Wenn wir nach den Schutzmechanismen fragen, die sich das Grundgesetz selbst gegeben hat, so fallen sogleich zwei verschiedene Normen bzw. Normkomplexe ins Auge. Ihre verbindende Klammer besteht darin, dass es sich bei beiden um Verfassungsschutzbestimmungen handelt – Verfassungsschutz hier in einem denkbar weiten Sinne verstanden. Diese beiden Komplexe werden oft in einem Atemzug genannt, ja nicht selten sogar miteinander identifiziert. Tatsächlich aber handelt es sich bei beiden um zwei durchaus verschiedene, sich beim Schutzgut teilweise miteinander überschneidende Regelungen. Worum geht es?
Art. 79 Abs. 3 GG und die wehrhafte Demokratie
Es geht einmal um Art. 79 Abs. 3 GG, die sogenannte Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes. Sie entzieht bestimmte Normgehalte dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers und stellt sie insoweit unter Ewigkeitsschutz. Abgesehen von der föderalen Grundordnung des Grundgesetzes, die gleich mehrfach in Art. 79 Abs. 3 GG genannt wird, sind es vor allem die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG, die von der Ewigkeitsgarantie umfasst werden – Art. 1 und 20 GG wohlgemerkt, nicht (typischer Anfängerfehler im ersten oder zweiten Jurasemester) Art. 1 bis 20 GG! Gesichert sind somit durch Art. 1 GG die Garantie der Menschenwürde, der Menschenrechtsbezug sowie die unmittelbare Geltung der Grundrechte, durch Art. 20 GG die Verfassungsprinzipien der Demokratie, des Rechts- und Sozialstaates, der Republik und des Bundesstaates. Es geht also nicht nur, aber auch und vielleicht vor allem um die institutionelle Sicherung der Existenzvoraussetzungen verfassungsstaatlicher Freiheit.
Worin liegt der Sinn dieser Bestimmung? Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren nicht so naiv zu glauben, mit ihr eine standhafte Mauer gegen revolutionäre Umstürze aller Art oder auch nur gegen eine breite antidemokratische Mehrheit in Volk und Parlament errichtet zu haben. Denn natürlich kann eine Verfassungsnorm den
revolutionären Ernstfall nicht verhindern. Aber man wollte doch, historischer Erfahrungen eingedenk, den Systembruch markieren, wollte einem denkbaren fundamentalen Wandel die Maske der Legalität vom Gesicht reißen und ihm den Schutz der Scheinlegalität nehmen. Die neue Ordnung sollte sich nicht als formal-legale Weiterentwicklung der bestehenden ausgeben und sich von dieser legitimatorischen Kredit erborgen können, sondern zum Ausweis eigener Legitimitätskriterien und zum normativen Selbststand gezwungen werden. Oder ganz einfach gesagt: Der fundamentale Wandlungsprozess sollte sich nicht hinter der Legitimität des Grundgesetzes verstecken.
Wichtig zu sehen ist, dass sich Art. 79 Abs. 3 GG an den verfassungsändernden Gesetzgeber wendet. Er wird gebunden. Ihm werden unübersteigbare materielle Schranken gezogen. Die potentielle Gefahr, der die Norm Herr werden soll, geht also von Bundesrat und Bundestag aus. Dabei richtet sich die Norm nicht allein gegen den beabsichtigten Verfassungsbruch oder gegen die gezielte Verletzung bestimmter Verfassungsprinzipien, sondern auch gegen den gewissermaßen irrenden Gesetzgeber, der trotz fehlender umstürzlerischer Intentionen einen der genannten Grundsätze verletzt. Wir müssen allerdings festhalten, dass es in der 75jährigen Geschichte des Grundgesetzes trotz unzähliger Änderungen noch keine einzige vom Bundesverfassungsgericht als Verstoß gegen die Ewigkeitsgarantie beanstandet wurde.
Der zweite Regelungskomplex, den man als Selbstschutzmechanismus ansprechen kann, ist die wehrhafte Demokratie, die vor allem in den Normen der Art. 9 Abs. 2, 18 und 21 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommt. Die wichtigste Differenz zur Ewigkeitsklausel besteht im Adressaten dieser Normen. Denn jetzt geht es nicht um den Schutz der Verfassung vor staatlichen Institutionen und deren Normgebung, sondern um gesellschaftliche Akteure. Es sind Privatpersonen bzw. Vereinigungen oder gar politische Parteien, die ins Visier genommen und gegebenenfalls aus dem politischen Diskussions- und Kommunikationszusammenhang ausgeschlossen werden. Formelhaft verkürzt: Die Werthaftigkeit des Art. 79 Abs. 3 GG steigert sich zur Wehrhaftigkeit der Art. 9, 18 und 21 GG. Während die Ewigkeitsgarantie tragende Strukturprinzipien der Verfassung der Disposition der Staatsorgane entzieht, beschränkt die wehrhafte Demokratie die Willensbildung in der Gesellschaft.
Dass in diesem Zugriff auf die gesellschaftliche Basis der Demokratie ein großes Problem liegt, wird uns sogleich noch näher beschäftigen. Wir wollen aber zunächst als zweite Differenz zur Ewigkeitsklausel festhalten, dass das Schutzgut beider nicht identisch ist. Das Schutzgut der Normen der wehrhaften Demokratie ist die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes. Darunter versteht man die zentralen Elemente von Rechtsstaat und Demokratie – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Art. 79 Abs. 3 GG aber schützt, wie gesehen, zusätzlich noch den Sozialstaat, die Republik und den Bundesstaat. Der Radius ist ersichtlich weiter gezogen als jener der wehrhaften Demokratie. Nun gibt es aber Einheitsstaaten, die ohne Zweifel rechtsstaatliche Demokratien sind, wenn wir nur an Frankreich oder Großbritannien denken. Und nicht wenige Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind keine Republiken, sondern konstitutionelle Monarchien, ohne dass dies an ihrer Qualifizierung als demokratische Rechtsstaaten irgendetwas ändern könnte.
Soviel als erste Orientierung bzw. Einordnung. Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf die wehrhafte Demokratie, weil diese zum einen mehr Probleme aufwirft als Art. 79 Abs. 3 GG und zum zweiten die aktuellen Debatten sich ganz auf diesen Schutzmechanismus konzentrieren.
Das Konzept der wehrhaften Demokratie
Fragen wir nun also nach dem Konzept der wehrhaften Demokratie. Auf welchen Überlegungen beruht es? Wann und von wem wurde es entwickelt? Was sind seine Prämissen?
Mit den Mitteln der wehrhaften Demokratie versucht man auf das Problem zu reagieren, dass die Freiheiten in einer demokratischen Staatsordnung auch dazu verwendet werden können, diese Freiheitlichkeit zu untergraben oder gar zu zerstören. Es wäre aber ein bisschen zu kurz gedacht, wenn man das allein auf die Formel „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ verkürzen würde, wie das in der öffentlichen Diskussion zuweilen geschieht. Denn es stimmt schon bedenklich, dass diese Formel auf Saint-Just zurückgeführt wird, einen der intellektuellsten und zugleich blutrünstigsten Köpfe der Französischen Revolution. Auch sollte zum Nachdenken anregen, dass in den USA und auch in Frankreich solche Instrumente eher unbekannt sind.
Auf der Hand liegt nun aber, dass die Normen der wehrhaften Demokratie als Antworten auf die Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der NS-Zeit zu erklären sind. Was zunächst Weimar angeht, so sei allerdings in Erinnerung gerufen, dass diese Republik keinesfalls so wehrlos war, wie man ihr gemeinhin unterstellt. 1922 etwa waren in mehreren Ländern NSDAP-Verbote ergangen, nach dem gescheiterten Putsch in München folgte 1923 ein reichsweites Verbot. Aber konsequent und durchgängig wurde das Mittel der Parteiverbote nicht eingesetzt. Meist dominierten die Länder, und entsprechend konnten die Parteien ein Länder-Hopping betreiben: Wurde man in Preußen verboten, verlegte man die Aktivitäten eben nach Bayern. Das Trauma des Nationalsozialismus wiederum ist unverbrüchlich mit den Parolen eines Joseph Goebbels verbunden, der noch vor 1933 lauthals verkündete, man werde die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln schlagen. Vielzitiert ist sein Satz aus dem Jahre 1928: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen.“
Gegen diese Formen einer Inanspruchnahme demokratischer Handlungsoptionen zulasten der demokratischen Ordnung wollte man sich also mit dem Instrumentarium der wehrhaften Demokratie rüsten. Eine Art intellektueller Begründung lieferte, nicht zufällig in der Zwischenkriegszeit, der emigrierte deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Karl Loewenstein. In der American Political Science Review veröffentlichte er 1938 einen zweiteiligen Aufsatz mit der programmatischen Überschrift Militant Democracy and Fundamental Rights. Dessen Kerngedanken hatte er bereits auf der Staatsrechtslehrertagung in Halle im Jahre 1931 im Rahmen eines Diskussionsbeitrags so formuliert:
„Weiter müßte Abhilfe gegen die Sabotierung der Staatswillensbildung im Parlament selbst versucht werden. Der Staat hat die Pflicht zur Selbsterhaltung, sich dagegen zu wehren, daß gerade den Parteien der parlamentarische Apparat zur Verfügung gestellt wird, die sich zum Programm gemacht haben, diesen Apparat zu zerschlagen. […] Die Parteien, welche programmatisch und durch die Tat den Parlamentarismus verwerfen, müßten von seiner Benutzung überhaupt ausgeschlossen werden…“ (VVDStRL 7 [1932], S. 192 f. [193]).
An Loewensteins grundlegende Überlegungen knüpfte dann der Parlamentarische Rat 1948/49 an. Es gehöre, so hieß es hier gleichsinnig etwa von Carlo Schmid, „nicht zum Begriff der Demokratie […], daß sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. […] Man muß auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“
Und was für die Parteien galt, sollte für Vereinigungen parallel gelten. Schließlich wurden mit Artikel 18 auch noch Individuen in das Konzept eingeschlossen, für die die Verwirkung der Grundrechte vorgesehen war, wenn deren Inanspruchnahme zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung dienen sollte und somit missbraucht wurde.
Der Einwand des Selbstwiderspruchs
So plausibel und evident das nun klingt oder auch nur klingen mag – einen Einwand muss sich das Konzept gefallen lassen, und das ist der Einwand des Selbstwiderspruchs. Denn, so ließe sich vielleicht kurz und knapp formulieren: Wenn Demokratie auf der freien Auseinandersetzung zwischen Individuen, Interessengruppen, Vereinigungen, politischen Parteien und sonstigen Teilnehmern am gesamtgesellschaftlichen Willensbildungsprozess beruht und sich schließlich diejenige Position durchsetzen soll, die – sei es im Volk, sei es im Parlament – die Mehrheit hinter sich zu bringen vermag, ist es dann nicht widersprüchlich, eine oder vielleicht mehrere der Vereinigungen bzw. politischen Parteien von diesem Meinungs- und Willensprozess auszuschließen? Wenn Demokratie die Staatsgewalt in die Hand des Volkes legt, kann und darf sie dann bestimmte Teile davon wieder ausschließen? Kann sich Demokratie gegen sich selbst wenden? Werden hier letztlich nicht lediglich politische Konkurrenten aus dem Spiel genommen? Kann es demokratisch oder mit demokratischen Positionen vereinbar sein, andere Parteien zu verbieten?
Diesen Einwand hat das Bundesverfassungsgericht in seinem KPD-Verbotsurteil durchaus ernst genommen. Es spricht von einem Spannungsverhältnis, in dem die Verbotsnorm des Art. 21 Abs. 2 GG zur politischen Meinungsfreiheit, „ohne Frage einem der vornehmsten Rechtsgüter jeder freiheitlichen Demokratie“, besteht:
„Ein Staat, der seine verfassungsrechtliche Ordnung als freiheitlich-demokratisch bezeichnet und sie damit in die große verfassungsgeschichtliche Entwicklungslinie der liberalen rechtsstaatlichen Demokratie einordnet, muß aus dem Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung ein grundsätzliches Recht der freien politischen Betätigung und damit auch der freien Bildung politischer Parteien entwickeln, wie in Art. 21 Abs. 1 GG geschehen ist. Denn es ist eine der Grundanschauungen der freiheitlichen Demokratie, daß nur die ständige geistige Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politischen Ideen und damit auch den sie vertretenden politischen Parteien der richtige Weg zur Bildung des Staatswillens ist […]. Bei konsequenter Durchführung dieses Gedankens müßte den Vertretern jeder politischen Konzeption die Möglichkeit eröffnet werden, sich in der Form einer politischen Partei zu organisieren und für die Durchsetzung ihrer politischen Auffassungen zu werben. Es ist nicht zu verkennen, daß die nicht durch den Wählerwillen im Prozeß der staatlichen Willensbildung, sondern durch staatlichen Eingriff sich vollziehende Ausschaltung einer politischen Partei aus dem politischen Leben zu dieser Konsequenz jedenfalls theoretisch in Widerspruch steht.“ (BVerfGE 5, 85 [134 f.]).
Und dann geht das Gericht argumentativ noch einen Schritt weiter, indem es sich die Frage vorlegt, ob nicht vielleicht sogar der Verbotstatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG seinerseits
gegen das Demokratieprinzip verstößt. Das Gericht sagt:
„Für das Bundesverfassungsgericht stellt sich aber die Frage, ob die fundamentale Bedeutung des Grundrechts der politischen Meinungsfreiheit in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine Bestimmung wie Art. 21 Abs. 2 GG überhaupt zuläßt, ob mit anderen Worten eine freiheitlich-demokratische Verfassung, die zu ihrem Schutz einen ihrer eigenen Grundwerte, die politische Meinungsfreiheit, in so starkem Maße beschränkt, nicht damit in einen so unerträglichen Selbstwiderspruch verfällt, daß die beschränkende Bestimmung selbst als ‚verfassungswidrig‘ angesehen werden müßte, d. h. als einem Grundprinzip der Verfassung widersprechend, an dem auch die einzelnen positiven Verfassungsbestimmungen gemessen werden können und müssen.“
(BVerfGE 5, 85 [137]).
Es überrascht nun nicht, dass das Gericht diese Überlegung letztlich verneint, aber es ist doch bemerkenswert, wie gründlich hier dem Gedanken eines möglichen Selbstwiderspruches nachgegangen wird. Warum schlägt er nicht durch? Letztlich erklärt das Gericht das Aufkommen totalitärer Parteien für entscheidend. Diese begnügen sich nicht mit dem freien Spiel der politischen Kräfte als dem natürlichen inneren Bewegungsprinzip der freiheitlichen Demokratie.
„Das natürliche Streben jeder politischen Partei nach Einfluß auf den staatlichen Machtapparat wird bei diesen Parteien zum Anspruch auf ‚Machtergreifung‘, die, wenn sie erreicht wird, ihrem Wesen nach auf Ausschaltung aller anderen politischen Richtungen ausgehen muß […]. Gegenüber solchen Parteien ist in der freiheitlichen Demokratie […] eine neutrale Haltung nicht mehr möglich […].“ (BVerfGE 5, 85 [135]).
Dann rekonstruiert das Gericht die Einfügung des Art. 21 Abs. 2 GG durch den Parlamentarischen Rat und konstatiert:
„Die Haltung des Grundgesetzes zu den politischen Parteien […] ist nur verständlich auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Kampfes mit diesem totalitären System. […] Wenn das Grundgesetz so einerseits noch der traditionellen freiheitlich-demokratischen Linie folgt, die den politischen Parteien gegenüber grundsätzliche Toleranz fordert, so geht es doch nicht mehr so weit, aus bloßer Unparteilichkeit auf die Aufstellung und den Schutz eines eigenen Wertsystems überhaupt zu verzichten. Es nimmt aus dem Pluralismus von Zielen und Wertungen, die in den politischen Parteien Gestalt gewonnen haben, gewisse Grundprinzipien der Staatsgestaltung heraus, die wenn sie einmal auf demokratische Weise gebilligt sind, als absolute Werte anerkannt und deshalb entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen; soweit zum Zwecke dieser Verteidigung Einschränkungen der politischen Betätigungsfreiheit der Gegner erforderlich sind, werden sie in Kauf genommen. Das Grundgesetz hat also bewußt den Versuch einer Synthese zwischen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auffassungen und dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung unternommen. Art. 21 Abs. 2 GG steht somit nicht mit einem Grundprinzip der Verfassung in Widerspruch; er ist Ausdruck des bewußten verfassungspolitischen Willens zur Lösung eines Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung, Niederschlag der Erfahrungen eines Verfassunggebers, der in einer bestimmten historischen Situation das Prinzip der Neutralität des Staates gegenüber den politischen Parteien nicht mehr rein verwirklichen zu dürfen glaubte, Bekenntnis zu einer – in diesem Sinne – ‚streitbaren Demokratie‘.“ (BVerfGE 5, 85 [138 f.]).
Jahrzehnte später formuliert das Gericht ähnlich, aber in der Sache durchaus entschiedener und selbstbewusster:
„Dieses Konzept des Schutzes der Freiheit durch eine Beschränkung der Freiheit steht zu der Grundentscheidung der Verfassung in Art. 20 Abs. 2 GG für einen Prozess der staatsfreien und offenen Meinungs- und Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen (vgl. BVerfGE 20, 56 [100]; 107, 339 [361]) nicht in Widerspruch. Um eine freiheitliche demokratische Ordnung dauerhaft zu etablieren, will das Grundgesetz nicht auch die Freiheit gewährleisten, die Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen und die gewährte Freiheit zur Abschaffung dieser Ordnung zu missbrauchen.“ (BVerfGE 144, 20 [195 Rn. 515]). Und es ergänzt: „Strebt eine politische Partei eine Beseitigung dieser Ordnung an, zielt ihr Verbot nicht auf eine Einschränkung, sondern auf die Gewährleistung von Demokratie und Volkssouveränität. Die […] Begrenzung demokratischer Mitwirkungsrechte, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, sind daher nicht nur als von außen gesetzte Schranken zu verstehen, sondern vielmehr auch als Ausdruck einer dem Demokratieprinzip eigenen Selbstbeschränkung, indem sie eine dauerhafte Demokratie gewährleisten sollen.“
(BVerfGE 144, 20 [196 Rn. 517]).
Damit wäre also das Konzept der wehrhaften Demokratie gegen den Einwand des Selbstwiderspruchs verteidigt. Aber es bleibt doch bemerkenswert, wie viel Mühe das Gericht auf diese Argumentation verwendet – und auch, dass es hier ein „Grenzproblem“ des Verfassungsrechts verortet (KPD-Urteil) bzw. in dem NPD-Verbotsverfahren aus dem Jahre 2017 von einem „zweischneidigen“ Schwert gesprochen hat sowie davon, dass das Parteiverbot „einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit der politischen Willensbildung“ darstelle. Daraus wurde zudem das methodologische Prinzip abgeleitet, die Vorschrift restriktiv auszulegen
(BVerfGE 144, 20 [200 ff. Rn. 523 ff.]).
Die Instrumente der wehrhaften Demokratie
Kommen wir nun von der Theorie zur Praxis, von der Konzeption zur Empirie. Schauen wir uns an, wie oft die einschlägigen Normen zur Anwendung kamen und wie sie des Näheren ausgelegt wurden.
Grundrechtsverwirkung
Bei der Grundrechtsverwirkung können wir uns kurzfassen. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik noch keinen einzigen Anwendungsfall gegeben. Einige wenige Anträge verliefen ergebnislos im Sande. Woran liegt das? Zum einen sicher an der hohen formellen Hürde: Eine Grundrechtsverwirkung kann nur durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden. Sodann aber wohl auch an den sozusagen internen Problemen dieser Norm. Wie hat man sich eine Verwirkung konkret vorzustellen? Welche Einschränkungsmöglichkeiten sind dem Staat gegeben, die er im Normalfall nicht hätte? Und wenn die Grundrechte des Grundgesetzes verwirkt werden, sind damit die Grundrechte nach den Landesverfassungen oder der EMRK und der EU-Grundrechtecharta auch mit umfasst? Steht dem Betroffenen nicht – wie sonst auch – der Rückgriff auf das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG offen?
Man sieht, die Norm wirft mehr Fragen auf als sie löst. Fabian Wittreck hat in seiner Kommentierung der Norm plastisch davon gesprochen, dass ihr „Netto-Kampfwert gegen Null“ tendiere und sich die im Parlamentarischen Rat bestehenden Hoffnungen, man könne mit ihrer Hilfe Feinde der freiheitlichen Demokratie praktisch ohne Bindung an die verwirkten Grundrechte verfolgen, als „Illusion“ erwiesen hätten. Genauer nachzulesen ist dies im Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl., Bd. 1, Tübingen 2013, Art. 18 Rn. 29, 56, hrsg. von Horst Dreier. Von daher sei die Prognose gewagt, dass sie auch in Zukunft kaum mit Leben erfüllt werden wird – Björn Höcke hin, Björn Höcke her.
Vereinigungsverbote
Ganz anders sieht es bei dem Verbot von Vereinigungen gemäß Art. 9 Abs. 2 GG aus. Hier verzeichnen wir, so hat ein Autor gezählt, mittlerweile mehr als 150 Verbote. Ein auffälliger Grund für diese hohe Zahl liegt darin, dass nicht das Bundesverfassungsgericht die Verbotsentscheidung trifft, sondern die Innenminister der Länder oder – wenn die Vereinigung bundesweit tätig ist – das Bundesinnenministerium. Gegen diese Entscheidungen kann dann natürlich der Rechtsweg beschritten und letztlich mit der Verfassungsbeschwerde beim BVerfG vorgegangen werden, was auch regelmäßig geschieht. In den 1980er Jahren waren es im Wesentlichen rechtsextreme Gruppierungen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann. Aus diesem Bereich rekrutieren sich auch in jüngerer Zeit einschlägige Verbotsfälle, wie das Verbot von Combat 18 und der Sturm-/Wolfsbrigade 44 im Jahr 2020 sowie das ein Jahr später erlassene Verbot von Hammerskins Deutschland zeigt. Besonders prominent war das ebenfalls 2020 verhängte Verbot der Reichsbürgervereinigung Geeinte deutsche Völker und Stämme.
Aus dem linksextremen Bereich ist nur das Verbot von linksunten/indymedia aus dem Jahre 2017 zu verzeichnen. Stark zugenommen hat in den letzten Jahren allerdings die Verbotsgruppe islamistischer und auslandsbezogener Vereinigungen: aus 2012 datiert das Verbot der salafistischen Vereinigung Millatu Ibrahim, 2013 folgte das Verbot des salafistischen Vereins DawaFFM, ein Jahr darauf das des Islamischen Staates. 2016 wurde die salafistische Organisation Die Wahre Religion (DWR) verboten.
Als Beispiel für auslandsbezogenen nicht-islamistischen Extremismus kann das Verbot der Hamas im November 2023 dienen; bereits 2010 wurde die Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e.V. verboten, die insbesondere sogenannte Sozialvereine der Hamas unterstützte. Die Beispiele mögen genügen, um die Breite und Vielfalt der einschlägigen Vereinigungsverbote zu skizzieren.
Diese Verbote stützten sich ganz überwiegend auf die zweite Alternative des Art. 9 Abs. 2 GG, also den Kampf gegen die „verfassungsmäßige Ordnung“. Verfassungsmäßige Ordnung meint hier das gleiche wie die freiheitliche demokratische Grundordnung, von der in Art. 18 und 21 GG die Rede ist. Es geht also nur um den absoluten Kerngehalt des Grundgesetzes, zu dem man die Menschenwürdegarantie sowie das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zählt. Gerade bei diesem Verbotstatbestand betont das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, dass es sich nur um ein Organisationsverbot, nicht um ein Gesinnungsverbot handele. Selbst die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideen oder entsprechender Auffassungen überschreitet als solche nicht die Grenze der freien politischen Auseinandersetzung. Soll heißen: Man kann durchaus die Werte und Grundprinzipien des Grundgesetzes ablehnen und dies auch (friedlich) zum Ausdruck bringen. Die Gedanken sind frei, und die Meinungen bleiben es auch. Erst dann, wenn eine nach außen gerichtete aggressiv-kämpferische Agitation oder gar strafrechtlich relevantes Verhalten hinzutritt, ist der Weg für ein Verbot frei. Ein Zitat aus einer Grundsatzentscheidung des Gerichts aus dem Jahre 2018 macht das deutlich:
„Eine Vereinigung muss sich nach Art. 9 Abs. 2 GG gegen diese elementaren Grundsätze ‚richten‘. Ihr Verbot ist nicht bereits zu rechtfertigen, wenn sie sich kritisch oder ablehnend gegen diese Grundsätze wendet oder für eine andere Ordnung eintritt. Art. 9 Abs. 2 GG ist […] kein Weltanschauungs- oder Gesinnungsverbot und zielt weder auf innere Haltungen noch auf bestimmte politische Überzeugungen […]. Selbst die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideen oder bestimmter politischer Auffassungen überschreitet als solche nicht die Grenze der freien politischen Auseinandersetzung […]. Daher ist zur Rechtfertigung eines Vereinigungsverbotes entscheidend, ob die Vereinigung als solche nach außen eine kämpferisch-aggressive Haltung gegenüber den elementaren Grundsätzen der Verfassung einnimmt […].“ (BVerfGE 149, 160 [197 f. Rn. 108]).
Klar ist aber auch, wie schwierig sich diese Grenzziehung zwischen einer bloßen Überzeugung und deren Bekenntnis und der Einstufung als aggressiv-kämpferische Haltung in manchen Fällen gestaltet. Man denke nur an die propalästinensischen Demonstrationen in Hamburg Mitte Mai 2024 mit provokativen Plakaten wie „Das Kalifat ist die Lösung“. Der Hamburger Senat sah sich heftiger politischer Kritik ausgesetzt, weil er – durchaus nachvollziehbar – keine Möglichkeit für ein Versammlungs- oder Vereinigungsverbot erkennen konnte. Man darf vermuten, dass bei dieser Einschätzung die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts eine zentrale Rolle gespielt hat.
Parteiverbote
Nicht viel anders sieht das bei den Parteiverboten aus. Zunächst wieder zur Empirie: Bislang gab es in der Bundesrepublik nur deren zwei, nämlich das Verbot der eindeutig in der Tradition des Nationalsozialismus stehenden SRP im Jahre 1952 sowie der KPD vier Jahre danach. Das erste Verbotsverfahren gegen die NPD im Jahre 2003 scheiterte, weil nicht sichergestellt war, dass deren Aktionen nicht vielleicht von Mitarbeitern des Verfassungsschutzes mitgesteuert waren. Im zweiten Verbotsverfahren von 2017 hielt das Gericht zwar fest, dass die Partei eindeutig verfassungswidrig sei, sah von einem Verbot jedoch ab, weil die NPD ersichtlich nicht über das Potential verfüge, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu gefährden.
Was zur Abgrenzung von bloßen Organisationsverboten zu Gesinnungsverboten gesagt wurde, gilt parallel auch hier. Und auch hier fällt die Gratwanderung zwischen beiden Formen nicht ganz leicht. Auf der einen Seite gilt: Kritik, auch radikale Systemkritik ist durchaus erlaubt. Man darf den Staat und seine fundamentalen Prinzipien ablehnen. Als notwendig wird eine Überschreitung der Schwelle zur Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung angesehen. Andererseits ist klar, dass man dem Verbot unterfällt, wenn man zur Verwirklichung seiner Ziele Straftatbestände verwirklicht. Aber strafbares Handeln ist keine Voraussetzung für ein Verbot. Wollte man das verlangen, trüge dies dem präventiven Charakter der Verbotsnorm nicht hinlänglich Rechnung. Das Verbot kann also auch auf rechtskonformes Handeln gestützt werden. Entscheidend ist wie bei den Vereinigungsverboten die aggressiv-kämpferische Grundhaltung der Partei. Verlangt wird ein planvolles Handeln im Sinne einer „qualifizierten Vorbereitungshandlung auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ (BVerfGE 144, 20 [219 Rn. 570]). Oder anders gesagt:
„Die Partei muss also über das ‚Bekennen‘ ihrer eigenen (verfassungsfeindlichen) Ziele hinaus die Grenze zum ‚Bekämpfen‘ der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung […] überschreiten.“ (BVerfGE 144, 20 [220 Rn. 573]).
Naturgemäß ist die Bestimmung der Grenze zwischen dem bloßen Bekenntnis der eigenen Überzeugung und der Bekämpfung der Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG nicht ganz einfach. Kein Gesetzesverstoß, aber dennoch ein Verbotsgrund? Wie hat man sich das genauer vorzustellen?
Das Gericht bietet nur wenige Hinweise. Die einzig konkrete genannte Konstellation ist die Herstellung einer „Atmosphäre der Angst“, die zu „einer spürbaren Beeinträchtigung der Freiheit des Prozesses der politischen Willensbildung führt oder führen könnte“ (BVerfGE 144, 20 Ls. 6 d und
S. 340 Rn. 933). Das konnte aber in der Entscheidung gerade nicht festgestellt werden. Dies alles zeigt nur allzu deutlich, wie anspruchsvoll ein Parteiverbotsverfahren ist und wie hoch die dabei zu überwindenden Hürden liegen.
Verfassungsschutz durch die Zivilgesellschaft
Eingangs war die Rede davon, dass man Art. 79 Abs. 3 GG und die Normen der wehrhaften Demokratie auch als Verfassungsschutzbestimmungen einordnen könne, wenn man den Terminus sehr weit fasst. Der übliche, sehr viel engere Begriff des Verfassungsschutzes zielt ja im Wesentlichen auf die Behörden des Bundes und der Länder, die Informationen über verfassungsfeindliche Aktivitäten von Personen, Vereinigungen oder Parteien zusammentragen, ohne selbst über operative Handlungsmöglichkeiten zu verfügen. Das mag gut und nützlich sein. Doch entscheidend ist etwas anderes. Keine Verfassung der Welt kann überleben, wenn sie nicht von den Bürgerinnen und Bürgern des Staates getragen wird. Demokratie gibt es nicht ohne Demokraten, Republik nicht ohne Republikaner. Es geht darum, die Angebote der freiheitlichen Verfassung zu nutzen, von seiner Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch zu machen, in Parteien aktiv zu sein und in öffentlicher Rede den Extremisten von links und rechts Paroli zu bieten. Die beste Garantie des freiheitlichen demokratischen Staates liegt in der Gesinnung der Bürger, hat das Bundesverfassungsgericht im KPD-Urteil sehr richtig gesagt. Eine engagiert, offen und plural gelebte Demokratie ist zugleich ihr bester Schutz. Mit anderen Worten: Auf uns als mündige Bürgerinnen und Bürger kommt es an.