewaltszenen stören. Aber „Jesus Cries“, der im Frühjahr 2019 auch auf DVD verfügbar sein wird, ist ein ungewöhnlicher, im guten Sinne aufregender Film, der sehr persönlich und sehr konsequent die Gegenwartsbedeutung der Passion wiederzugewinnen sucht.

 

Abschluss

Spannende, ästhetisch innovative, in unsere Gegenwart sprechende und auch für das theologische Denken anregende Bearbeitungen der Passionsgeschichte finden sich heute kaum mehr im ganz großen Kino à la Hollywood, sondern eher im Arthouse-Kino und an den Rändern der internationalen Filmlandschaft. Wie in der bildenden Kunst begegnen wir auch im Genre des Jesusfilms der ganzen theologischen Spannbreite von der hoheitsvollen Christologie von oben bis hin zur akzentuierten Suche nach dem „wahren Menschen“ Jesus von Nazareth, oder, übersetzt in die Golgotha-Szene: dem Christus-König am Kreuz ebenso wie der zermarterten, sich gottverlassen wähnenden Leidensgestalt.

Gerade die Darstellung der Passion ist im Jesusfilm eine Verdichtung der jeweils einen Film regierenden christologischen Konzeption. Falls sie die Zuschauererwartungen bedienen wollen, geben Filme Aufschluss über den je aktuellen Status des Gauben und der Frömmigkeit. Dort hingegen, wo sie neue Wege beschreiten und Erwartungen durchkreuzen, sind sie eine Art fremdprophetischer Index, wohin sich das Nachdenken über Jesus unter den Zeichen der Zeit bewegen könnte oder sollte. Bis in die 1960err Jahre waren die filmischen Passionsbearbeitungen, ungeachtet ihrer oftmals beachtlichen Inszenierungsleistungen,  weithin bloße Bestätigungen der überkommenen Vorstellungsbilder: Illustrationen der traditionellen, lehramtlich garantierten Christologie, ohne dass neue, auch theologisch  zündende Funken aus den Überlieferung geschlagen worden wären.

Erst mit Pasolinis Matthäus-Verfilmung begann die Geschichte jener kreativen Auslegung und Fortschreibung der Evangelien, denen daran gelegen ist, die Gegenwartsbedeutung und Relevanz der Gestalt Jesu Christi und die ungebrochene Energie seiner Botschaft zu entbergen. Indem die Filme in der Spur Pasolinis alternative, originelle Sehweisen erproben, können sie auch der theologischen Reflexion belebende Impulse zu geben. So verwandelte sich seither das Genre des Jesusfilms immer wieder in ein „christologisches Laboratorium“, wie ich einmal einen Aufsatz zu diesem Aspekt betitelt habe. Wie „Son of Man“ oder „Jesus Cries“ kenntlich machen, bedeutet die Zentrierung auf die gesellschaftlich-politische Bedeutung der Verkündigung Jesu keineswegs eine Verabschiedung seiner Gottessohnschaft oder der Heilsbedeutung seines Sterbens. Angesichts der Schwierigkeiten, die viele Menschen mit der Auferstehung haben, ist es überraschend, dass die meisten Filme diese einbinden: zumeist als Hoffnung vermittelndes Zeichen der Überwindung der Mächte des Todes.

Gelungen sind Jesusfilme, wenn sie nicht das Immer-schon-Gewusste bestätigen, und wenn sie nicht vorgeben, den historischen Jesus präsentieren zu wollen, sondern sich dezidiert als persönliche, subjektive Annäherungen zu erkennen geben. Gerade wenn sie Bildklischees und Stereotypen aufbrechen, andere Blicke auf die vermeintlich vertraute Geschichte wagen, können Jesusfilme auch den persönlichen Glauben ihrer Zuschauer in Bewegung bringen und ihm wertvolle Impulse geben – gerade auch bei einem so schwierigen und gleichzeitig so wichtigen Thema wie der Passion.

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