Bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es im Umfeld des Nato-Doppelbeschlusses von 1979 eine erste Hochphase der öffentlichen friedensethischen Debatte. Der theologische Hintergrund dieser Debatte war neben allen systematischen Überlegungen vor allem die zentrale Aufforderung des II. Vatikanischen Konzils, Moraltheologie (und Sozialethik) stärker biblisch zu fundieren.
Die aktuellen Ereignisse werfen solche drängenden Fragen erneut auf. Der Ukrainekrieg macht deutlich, dass unser mühsam, auch auf theologisch-biblischer Basis gewonnenes Verständnis von Gewaltverzicht und Feindesliebe höchst fragil ist. Unsere schon nahezu für selbstverständlich gehaltenen Parameter scheinen nicht mehr zu passen, wenn plötzlich in unserer direkten europäischen Nachbarschaft Krieg ausbricht und die Frage nach dem Überleben der Bevölkerung eines ganzen Staates und des Staates selbst praktische Antworten fordert, die gleichwohl auf eine ethisch begründete Entscheidung drängen.
Was hat uns in solche herausfordernden Kontexte hinein die Bergpredigt zu sagen? Ist sie konkret politisch-programmatisch relevant oder kann sie überhaupt nur Bedeutung für den privaten Bereich entfalten? Ist sie ein unverzichtbarer politischer Impulsgeber oder doch nur ein schwärmerisches Ideal?
Um diese Fragen zu beantworten, wird (1.) die friedensethische Bedeutung der Bergpredigt untersucht, um dann (2.) christlich-sozialethische Theorieelemente zu Fragen von Krieg und Frieden aufzuzeigen und dies abzugleichen mit den Ergebnissen der biblischen Überlegungen. (3.) wird dann der Blick auf die Fragen des aktuellen Ukrainekriegs sowie die Bedeutung der friedensethischen, auch neutestamentlich gegründeten Debatte, gerichtet, um dann am Ende ein Fazit zu ziehen im Blick auf die im Titel gestellte Frage.
Die friedensethische Bedeutung der Bergpredigt
Die Bergpredigt als das Herzstück des Neuen Testaments und die „Magna Charta“ des Christentums spricht tatsächlich von der „größeren Gerechtigkeit“ (Mt 5,20), die durch das Tun der Jünger Jesu sichtbar wird und mehr sein soll als Gesetzeserfüllung. Auch wenn ein Blick in die Realität nur allzu deutlich zeigt, dass christliche Kirchen und ihre Gläubigen hinter diesem Anspruch immer wieder zurückbleiben, mindert das den ethisch-moralischen Anspruch der Bergpredigt in keiner Weise. Dabei gibt sie keine vorschnellen und fertigen Antworten als politische Konzepte oder Handlungsanweisungen, sondern verunsichert und bleibt ein Stachel im Fleisch.
Für die aktuellen und systematischen Fragen einer christlichen Friedensethik, die sich zusammenfassen lassen in den Stichworten von Gewaltlosigkeit, Sanftmut und Feindesliebe, soll nun im Folgenden auf die entsprechenden Textpassagen der Bergpredigt eingegangen werden.
Das Gebot der Gewaltlosigkeit oder der „Dritte Weg“ zum Frieden
Eine der zentralen Forderungen der Bergpredigt ist die der Gewaltlosigkeit in der fünften Antithese: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“ (Mt 5,38f) Diese Forderung meint mehr als passive, wehrlose Hinnahme des Bösen. „Die Darreichung der linken Backe ist vielmehr ‚die den ‘Gegner’ überraschende, entwaffnende Reaktion, die seine Bosheit, nicht ihn selbst, überwinden und ein friedliches Einvernehmen herbeiführen will‘“ (mit Bezug auf Joachim Gnilka, Schockenhoff, S. 468).
Im alttestamentlichen Talionsgesetz, das die Formel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ meint, artikuliert sich auch schon das Bemühen um Deeskalation. Im Unterschied zu unbegrenzter Rache darf die Rache den Schaden, der durch die Tat angerichtet wurde, nicht überschreiten. Gefordert wird Verhältnismäßigkeit. Während in der antiken griechisch-römischen und auch in der jüdischen Ethik mehrfach das Erdulden von Unrecht eingefordert wird, geht der Inhalt der 5. Antithese der Bergpredigt deutlich darüber hinaus, insofern, als sie ein aktives Auf-sich-Laden des Unrechts verlangt. Es geht in der 5. Antithese also um den aktiven Modus der entwaffnenden Überraschung: im Hinhalten der anderen Wange, im Hergeben des ganzen Mantels, wenn der Gegner im Prozess das Hemd nehmen will, und schließlich in der Extrameile, was das zusätzliche Tragen von Lasten auf dieser längeren Wegstrecke bedeutet. Als gemeinsamer Grundzug dieser Beispiele ist die „entwaffnende Reaktion“ (Schockenhoff, S. 469) zu nennen, die im Gegensatz zur Erwartung des Gegenübers steht. Dies sei, so Schockenhoff, der Weg Jesu, den er selbst durch den freiwilligen Tod am Kreuz gewählt habe, mit dem er letztlich die Gottlosen für Gott gewinnen wollte.
Entscheidend ist, nicht einfach keinen Widerstand zu leisten, sondern intendiert ist die Unterbrechung der Gewaltspirale durch nicht-gewaltsamen Widerstand gegen Unrecht. Weil die Reaktion unerwartet ist für den Gegner, ist das Entscheidende eben dieses Moment der Irritation, wodurch der Angreifer dazu gebracht werden soll, innezuhalten und von der Gewalttätigkeit abzulassen. Gemeint ist gerade nicht der Einstieg in eine Opfer- oder Märtyrerrolle, sondern die Hoffnung auf eine Verhaltensänderung des Gegners. Eberhard Schockenhoff spricht in diesem Zusammenhang von einem „dritten Weg“ (Schockenhoff, S. 469) zum Frieden, der weder passives Hinnehmen noch gewaltsame Revolte meint, sondern den „paradoxen Versuch, sich gegenüber dem Bösen am Ende durchzusetzen, ohne seine Mittel zu gebrauchen“ (Schockenhoff, S. 470).
Analoges gilt für die siebte Seligpreisung der Friedensstifter („Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.“ Mt 5,9): Auch hier können wir diesen „Dritten Weg“ erkennen: Nicht eine Kapitulation vor dem Bösen ist gemeint, nicht ein Vermeiden von Konflikten, sondern ein aktives Sich-Einsetzen für den Frieden und seine Wiederherstellung.
Der Lobpreis der Sanftmut
Der Lobpreis der Sanftmut in der dritten Seligpreisung meint ebenfalls eine Haltung, die gleichsam die Kehrseite der Medaille der Gewaltlosigkeit darstellt. Beschrieben ist damit ein konsequenter, durch den Verzicht auf den Einsatz von Gewalt zur Erreichung eigener Ziele bestimmter Lebensstil, der einen Mittelweg (oder einen Dritten Weg) zwischen jähzornigem Aufbrausen und der eben genannten Passivität des Geschehen-Lassens darstellt.
Die in dieser Seligpreisung proklamierte Sanftmut sowie der in der Antithese gebotene Gewaltverzicht meint selbstverständlich in einem ersten Schritt, dass die Anwendung militärischer Gewalt ausgeschlossen ist. Aber darüber hinaus gibt es auch noch einen weiteren Sinn. Es geht um die Forderung nach einer grundlegenden Haltung, die noch einmal kulminiert im Gebot der Feindesliebe.
Das Gebot der Feindesliebe
Als höchstes Gebot Jesu ist die „Spitzenforderung der Feindesliebe“ (R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments. Band 1, Neubearbeitung; Freiburg 1986, S. 32) zu nennen, die am Ende der Reihe der Antithesen steht und zugleich deren Mittel- und Höhepunkt bildet. Dieser geht es darum, Maß zu nehmen an Jesus, der in seinem Verhalten den Menschen zeigt, wie Gott ist.
Diese Forderung erlaubt keine Begrenzung der Geltung und keine Einschränkung der Gruppen der Feinde. Der Geltungsanspruch des Gebots der Feindesliebe ist vor einem universalen Horizont zu lesen, damit steht es im Gegensatz zu allen partikularistischen Einschränkungen des Liebesgebots, die sowohl im damaligen Judentum als auch heute vertreten wurden bzw. werden. Es kann auch keinerlei Begrenzung der Gültigkeit nur auf den privaten Bereich bzw. auf den persönlichen, individuellen Feind geben, während der politische Feind von dem Gebot nicht erfasst wäre. Besonders prominent findet sich diese Position bei dem Staatsrechtler Carl Schmitt, für den klar scheint, dass hiermit keinesfalls der öffentliche Feind (hostis) gemeint sein kann, sondern nur der inimicus. Wenn es aber eine Universalisierungstendenz und die unbegrenzte Liebe und Zuwendung Gottes zu allen Menschen gibt, dann reicht eine nur in wenigen Sprachen anzutreffende semantische Differenzierung nicht aus, um dieses Gebot der Feindesliebe begrenzend zu interpretieren. Vielmehr gilt dieses Gebot, das die Nachahmung der Barmherzigkeit Gottes meint, auf allen Ebenen und in allen Bezügen.
Das allerdings bedeutet nicht, Feinde in ihren Aktivitäten gegen uns als Einzelne oder auch als gesamtes Volk zu unterstützen. Das stünde diametral im Gegensatz zur Gerechtigkeit, die im Reich Gottes herrschen soll. Es geht auch nicht darum, den Feind um des von ihm begangenen Bösen willen zu lieben. Das würde nämlich eine völlige Überforderung bedeuten. Vielmehr rekurriert dieses Gebot auf das gemeinsame Menschsein, das uns auch mit dem Feind verbindet (vgl. Schockenhoff, S. 477). Auch hier ist die Intention, den Feind zu einem Gesinnungswandel zu bringen, seine Bosheit zu überwinden und ihn letztlich dazu zu führen, dass er einen anderen Weg, den der Versöhnung, beschreitet.
Entscheidend ist, dass die von Jesus in der Bergpredigt geforderte Feindesliebe von Anfang an auch eine öffentlich-politische Dimension impliziert, die auch über nationale Grenzen hinausweist.
Krieg und Frieden in der Perspektive der christlichen Sozialethik
Wenn wir nun nach der Bedeutung der Bergpredigt für die Friedenslehre der katholischen Kirche fragen, dann lässt sich zunächst eine deutliche Diskrepanz feststellen. Die über viele Jahrhunderte hinweg gültige und immer weiter entwickelte Lehre vom „bellum iustum“, vom „gerechten Krieg“ scheint kaum etwas von der Sanftmut, der Aufforderung zum Gewaltverzicht und dem Gebot der Feindesliebe zu atmen.
Die Lehre vom gerechten Krieg
Als Voraussetzung dieser Lehre ist zu bedenken, dass sie nicht jeden Krieg moralisch und rechtlich legitimieren wollte, sondern dass es ihr Ziel war, die Willkür von Fürsten bei der Begründung und Durchführung von Krieg einzuschränken. Der Hintergrund war auch hier zumindest Kriegsvermeidung, auch wenn das beileibe nicht der Friedensvorstellung der Bergpredigt entspricht. Die Kriterien für einen gerechten Krieg sind: (1) Es braucht eine legitime Autorität bzw. rechtmäßige Gewalt, die den Krieg erklärt. (2) Es muss einen gerechten, d. h. zulässigen Grund geben. Schlechte Motive wie Habgier, Neid, Hass, Rache etc. sollten damit ausgeschlossen werden. (3) Es ist ein angemessenes Verhältnis zwischen dem durch das Unrecht entstandenen Schaden und dem durch den Krieg verursachten und in Kauf genommenen Schaden notwendig. Damit geht es um die Verhältnismäßigkeit der Mittel, die den Einsatz militärischer Gewalt auf ein unbedingt erforderliches Mindestmaß begrenzt. (4) Der Krieg stellt die ultima ratio, das letzte Mittel dar, um verlorengegangenes Recht wiederherzustellen. (5) Schließlich muss es eine Friedensperspektive geben. Insgesamt ist hier allerdings festzuhalten, dass es nicht um die Herstellung einer langfristigen und dauerhaften Friedensordnung geht.
In der jüngsten Sozialenzyklika von Papst Franziskus, Fratelli tutti von 2020, lässt sich im Blick auf diese Lehre vom gerechten Krieg Lehrentwicklung aufzeigen: Franziskus verweist auf den Katechismus der Katholischen Kirche und die dort skizzierte Lehre „von der Möglichkeit einer legitimen Verteidigung mit militärischer Gewalt“ (FT 258), formuliert aber genau hier die Notwendigkeit, die Lehre zu ändern, denn offenkundig rechtfertige man unzulässigerweise mit fadenscheinigen Gründen jede Form kriegerischer Handlungen (vgl. FT 258). Ein zweiter Grund für die Änderung der Lehre ist die „Entwicklung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen“ (FT 258). Dadurch könne ein Krieg nur allzu leicht völlig außer Kontrolle geraten. Deswegen sei es heute eigentlich unmöglich, sich auf klassische Argumente der Lehre vom gerechten Krieg zu stützen. „Nie wieder Krieg!“ ist sein klares Fazit!
Die Lehre vom gerechten Frieden
Die Terminologie signalisiert bereits einen Paradigmenwechsel. Bei Papst Franziskus taucht der Begriff vom gerechten Frieden nicht auf, aber er nimmt einen wesentlichen Impuls dieser Lehre auf, wenn er in Fratelli tutti den Vorschlag macht, „mit dem Geld, das für Waffen und andere Militärausgaben verwendet wird, […] einen Weltfonds ein(zurichten), um dem Hunger ein für alle Mal ein Ende zu setzen und die Entwicklung der ärmsten Länder zu fördern“ (FT 262).
Dieser Paradigmenwechsel wird katholischerseits bereits angebahnt in der Enzyklika Pacem in terris (1963) von Papst Johannes XXIII., in der die Menschenrechte für eine gerechte Gesellschaftsordnung stark gemacht werden. Er findet dann seinen Niederschlag in zwei Hirtenworten der Deutschen Bischöfe: 1983 Gerechtigkeit schafft Frieden und 2000 Gerechter Friede. Auch von evangelischer und ökumenischer Seite gibt es diverse Texte, die das Konzept entfalten und systematisieren.
Die Kernelemente des Konzepts fasst Eberhard Schockenhoff in seiner Friedensethik in vier Säulen zusammen: (1) Weltweiter Schutz der Menschenrechte, Entwicklungsförderung und Armutsbekämpfung, Durchsetzung des internationalen Gemeinwohls sowie die weltweite Perspektive von Gerechtigkeit und Solidarität, (2) Demokratieförderung und Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen (3) Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Industrialisierung und Welthandel (4) Ausbau supranationaler Verflechtung. Dabei sind durchgängig wichtige Linien zu beachten: der prinzipielle Vorrang der Gewaltprävention, die Aufarbeitung zurückliegender Konflikte als Vorsorge gegen die Entstehung neuer Konfliktherde, die Bekämpfung struktureller Gewaltursachen und die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure.
Wesentlich für die Entwicklung und Konkretisierung dieses Konzepts des gerechten Friedens waren Anstöße aus dem auch biblisch begründeten Pazifismus, der speziell in den 1980er Jahren, im Umfeld des Nato-Doppelbeschlusses, intensiv weiterentwickelt wurde. Im Folgenden bleibt im Blick auf das Konzept des gerechten Friedens nun erneut die Frage nach der Verbindung zur Bergpredigt zu stellen.
Die Übertragbarkeit biblischer Kernaussagen auf heutige Fragestellungen?
Die Plural-Formulierung der Forderungen der Bergpredigt bei Matthäus zeigt, dass es hier um Haltungen geht, die nur in einer Gemeinschaft von Individuen eingenommen werden können − vielleicht analog zur Aussage Friedrich Schillers in Wilhelm Tell „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Bei den Aussagen und Geboten der Bergpredigt geht es nicht um einzelne Taten, sondern um einen Lebensstil, der primär die Ebene individuellen Lebens betrifft. Diese Forderungen und Gebote der Bergpredigt können daher nicht einfach in einem nächsten Schritt auf eine strukturelle bzw. Makroebene übertragen werden. Dennoch darf und kann ein solcher Lebensstil der Gewaltlosigkeit, Sanftmut und Feindesliebe nicht bedeutungslos bleiben für gesellschaftliche und politische Fragen. Damit würde man nämlich dann doch einer kompletten Diastase von persönlichem und öffentlichem Leben (wie bei Carl Schmitt) oder „normalem“ und besonderem christlichen Leben (wie etwa im Blick auf die klösterliche Existenzform im Mittelalter zu finden) das Wort reden. „Eine Scheidung zwischen Individual- und Sozialethik ist nicht möglich, weil Jesu Botschaft das umfassende Reich zum Ziel hat, also auch die menschliche Gesellschaft betrifft.“ (Schnackenburg, S. 123)
Vor dem Hintergrund lassen sich aus der Bergpredigt folgende, auch gesellschaftlich und politisch relevante Folgerungen ableiten: Die größtmögliche friedfertige Haltung ist einzunehmen; die Anwendung militärischer Gewalt ist vor dem Hintergrund zu vermeiden. Zudem stehen die friedensethischen Gebote der Bergpredigt für den „Dritten Weg“ zwischen passivem Pazifismus und gewaltsamer Revolte, das heißt: Es geht nicht um das Erdulden von Unrecht, sondern um eine entwaffnende Reaktion, die die Gewaltspirale unterbricht.
Legen wir diese Kriterien nun an das Konzept des gerechten Friedens an, so zeigt sich, dass dieses durchaus in der Linie der Bergpredigt gelesen werden kann: Entscheidend ist, dass die Lehre vom gerechten Krieg die Anwendung militärischer Gewalt zwar eindämmen, aber nicht eliminieren will, während das Konzept des gerechten Friedens ein ehrgeizigeres Ziel verfolgt, nämlich die endgültige Überwindung von Gewalt (vgl. Schockenhoff, S. 671). Zahlreiche rechtsstaatliche, wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen sind impliziert, um eine Gewaltspirale überhaupt zu verhindern oder zumindest zu unterbrechen. Frieden bedeutet nicht allein das Schweigen der Waffen, sondern es geht um ein umfassenderes Konzept, dessen Ziel es ist, die biblische Friedenshoffnung auszubuchstabieren und zu Schritten zu ermutigen, die jetzt schon, wenn auch nur bruchstückhaft und vorläufig, aber doch möglich sind (vgl. Schockenhoff, S. 515).
Und die Realität des Krieges in der Ukraine?
Bereits 1986 − im zeitlichen Nachgang zu der hitzigen Debatte um den Nato-Doppelbeschluss − formulierte der Neutestamentler Rudolf Schnackenburg die Spannung, die uns gerade jetzt, seit dem 24. Februar 2022, als Dilemma im Blick auf die politische Realität wieder einholt: „Das politische Handeln darf sich der Radikalität des von Jesus geforderten Gewaltverzichts nicht entziehen und muss doch das Risiko der Existenzbedrohung von Staaten und Völkern durch ungezügelte Gewalt bedenken.“ (Schnackenburg, S. 121)
Zur realitätsorientierten Neujustierung christlicher Friedensethik
Diese wieder hoch aktuelle Spannung führt im christlich-sozialethischen Fachdiskurs zu der Anfrage, wie viel denn die friedensethischen Überlegungen der vergangenen Jahre noch wert sind angesichts des neuen Bedrohungsszenarios. Markus Vogt etwa konstatiert „eine signifikante Lücke in der ethischen Debatte“ (Christsein in einer fragilen Welt, 2022. Online verfügbar unter https://www.feinschwarz.net/christsein-in-einer-fragilen-welt, 2), denn die Fragen einer Friedensethik als Sicherheitsethik hätten vielmehr als eigenständiges Thema wahrgenommen werden müssen.
Was bedeuten diese Erkenntnisse? Realpolitisch hat der deutsche Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 von einer Zeitenwende gesprochen, die auch darin zum Ausdruck kommt, dass Deutschland nun definitiv seine bisherige Position geändert hat und Waffen an die Ukraine liefert. Argumentativ läuft die Begründung auf die Befähigung der Ukraine zur Selbstverteidigung hinaus, so dass sie überhaupt eine Chance auf Überleben hat – als einzelne Personen und als Staat.
„Nie wieder Krieg“ oder „Realpazifismus“?
Ist nun mit dem Beschluss zu solchen Waffenlieferungen das ethische Konzept des gerechten Friedens obsolet geworden? In der Tat sprengt der Gedanke der Zurückdrängung von Gewalt durch Gewalt den ursprünglichen Rahmen des Konzepts vom gerechten Frieden.
In der Enzyklika Fratelli tutti (2020) von Papst Franziskus findet sich in puncto Waffen eine klare pazifistische Positionierung: Im Blick auf die katastrophalen humanitären und ökologischen Konsequenzen eines potentiellen Einsatzes von Atomwaffen, angesichts der Fragilität einer auf Angst und Abschreckung gebauten Ordnung besteht seiner Auffassung nach die Herausforderung und moralische sowie humanitäre Pflicht, atomare Waffen vollkommen abzuschaffen (vgl. FT 262). Mit seiner pazifistischen Ablehnung jeglicher Kriegsführung, wie sie im Dreiwortsatz „Nie wieder Krieg!“ zum Ausdruck kommt, bleibt er dem Konzept des gerechten Friedens treu, aber der Realität hält diese päpstliche Auffassung nicht stand (vgl. Vogt, S. 3).
Zum einen ist im Blick zu behalten, dass es dem Papst in Fratelli tutti um die Sorge um die Menschen, um das universale Gemeinwohl und den Kollateralschaden, den der Krieg den Menschen und der Schöpfung zufügt, geht. Aus der Perspektive der Ethik-Theorie handelt es sich bei der Aussage „Nie wieder Krieg“ um eine Zielgröße, nicht um eine Handlungsanweisung.
Zum anderen finden sich in unterschiedlichen Aussagen des Papstes auch konkrete Äußerungen zum Krieg in der Ukraine: Zwar hält er weiterhin Waffenlieferungen für unmoralisch, aber zugleich unterstreicht er das Recht jedes Landes auf Selbstverteidigung. Selbst der Pazifist Franz Alt formuliert diese Problematik. Seine Antwort: „Vielleicht brauchen wir jetzt einen Umweg. Kurzfristig ‚Frieden schaffen mit Waffen‘, um das langfristige Ziel ‚Frieden schaffen ohne Waffen‘ zu erreichen. Das wäre ein differenzierter Pazifismus – ich nenne ihn Realpazifismus.“ (Frieden ist noch immer möglich. Die Kraft der Bergpredigt, Freiburg 2022, S. 46)
Renaissance des Konzepts vom gerechten Krieg oder Weiterentwicklung des Konzepts vom gerechten Frieden?
In der ethischen Fachdebatte ist die Diskussion um die beiden Theorieansätze des gerechten Krieges und des gerechten Friedens wieder aufgeflackert, aber letztlich läuft es nicht auf eine Ehrenrettung des früheren Ansatzes vom gerechten Krieg hinaus. Sicher besteht die Notwendigkeit, das bislang unterbelichtete Element der notwendigen Selbstverteidigung auch mit Waffen in den Ansatz vom gerechten Frieden zu integrieren, den Ansatz also weiterzuentwickeln mit Hilfe der Unterscheidung zwischen illegitimer und legitimer Gewaltanwendung. Auf die aktuellen und neuen Herausforderungen, seien es die des Ukrainekriegs, die der humanitären Interventionen oder die des Kriegs gegen den Terrorismus, sind Antworten zu entwickeln. Es müssen Argumente für begrenzte kriegerische Handlungen zum peace-making integriert werden, nicht aber, ohne das peace-building, also das Gestalten einer längerfristigen und umfassenderen Friedensordnung im Blick zu behalten. Es geht nie ausschließlich um die militärische Verteidigung und die Frage der Waffenlieferung, sondern vielmehr auch darum, die Zeit nach dem Krieg und – im Blick auf den Ukrainekrieg − hoffentlich auch nach Putin in den Blick zu nehmen. Der theologische Friedensforscher Heinz-Gerhard Justenhoven betont mit Recht, dass es ebenso entscheidend ist, mit den Ukrainern und den Teilen der russischen Zivilgesellschaft, die Putins Krieg ablehnen, über die gemeinsame (europäische) Zukunft im Gespräch zu bleiben (vgl. Der Drang nach Freiheit. Zum Krieg in der Ukraine, in: Herder Korrespondenz 4/2022, Jg. 76, S. 13–15.).
Das so weiterentwickelte Konzept des gerechten Friedens, das das der politischen Realität verpflichtete Element der Verteidigung auch mit Waffen integriert, ist nicht zu verstehen als Anleihe bei der Theorie vom gerechten Krieg, denn das Ziel, von dem her gedacht wird, bleibt das des Friedens, nicht der Rechtfertigung eines (Verteidigungs-)Krieges. Genau in dieser Zielperspektive des Friedens besteht dann auch die Ausrichtung an der Bergpredigt und ihrer Seligpreisung derer, die den Frieden suchen und stiften. Ein entscheidender Fortschritt dieser weiterentwickelten Konzeption vom gerechten Frieden ist die Erkenntnis, dass es sich bei der Vorstellung um den völligen Verzicht auf Gewaltanwendung um eine Idealvorstellung handelt, in der es keinen Krieg mehr geben kann. Bei dieser Idealvorstellung kann, ohne den Kern der Aussagen einschränken zu wollen, das langfristige Ziel als eine regulative Idee bezeichnet werden, d. h. als eine normative Leitidee, deren Umsetzung wir als Menschen nicht vollständig schaffen können, die aber dennoch notwendig ist, um uns daran auszurichten.
Noch einmal: Die Bedeutung der Bergpredigt in diesen Kontexten
Die Bergpredigt ist keine Anleitung zum Weltfrieden, sie stellt kein Rezeptbuch dar, dessen einzelne Schritte nur nacheinander abzuarbeiten wären, um den Weltfrieden dann quasi automatisch hergestellt zu haben. Wohl aber sind ihre Impulse und regulativen Ideen unverzichtbar auch im Blick auf Fragen einer Friedensethik für die moderne Welt. Denn die jesuanische Friedensethik weiß um die Verfasstheit des Menschen, der zum Schlechten, aber auch zum Guten fähig ist. Sie traut den Menschen viel zu (vgl. Alt, S. 53): nämlich grundsätzlich friedens- und versöhnungsbereit zu sein, so gewaltfrei wie möglich zu handeln, immer wieder neu den Mut zum ersten Schritt aufzubringen und last but not least: die Hoffnung nie aufzugeben − im Wissen darum, dass die Menschen nicht die Vollendung durch eigene Kraft und eigenes Tun erreichen können und auch nicht müssen, sondern dass schon viel gewonnen ist, wenn ein kleiner Schritt in Richtung Frieden erfolgreich war (Heribert Prantl spricht in der Süddeutschen Zeitung einmal vom „Kleinen Pazifismus“). Dass wir gerade aufgrund dieser Hoffnung aber auch zugleich aufgefordert sind, aus dem Geist der Bergpredigt heraus alles zu tun, was uns möglich ist, gehört als Kehrseite der Medaille ebenso zur Botschaft!
Es ist schließlich und nicht zuletzt die Hoffnung auf eine Gerechtigkeit, die unseren Horizont übersteigt, die Hoffnung auf ewigen Frieden bei und mit Gott.