Die Bergpredigt hat tiefe Spuren in der Theologie-, Geistes- und Kulturgeschichte aber auch in der politischen Geschichte der vom Christentum imprägnierten Gesellschaften hinterlassen. Sie hat aber auch weit über diese hinaus ausgestrahlt und erfreut sich auch in anderen Weltreligionen hoher Wertschätzung.
Selbst viele Menschen, die heute mit dem Glauben große Schwierigkeiten haben oder sich dezidiert als Agnostiker oder Atheisten verstehen, können oftmals den Worten der Bergpredigt einiges abgewinnen. Etliche dieser Worte sind zu „geflügelten Worten“ geworden, bei denen vielen gar nicht mehr bewusst ist, woher sie eigentlich stammen. Worte wie: „sein Licht unter den Scheffel stellen“ (Mt 5,14); „um kein Jota verändern“ (Mt 5,18), „niemand kann zwei Herren dienen“ (Mt 6,24) oder „auf Sand gebaut“ (Mt 7,26). Wir müssen uns bei unserem Streifzug durch die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte auf einige wenige Stationen beschränken. Und selbst diese können nur skizzenhaft in Erinnerung gerufen werden. In einem zeitlichen Bogen über 800 Jahre – vom heiligen Franziskus bis zu Papst Franziskus – sollen sechs Deutungsansätze vorgestellt werden, wobei der Schwerpunkt auf der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart liegt.
Der Rahmen – ein Schlüssel?
Eine wichtige Weichenstellung für alle Auslegungen sind die Einleitung und der Abschluss der Bergpredigt. Eröffnet wird sie mit den Worten (alle Bibelzitate nach der Einheitsübersetzung von 2016): „Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf den Berg. Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm. Und er öffnete seinen Mund, er lehrte sie und sprach:“ (Mt 5,1f.) Sind nun die Volksmengen oder die von Jesus um sich gescharten Jünger die Adressaten der anschließenden Rede? Anders gesagt: Richtet sich die Bergpredigt an eine durch die Jünger repräsentierte Elite der nach Vollkommenheit Strebenden? Oder auch an die große Schar der übrigen Anwesenden, die zunächst für das Volk Israel steht, am Ende aber für alle Menschen? Der Exposition zufolge sind beide, für die Auslegung und den Geltungsbereich der Bergpredigt eminent folgenreiche Lesarten möglich. Dass die Worte Jesu auch an die große Menge gerichtet waren, stellt dann freilich der die Bergpredigt beschließende Vers klar: „Und es geschah, als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge voll Staunen über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ (Mt 7,28f.)
Die Adressaten sind also beide: die Jünger und die Volksmengen. Ulrich Luz fasst es in seinem großen Matthäuskommentar treffend: Bei den Adressaten handle es sich um „zwei gleichsam konzentrische Kreise“. Sehr schön hat diese Auffassung lange vor Luz der Regisseur George Stevens in seinem Jesusfilm Die größte Geschichte aller Zeiten (1965) ins Bild gesetzt, indem er auf einem Gipfelplateau die Jünger im Kreis um Jesus und darunter die Menge als Zuhörer zeigt. Die Bergpredigt und ihr Anspruch richten sich also grundsätzlich an alle Menschen. Sie ist keine exklusive ‚Jüngerethik‘, obwohl sie – wie auch in der Zeit des ersten unserer Interpreten – lange so begriffen wurde.
Franziskus von Assisi
In den Tagen des heiligen Franziskus (1181/1182–1226) war die scholastische Theologie mit ihrem großen Meister Thomas von Aquin weithin unangefochten mit ihrer Position, dass die Bergpredigt für eine Zwei-Stufen-Ethik stehe: Vollumfänglich gelte der Anspruch der dort festgehaltenen Worte Jesu nur für einen vergleichsweise kleinen Kreis. Nur wenige seien berufen und befähigt, die Weisungen der Bergpredigt tatsächlich zu leben: die geistlichen Eliten von Männern und Frauen, wie Ordensleute, Kleriker, Asketen oder heiligmäßig lebende Menschen. Für sie seien die Weisungen der Bergpredigt verpflichtende Gebote (praecepta), für alle übrigen Christen hingegen nur Ratschläge (consilia). Denn für die große Masse der Gläubigen sei ein Leben nach der Bergpredigt praktisch unmöglich, stünden dem doch ihre vielfältigen innerweltlichen Verpflichtungen entgegen.
Demgegenüber vertrat nun Franziskus von Assisi die Auffassung, dass die Bergpredigt grundsätzlich alle Menschen in Anspruch nimmt, wobei aber auch für ihn dieser Anspruch wie für die Jünger Jesu auch in der Folgezeit für ihre um konsequente Jesusnachfolge bemühten ‚Erben‘, wie eben die franziskanische Bewegung, nochmals verschärft ist. Insofern begegnet so bereits bei Franziskus das Modell der ‚konzentrischen Kreise‘. Explizit auf die Bergpredigt bezieht sich Franziskus besonders in seinen sogenannten Admonitiones, den „Ermahnungen“ an seine Mitbrüder. Dabei greift er einzelne Sentenzen auf, die ihm besonders wichtig sind: Entschieden im Vordergrund stehen die Seligpreisungen, näherhin (in seiner Reihung) die der Friedfertigen (Mt 5,9), auf die er gleich zwei Mal eingeht und so besonders akzentuiert (cap. 13 u. 15); sodann die der Armen im Geiste (Mt 5,3; in cap. 14) und derjenigen, die reinen Herzens sind (Mt 5,8; cap. 16). Die kurzen Reflexionen auf die Bedeutung der jesuanischen Seligpreisungen für die Brüdergemeinschaft (und über sie hinaus) verschränkt Franziskus mit einer umfänglicheren Reihe eigener Seligpreisungen, die er formelhaft mit „beatus servus“ eröffnet („selig der Knecht“; besser „Diener“, als welcher sich Jesus selbst verstanden hat; vgl. Mk 10,45). Die von Franziskus neu gebildeten Seligpreisungen sind stark auf seine Brüder zentriert (vgl. cap. 10; 11; 17–26; 28). Dabei ahmt Franziskus auch insofern Jesus nach, als er diese eigenen Seligpreisungen nach dem Muster der lukanischen Seligpreisungen (Lk 6,20b-26) wiederholt mit antithetischen „Wehe“-Rufen kombiniert (so in cap. 19–21; 26).
Eröffnet werden die expliziten Rekurse auf die Bergpredigt in cap. 9 mit kurzen Gedanken zum Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44) und im Schlusskapitel der Adminitiones mit einem Zitat aus Jesu langer Reflexion auf die „rechte Sorge“ (Mt 6,19–34) beendet: Selig gepriesen wird der Diener, „der das Gute, das der Herr ihm zeigt, als Schatz im Himmel sammelt“ (cap. 28; nach Mt 6,20).
Die von Franziskus aus der Bergpredigt zitierten Seligpreisungen und die Aufforderung zur Feindesliebe sind für ihn elementare Weisungen Gottes für die Menschen und sie durchgreifen als solche das gesamte Denken und Wirken des Heiligen, auch seinen Lebensstil im Zeichen des Armutsideals und seine Spiritualität – also all das, wofür er seine Brüder und am Ende alle Menschen begeistern wollte. Jesu Worte von den Friedensstiftern und der Feindesliebe suchte er auch, wie man heute sagen würde, auf geopolitischer Ebene umzusetzen, als er sich in Ägypten um eine Versöhnung zwischen Christen und Muslimen bemühte, wenn auch erfolglos.
Mag die Anordnung der einzelnen Admonitiones auch redaktioneller Art sein, so ist es doch sicher kein Zufall, dass diese nach dem wunderbaren poetischen Text „Ubi caritas“ (cap. 27) mit Worten aus der Perikope „Von der rechten Sorge“ (Mt 6,19–34) beschlossen werden. Besonders der lange Schlussteil mit seiner Ermunterung zum Frei-Sein von Sorge (VV. 25–34) ist für Franziskus von hoher Bedeutung. Denn diese Perikope begründet die von Jesus geforderte Entscheidung zu einer grundlegenden Einstellungsveränderung, zu einem Persektivwechsel: Man soll sein Vertrauen einzig auf Gott setzen. Eindringlich und in poetischer Sprache verweist Jesus dabei auf den Überschuss der Schönheit seiner Schöpfung, als Ermutigung, sich von der Sorge um Irdisches frei zu machen. Einige wenige Verse mögen dies veranschaulichen:
„Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?“ (V. 26) Oder: „Was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen.“ (V. 28f.)
Mit Worten wie diesen wird die Perikope „Von der rechten Sorge“ zum Grundtext der franziskanischen Schöpfungsspiritualität. Ihre Gedanken klingen besonders nach im berühmten Sonnengesang des Heiligen, seinem großen Dankes- und Lobeshymnus an die Schöpfung Gottes. Wie Jesus in der besagten Perikope drückt auch Franziskus in diesem Hymnus in poetischer Sprache seinen tiefen Glauben aus, dass sich Gott um alle Geschöpfe sorgt. Gottes Liebe und Vorsehung umfängt auch jene Teile seiner Schöpfung, die vielen Menschen hinsichtlich ihres Gebrauchswerts als wertlos, ja überflüssig erscheinen, wie die Lilien, die ‚nur‘ die Felder schmücken, aber keinen praktischen Nutzen haben. Die Aktualität dieser Gedanken vom Wert eines jeden Lebewesens liegt auf der Hand! Man denke nur an die sich heute massiv verstärkenden Bemühungen zum Artenschutz.Wenigstens ein kleiner Ausschnitt aus dem Sonnengesang möge verdeutlichen wie in ihm Worte Jesu aus der Bergpredigt nachklingen:
„Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt
und bunte Blumen und Kräuter.“
(Fünfter Lobpreis)
Das in der Schöpfung offenbare Geheimnis Gottes sollte in der Spur des heiligen Franziskus nicht nur in den Herzen bewahrt, sondern auch handlungsleitend werden. Der Heilige aus Assisi besaß eine nicht zuletzt von der Bergpredigt inspirierte ungemein hohe ökologische Sensibilität, deren Relevanz nicht verblasst ist. Im Gegenteil! So ist es überhaupt mit seiner Rezeption der Bergpredigt: Liest man die Worte Jesu ‚franziskanisch‘, werden sie zur Einrede in unsere Lebenshaltung und Lebenspraxis.
Martin Luther
Anders als Franziskus hat sich Martin Luther (1483–1546) nicht nur verstreut in seinen Schriften, sondern auch zusammenhängend und systematisch über die Bergpredigt geäußert: in einer am 9. November 1530 begonnenen Predigtreihe in Wittenberg, die dort erstmals 1532 erschienen ist (Werkausgabe Bd. 32). Die Bergpredigt ist auch für ihn der Grundtext der Verkündigung Jesu schlechthin. Wir können hier nur einen basalen Aspekt von Luthers umfänglicher Interpretation skizzieren. Wie er gleich in der „Vorrede“ zu seiner Predigtreihe mit polemischer Schärfe gegen die ‚römische‘ Theologie betont, ist auch für ihn, wie schon für Franziskus, die Bergpredigt nicht exklusiv an die nach Vollkommenheit Strebenden adressiert, sondern richtet sich grundsätzlich an alle Christenmenschen. Für den Großteil von ihnen mildert Luther aber mit Rücksicht auf die praktischen Bedingungen und Erfordernisse des Lebens ihren Verpflichtungscharakter und macht viele Ausnahmen, wie beispielsweise, indem er den Waffendienst nicht grundsätzlich ablehnt, für Soldaten vom Tötungsverbot und von der Feindesliebe.
Von grundlegender Bedeutung ist für Luther bei seiner Auseinandersetzung mit der Bergpredigt deren Vereinbarkeit mit seinem großen Leitthema: dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium bzw. von den Werken des Gesetzes und der Rechtfertigung aus dem Glauben. Damit kommt ein programmatisches Auftaktstück der Bergpredigt in den Fokus: die Perikope „Vom Gesetz und den Propheten“ (Mt 5,17–20). Ich zitiere nur die ersten beiden Verse:
„Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.“
Luther müssen diese Worte in eine gewisse Verlegenheit bringen, kommt er doch nicht umhin anzuerkennen, dass Jesus mit der Bergpredigt das im Alten Testament bewahrte „Gesetz“ nicht aufheben und die Bergpredigt auch kein neues Gesetz sein wollte. Vielmehr will Jesus das Gesetz „erfüllen“, indem er eine endgültige Interpretation des Willens Gottes vorlegt. Dieser bereits im Alten Testament überlieferte Wille soll um kein Jota, also nicht um den kleinsten Buchstaben verändert oder gar aufgehoben werden. In der Spur des Apostels Paulus ist nun aber der Kerngedanke der Theologie Luthers, dass der Mensch nicht durch das Gesetz oder die „Werke des Gesetzes“ gerechtfertigt, d. h. in das rechte Verhältnis zu Gott gesetzt wird, sondern am Ende allein durch den Glauben. Ganz so, wie dies Paulus pointiert im Galaterbrief ausgedrückt hat: „Wir wissen, dass der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerecht wird, sondern aus dem Glauben an Jesus Christus.“ (Gal 2,16) Der Kronzeuge für Paulus ist dabei Abraham, der trotz seiner jahrzehntelangen Kinderlosigkeit Gottes Verheißung eines Sohnes glaubt, und von dem es deshalb im Buch Genesis heißt – wie Paulus in Gal 3,6 zitiert: „Er [Abraham] glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet.“ (Gen 15,6)
Daraus ergibt sich für Luther natürlich die Frage: Wenn doch der Glaube entscheidend ist, welchen Sinn und welche Bedeutung hat dann das Gesetz, von dem Jesus in der Bergpredigt um kein Jota abrücken will? Auch Luthers Antwort hierauf ist bei Paulus vorgezeichnet (vgl. z. B. Gal 3,6–18): Kein Mensch, auch kein Priester oder Mönch ist frei von Sünde, und keiner kann alle Gebote erfüllen. Insofern macht uns das Gesetz in seiner Unerfüllbarkeit unsere Erlösungsbedürftigkeit bewusst und ist damit eine Art ‚Sündenspiegel‘, der für unsere Begrenztheit sensibilisiert. Gerecht vor Gott werden wir am Ende nur durch den Glauben und durch die von Gott geschenkte Gnade. Dadurch wird jedoch das Gesetz nicht außer Kraft gesetzt oder überflüssig. Denn das Gesetz macht uns nicht nur unsere Sündhaftigkeit bewusst, sondern bleibt für Luther auch eminent bedeutsam für die Regulierung des Zusammenlebens der Menschen: Es hegt das Böse ein und beschützt das Gute.
Dietrich Bonhoeffer
Machen wir einen großen zeitlichen Sprung ins 20. Jahrhundert, bleiben aber weiterhin in der protestantischen Theologie – bei Dietrich Bonhoeffer (1906–1945). Seine Sicht der Bergpredigt entwickelte Bonhoeffer vor allem in seinem 1937 veröffentlichten Buch Nachfolge, das in seiner Zeit als Dozent am Predigerseminar Finkenwalde entstanden ist. Bonhoeffer war Anhänger der evangelischen Gruppierung Bekennende Kirche (seit 1934: Barmer Theologische Erklärung), die dem Hitler-Regime und den zum Schulterschluss mit diesem bereiten Deutschen Christen kritisch gegenüberstand. Er wollte die Kirche insgesamt erneuern: Sie sollte die Bergpredigt ernst nehmen und Jesu Worten uneingeschränkt nachfolgen. Gegenüber Luther, der stark auf die göttliche Gnade als Grund der Rechtfertigung des Menschen abgehoben hatte, betonte Bonhoeffer unter dem Eindruck der Naziherrschaft auch die Notwenigkeit eines entschiedenen Handelns aus dem Geist der Bergpredigt. Dabei unterstrich er immer wieder das „Außerordentliche“ der Bergpredigt, ihr „Nichtselbstverständliches“.
Bonhoeffer zufolge müsse dieses „Außerordentliche“ getan werden – aus Gehorsam gegenüber Gott, nicht aber um des Außerordentlichen selbst willen. Die Aufforderung zu Gehorsam und konsequenter Nachfolge ergehe dabei besonders an einen engeren Kreis, an die heutigen „Jünger“, wie Bonhoeffer sie nennt, und könne nicht allen abverlangt werden. Das ist auch auf dem Hintergrund des lebensgefährlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu sehen. Konsequente Nachfolge schließt für Bonhoeffer die Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge ein. Mit Blick auf Jesu Worte „Von den zwei Wegen“ (Mt 7,13–14), vom schmalen und vom breiten Weg, schreibt Bonhoeffer in Nachfolge:
„Die Jünger sind wenige und werden immer wenige sein. Dieses Wort Jesu schneidet ihnen jede falsche Hoffnung auf ihre Wirksamkeit ab. […] Die Jünger gehen in ihr Verderben. Was kann der Trost der Jünger in solcher Erfahrung sein, wenn nicht allein dies, dass Ihnen das Leben verheißen ist, die ewige Gemeinschaft Jesu?“
Die Jünger sind gerufen, den „schmalen Weg“ zu gehen, der eigentlich ein „unerträglicher Weg“ ist, auf „dem jeden Augenblick der Abfall droht.“ Er könne nur beschritten werden, wenn „ich Jesus Christus vorangehen sehe, Schritt für Schritt. Sehe ich allein auf ihn und folge Ihm, Schritt für Schritt, so werde ich auf diesem Wege bewahrt.“ Bonhoeffer selbst wurde 1940 erst mit Rede-, dann auch mit Schreibverbot belegt. 1943 wurde er inhaftiert und am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet – nur einen Monat vor der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Einer seiner letzten Texte ist das bekannte Gedicht Von guten Mächten treu und still umgeben. In poetischer Sprache verdichtet es die eben zitierten Gedanken zur Nachfolge der Jünger und gerade auch die Zuversicht des Bewahrtwerdens auf dem „schmalen Weg“, bis zum Durchgang durch die „schmale Pforte des Kreuzes Jesu Christi zum Leben“, wie er in seinem Buch geschrieben hatte. Zugleich atmet dieser wunderbare Text mit seinem basso continuo von der Geborgenheit in Gott aber auch den Geist von Jesu Ermunterung „Sorgt Euch nicht“ (Mt 6,25), die schon Franziskus so tief inspiriert hatte.
Leonhard Ragaz
Nur wenige Jahre nach Bonhoeffers Nachfolge erschien in der Schweiz ein weiteres Buch über die Bergpredigt, das ebenfalls eine große Wirkung entfalten sollte. Sein Autor war der Schweizer evangelische Theologe Leonhard Ragaz (1868–1945). Anders als Bonhoeffer schrieb er nicht aus der unmittelbaren Betroffenheit vom politischen Terror, sondern aus der ihn existentiell bedrängenden Wahrnehmung sozialer Not und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. Leonhard Ragaz stammt aus einer kleinbäuerlichen Familie in Graubünden. Nach dem Studium der evangelischen Theologie hatte er in der Schweiz verschiedene Pfarrämter inne und wurde schließlich 1908 auf eine Professur für Systematische und Praktische Theologie in Zürich berufen. Zeitlebens hatte sich Ragaz sehr intensiv sozial engagiert: für die Arbeiter, für die in der Schweiz lange sehr benachteiligten Frauen, für sozial Marginalisierte und in den Zeiten der beiden Weltkriege für Kriegsdienstverweigerer und Geflüchtete. Hinzu kam sein Einsatz für Frieden und Völkerverständigung. Nach dem ersten Weltkrieg wurde er zu einem führenden Kopf der Internationalen Friedensbewegung.
1921 gab Ragaz seine Professur auf und zog in ein Züricher Arbeiterviertel, um näher bei den Armen zu sein und sich ganz seinen sozialen und politischen Aktivitäten widmen zu können. Dieses Engagement grundiert auch sein Buch Die Bergpredigt, das 1945, in seinem Todesjahr, erschienen ist. Es ist nicht für ein akademisches Publikum geschrieben, sondern hofft primär auf Leser unter den Menschen, um die sich Ragaz sein ganzes Leben über bemüht hat. Insofern ist das Buch auch die Summe und der Schlussstein seines Wirkens.
Ragaz ist zutiefst überzeugt von der sozialen und politischen Relevanz der Bergpredigt. Deshalb verwirft er Deutungen, die sie auf die religiösen Eliten zentrieren ebenso wie auch solche, die stark auf den Einzelnen und seinen Glauben abheben. Dabei stellt er sich auch gegen Luthers Deutung: Denn für ihn ist die „Gerechtigkeit“, von der Jesus spricht, zuvorderst ein sozialer und politischer Imperativ. Ragaz will eine Neuinterpretation der Bergpredigt, die ihren sozialen Sinn freilegt. Das kommt bereits in den programmatischen Überschriften zum Ausdruck, die er über seine Kapitel setzt. So überschreibt er beispielsweise seine Ausführungen zu den Seligpreisungen mit „Die Magna Charta des Reiches Gottes“ (Kap. 1) oder das Kapitel über die Perikope „Von der rechten Sorge“ (Mt 6,19–34) mit „Der Sturz der Götzen“ und diskutiert dann das Verhältnis von Armut und Reichtum. Das ist die Perikope, die bereits Franziskus von Assisi so inspiriert hatte, und es kommt nicht überraschend, dass sich Ragaz diesem Heiligen besonders verbunden sah – wie auch mit Blick auf Pazifismus und Gewaltlosigkeit mit Leo Tolstoi und Mahatma Gandhi. Zum Leitmotiv seiner Interpretation wird die Seligpreisung der Armen, die die Bergpredigt programmatisch eröffnet. Dabei hält es Ragaz hier mit der lukanischen Version, die von den Armen ohne den vieldeutigen Zusatz „im Geiste“ spricht, den er als Verschiebung des sozialen Profils in Richtung des Spirituellen versteht.
Die von Jesus in seiner Nachfolge als Einlassbedingung für das Reich Gottes geforderte „neue Gerechtigkeit“, die „größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer“ (Mt 5,20), buchstabiert Ragaz mit Blick auf die soziale und politische Wirklichkeit seiner Zeit folgendermaßen aus – und versammelt dabei stichwortartig die zentralen Momente seines Denkens und Handelns: „Gott schafft Freiheit und Menschenwürde. Gott fordert Gerechtigkeit. Gott strahlt Wahrheit aus, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Liberalismus, Demokratie, Sozialismus, Kommunismus – alle recht verstanden – sind solche Ausstrahlungen.“ Wir müssen uns hier auf diese knappe Positionsbestimmung beschränken. So viel dürfte aber jetzt schon deutlich sein: Mit seiner Neuinterpretation, die die Bedeutung und das handlungsleitende Potential der Bergpredigt für die soziale und politische Gegenwart freizulegen sucht, ist Ragaz ein Pionier der politischen Theologie. Seine Neuinterpretation der Bergpredigt und seine zahlreichen anderen Schriften wie auch sein Lebensstil als Armer unter den Armen machen ihn zu einem Vorläufer sowohl der Bewegung Christen für den Sozialismus, die in den frühen 1960er Jahren eine kurze Blüte erlebte, als auch zum Vorläufer, ja womöglich ersten Vertreter der Theologie der Befreiung.
Sein Bergpredigt-Buch lohnt immer noch die Lektüre. Ich selbst fühlte mich sehr an Ragaz erinnert, als vor bald zwanzig Jahren, im April 2004, ein sogenanntes „Dossier“ der Zeitschrift Publik Forum erschienen ist – unter dem Titel „Die Bergpredigt. Vision für das 21. Jahrhundert“. Hätte er es noch erlebt, wäre Leonhard Ragaz ganz sicher unter den Autoren gewesen, ja hätte dieses Heft vielleicht sogar herausgegeben.
Pier Paolo Pasolini
Von Leonhard Ragaz ist es in Sachen Evangelium kein weiter Weg zu Pier Paolo Pasolini (1922–1975), einem der bedeutendsten europäischen Künstler und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Pasolini war katholisch sozialisiert, sagte sich aber später von seinem Glauben los und ordnete sich als Atheist ein. Gleichwohl blieb er innerlich dem Christentum sehr verbunden. Ich denke, die Lossagung hing eng mit seiner Homosexualität zusammen, weil er so wohl seinen durch die damalige katholische Moralität befeuerten, ihn niederdrückenden Schuldgefühlen entkommen zu können glaubte. Pasolini litt ebenso an der (katholischen) Kirche und kritisierte sie beharrlich, wie er gleichzeitig hoffte, diese könne zu einer wichtigen ethischen, sozialen und spirituellen Kraft werden, sobald sie Machtpositionen aufgebe, arm werde und sich von Grund auf erneuere.
Im Jahre 1964 präsentierte Pasolini seine Filmbearbeitung des Matthäusevangeliums, die er dem Andenken an Papst Johannes XXIII. widmete. Wie für Ragaz sind auch für Pasolini Jesu Option für die Armen und die soziale Relevanz seiner Verkündigung von entscheidender Bedeutung. Sein Film Das erste Evangelium – Matthäus partizipiert an der Aufbruchsstimmung des II. Vatikanums und ist ebenfalls ein Präludium der Theologie der Befreiung, jener Bewegung, der zehn Jahre später der Titel des grundlegenden Werkes von Gustavo Gutierrez ihren Namen gegeben hat. Gleichzeitig ist der Film ein künstlerischer Kommentar zum Matthäusevangelium, der auch für die Exegese vielfältige Impulse bereithält.
Obwohl Pasolini grundsätzlich Matthäus eng folgt, erlaubt er sich doch auch bei der Inszenierung und Kontextuierung der Bergpredigt einige interessante Modifikationen und Konkretisierungen. So schiebt er etwa zwischen den Sammelbericht zum ersten Auftreten Jesu (Mt 4,23–25) und den bei Matthäus direkt folgenden Auftakt zur Bergpredigt (Mt 5,1) die „Heilung eines Aussätzigen“ (Mt 8,1–4) ein. Damit bricht er das matthäische Nacheinander von Wort- und Tatverkündigung auf und lässt die Bergpredigt von einem ersten Beispiel von Jesu tätiger Zuwendung zu den Armen, zu denen auch die stigmatisierten Kranken rechneten, umfangen sein. Die Heilung und die Freude über sie wirken dabei wie ein Vorschein auf die Wahrhaftigkeit der Zusagen der anschließenden „Seligpreisungen“. (Die Bergpredigt-Sequenz findet sich auf der DVD von Arthouse – Kinowelt Home Entertainment unter Kap. 7; 38:55–42:34.)
So schlicht Pasolinis Inszenierung der Bergpredigt mit dem frontal in die Kamera sprechenden Jesus auf den ersten Blick auch scheinen mag, so interpretativ wirksam ist sie doch bei näherer Betrachtung:
- Pasolini hat mit künstlerischer Intuition den Kompositionscharakter der Bergpredigt erkannt und schnürt diese Komposition gewissermaßen auf. Er arrangiert die Perikopenfolge teilweise anders und muss natürlich, nicht zuletzt auch aus Zeitgründen, eine Auswahl treffen.
- Die Bergpredigt ist für Pasolini kein einmaliges, großes ‚Event‘. Vielmehr spricht sein Jesus die Worte an den verschiedensten Orten, immer im Freien, zu jeder Tages- und Nachtzeit und quasi bei jedem Wetter.
- Jesu Adressaten kommen nie ins Bild, aber es sind gewiss nicht die religiösen Eliten in den Städten oder im Tempel, und auch die wohlhabenden Gutsbesitzer werden sich kaum zu Jesus hinausbegeben haben. Seine Adressaten sind die Menschen auf dem Land, die von der Steuerlast niedergedrückten Kleinbauern und die ausgebeuteten Tagelöhner. Indirekt wird so die Bergpredigt zu einem basalen Ausdruck von Jesu Option für die Armen.
- Adressaten sind aber besonders auch die Zuschauer im Kino: Jeder einzelne wird direkt von der Leinwand her angesprochen. Damit zielt die Botschaft der Bergpredigt auch direkt in die Gegenwart. Jesus spricht zu uns in Großaufnahmen, wobei seinen Worten oftmals durch kleine Ranfahrten der Kamera oder Zooms noch mehr Eindringlichkeit verliehen wird. Genauso arbeitet Wim Wenders in seinem Film über Papst Franziskus, wenn er diesen immer wieder direkt von der Leinwand zu uns sprechen lässt. Dies ist sicherlich eine Hommage an Pasolinis Matthäusfilm, den Wenders außerordentlich schätzt.
- Jesus spricht seine Worte in einem weiten Fächer von Stimmlagen, wie man einen solchen beim Lesen der Bergpredigt immer als Möglichkeit mitbedenken sollte: Der Bogen reicht von aufmunternd und ermutigend bis zu drängend, fordernd, ja mitunter scharf. Jesus zieht gewissermaßen alle Register, um seine Inhalte wirkungsvoll zu vermitteln.
- Unmittelbar vor dem Ruf in die Entscheidung mit der Perikope „Von den zwei Wegen“ (Mt 7,13–14), mit der Pasolini seine Bergpredigt beschließt, platziert er einen umfänglichen Abschnitt aus der langen Perikope „Von der rechten Sorge“, näherhin deren bündelnden Part in den Versen Mt 6,25–34. Diese prominente Positionierung und die ausführliche Zitation sind auch eine Reverenz Pasolinis an den großen Heiligen aus Assisi, dem diese Worte so wichtig waren. Pasolini lässt sie Jesus mit sanfter, ja uns geradezu zärtlich umwerbender Stimme sprechen und blendet dazu Töne aus dem wunderbaren, meditativen Adagio von Bachs E-Dur-Konzert für Violine und Orchester ein (BWZ 1042). In Pasolinis bekanntermaßen großen Wertschätzung des heiligen Franziskus verbinden sich Spiritualität und Akzentuierung der gesellschaftlich-politischen Relevanz von Jesu Verkündigung, die sich beide in der Bergpredigt verdichten. Nicht zufällig lässt Pasolini in der zentralen Franziskus-Episode seines Films Große Vögel – kleine Vögel (1965), der unmittelbar auf die Evangelienverfilmung folgte, seinen Franziskus Worte aus der sogenannten „Friedensrede“ von Papst Paul VI. vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprechen (am 4. Oktober 1965), in denen dieser die Überwindung von Klassenunterschieden und globale
Gerechtigkeit forderte.
Papst Franziskus
Wie sehr auch er den Heiligen Franziskus verehrt, hat Jorge Mario Bergoglio (geb. 1936) durch die Wahl seines Papstnamens unterstrichen. Den Sonnengesang des Heiligen aus Assisi zitiert der Papst im Titel seiner zweiten, bedeutenden Enzyklika Laudato sì über „die Sorge für das gemeinsame Haus“ (2015), wie ihr Untertitel lautet. Und die franziskanische Schöpfungsspiritualität ist, wie wir sahen, nachhaltig von der Bergpredigt inspiriert: von Jesu Appell, „frei von der Sorge“ zu sein, den er mit dem Lobpreis der Schönheit und der Wohl-Eingerichtetheit der Schöpfung begründet hat. Und diesem Lobpreis ist auch ein starker Imperativ zur Erhaltung der Schöpfung eingeschrieben. Die Bergpredigt grundiert zweifelsohne das gesamte Wirken des Papstes, besonders sein Handeln „ad extra“, d. h. in die Welt hinein: sein Engagement für Frieden, für Geflüchtete, für die Opfer sozialer Ungerechtigkeit u. v. a., wofür ihm weltweit große Anerkenung zuteil wurde und wird. Explizit kommt Papst Franziskus aber vergleichsweise selten auf die Bergpredigt zu sprechen. Tut er dies, dann gilt seine Aufmerksamkeit besonders den „Seligpreisungen“. Bei einer Stadion-Predigt am 1. November 2016 im schwedischen Malmö sagte er einmal in der ihm eigenen etwas saloppen Art, aber doch programmatisch: „Die Seligpreisungen sind in gewisser Weise der Personalausweis des Christen, der ihn als Anhänger Jesu ausweist.“
Den Seligpreisungen widmete der Papst 2018 einen langen Passus in seinem Apostolischen Schreiben Über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute, das er mit Gaudete et exultate (Mt 5,12: „Freut Euch und jubelt“) überschrieben hat, also mit den Anfangsworten der letzten Seligpreisung. Noch deutlicher wird sein persönlicher Zugang zu den Seligpreisungen zwei Jahre später in seiner ihnen gewidmeten, über neun Wochen geführten Katechese bei den Generalaudienzen im Vatikan (online unter: www.vatican.va/content/francesco/de/audiences/2020.html). Hier wird sichtbar, wie sehr Franziskus die Worte Jesu für das Leben der einzelnen Gläubigen bedeutsam zu machen sucht, indem er sie lebenspraktisch und spirituell interpretiert. Verdeutlichen wir uns den Zugang von Papst Franziskus exemplarisch an seinen Worten zu derjenigen Seligpreisung, die seinem Wahlspruch als Papst am nächsten kommt. Dieser zitiert den großen Theologen Beda Venerabilis und lautet Miserando atque eligando, also: „Durch Erbarmen und Erwählung“. Das erste Motto-Wort bestimmt die fünfte Seligpreisung (Mt 5,7): „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.“ Diese Seligpreisung hat, wie Fraziskus bemerkt, eine Sonderstellung, ist sie doch die einzige, in der „die Ursache und die Frucht der Glückseligkeit übereinstimmen.“ (Dieses und die folgenden Zitate stammen aus der Katechese vom 18.3.2020.) Sie ist gesprochen in der für Jesus typischen Sprache der „Wechselseitigkeit“, die wir auch aus dem Vaterunser kennen, aus der Bitte um die Vergebung der Schuld, oder wenn Jesus sagt: „Seid barmherzig, wie auch Euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,36)
Barmherzigkeit begreift Franziskus zuvorderst als Vergebung, und Vergebung empfangen hänge untrennbar mit dem Gewähren von Vergebung zusammen. Franzskus weiß um die großen Schwierigkeiten, vergeben zu können, und dass es dazu auch der Gnade Gottes bedarf. Aber er erinnert daran: „Wir alle sind Schuldner, wir alle stehen im ‚Defizit‘ im Leben. Und wir brauchen Barmherzigkeit.“ Um zu unterstreichen, wie wichtig ihm das Vergeben ist, erinnert der Papst bei dieser Gelegenheit an sein erstes Angelus-Gebet auf dem Petersplatz als neugewählter Papst (am 17. März 2013) vor weit über 100.000 Gläubigen. Das Sonntagsevangelium war damals die Episode von der Ehebrecherin, der Jesus vergeben hat und die er mit seinen berühmten Worten gerettet hat: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ (Joh 8,7) Seit jenem Angelus sei die Barmherzigkeit das Leitmotiv seines Pontifikats geblieben. Er habe gespürt, so sagt er: „dass dies die Botschaft ist, die ich […] vermitteln muss: Barmherzigkeit, Vergebung.“ Denn: „Die Barmherzigkeit ist nicht irgendeine Dimension unter anderen, sondern sie ist der Mittelpunkt des christlichen Lebens.“ Mehr noch: „Sie ist wie die Luft zum Atmen.“
Hoffen wir, dass sich Past Franziskus an diese Worte erinnert, wenn es heute, zehn Jahre nach seinem ersten Angelus, um seine Reaktion auf die Beschlüsse unseres Synodalen Wegs geht!
Abschluss
Noch viele andere Rezeptionen der Bergpredigt hätten es verdient, vorgestellt zu werden: Etwa die Interpretation von Albert Schweitzer, der die große Rede Jesu als Herzstück einer Interimsethik begriffen hat, gesprochen in Erwartung der nahe bevorstehenden Vollendung der Herrschaft Gottes. Oder die Bedeutung der Bergpredigt für Leo Tolstoi, Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Alle drei haben besonders auf Jesu Forderungen der Gewaltlosigkeit und Feindesliebe abgehoben und diese als gewaltfreien Widerstand gegen Kolonialherrschaft (Gandhi) oder Rassismus (King) gelebt. Interessant wäre auch eine Diskussion solcher Sichtweisen gewesen, die gegenüber der Bergpredigt reserviert bis ablehnend waren. So sprach ihr Max Weber auf weite Strecken eine handlungsleitende Relevanz ab, war er doch beispielsweise überzeugt, dass dem Übel nur mit Gewalt widerstanden werden könne. Der wohl radikalste Verächter der Bergpredigt war Friedrich Nietzsche, der sie als Ausdruck einer „Sklavenmoral“ verwarf. – Bereits unser kleiner, fragmentierter Streifzug durch die Auslegungsgeschichte der Berpredigt dürfte aber den enormen Pluralismus, wo nicht die Heterogeniät der Perspektiven auf diesen Schlüsseltext deutlich gemacht haben. Anders, positiv gewendet kann man auch sagen: Die Auslegungsgeschichte enthüllt die Dynamik des Sinns, das schier unauslotbare Sinnpotential der Bergpredigt und biblischer Texte überhaupt. Auf neue Fragestellungen, auf Blicke aus den unterschiedlichsten zeitlichen, räumlichen und gesellschaftlich-politischen Kontexten geben die biblischen Texte immer neue Antworten. Nicht alle von ihnen lassen sich nach heutigen exegetischen Kriterien aufrecht halten, vieles ist spannungsvoll, wo nicht widersprüchlich. Aber dem ungeachtet ist die Vielfalt der Zugänge zur Bergpredigt doch ein eindrucksvoller Spiegel des immer neuen Ringens um das rechte Verständnis dieses herausfordernden Textes. Und damit ein Ausdruck der überragenden Relevanz, die man ihm immer zugesprochen hat.
Wenn Martin Stiewe und François Vouga den Titel ihres schönen Buchs Die Bergpredigt und ihre Rezption um den Untertitel als kurze Darstellung des Christentums verlängern, dann trifft diese den Punkt. Der Pluralismus der Auslegungen und ihre jeweiligen geschichtlichen Bedingtheiten sind in unserer heutigen Situation, da die Kirche wichtige Aufbrüche wagen muss, eine Ermutigung und implizit ein Appell: Lebendig bleibt wie ein Textverstehen auch eine Institution nur, wenn sie sich nicht auf vermeintlich unveränderbare Sichtweisen
fixiert, sondern offen für neue Orientierungen ist, die die „Zeichen der Zeit“ nicht nur wahrnehmen, sondern couragiert auf diese reagieren.