Staat ohne Gott? Exposition

Im Rahmen der Veranstaltung "Staat ohne Gott?", 10.12.2018

Werkbiographischer Hinweis

 

Ich beginne die Ausführungen zu meinem Buch am besten mit einem Geständnis. Der Titel „Staat ohne Gott“ stammt gar nicht von mir, sondern vom Verlag. Als ich die sechs Kapitel nach langer Reife- und Produktionszeit endlich fertig hatte und dem Verlag das Manuskript sandte, wollte ich es eigentlich schlicht nennen: „Der säkulare Staat“ – vielleicht noch mit einem Untertitel in der Art von „Programm, Profil, Problematik“.

Das klang dem Verlag aber viel zu langweilig. Er wollte etwas Prägnanteres, Pfiffigeres. Und obwohl ich einen Augenblick brauchte, um mich mit „Staat ohne Gott“ anzufreunden (das klang zunächst ein bisschen zu marktschreierisch in meinen Ohren), sah ich rasch ein: Der Verlag hatte recht. Das war einfach der bessere und vor allem eingängigere Titel. Freilich war er auch missverständlich. Also musste ich nun das mögliche Missverständnis aus dem Weg räumen, man habe es hier mit einer atheistischen Streitschrift oder einer Verlautbarung des Humanistischen Bundes zu tun. Deshalb setzte ich mich noch einmal an den Schreibtisch und verfasste zusätzlich das Einführungskapitel mit der Überschrift: „Der säkulare Staat als religiöser Freiheitsgewinn“. Und um wirklich auch jedem sofort zu signalisieren, dass es sich hier nicht um eine Kampfschrift gegen die Religion handelt, lauten die ersten Sätze des Buches (die zur Sicherheit auch auf dem Buchrücken noch einmal abgedruckt wurden) wie folgt: „‚Staat ohne Gott‘ heißt nicht: Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht: Mensch ohne Gott.“ Auf dem Buchrücken geht das so weiter: „Was aber heißt es dann? Auf diese Frage gibt das Buch eine klare Antwort.“

 

Geschichtliche Tradition: Mit Gott Staat machen

 

Der neue Titel hatte nicht nur den Nötigungseffekt, in der Einführung auf denkbar knappem Raum die wesentlichen gedanklichen Leitlinien des Buches zu skizzieren. Er lenkt, und das ist vielleicht noch wichtiger, den Blick implizit darauf, dass jahrhunderte-, ja jahrtausendelang Staat und Gott eine enge Verbindung eingegangen sind, dass die sakrale Legitimation staatlicher Herrschaft und nicht die Trennung von Politik und Religion vorherrschend war. Lange Zeit galt also: Staat mit Gott. Diese enge Verwobenheit von weltlich und geistlich, von Staat und Kirche, von Herrschaft und Heil hat viele Gesichter und viele Facetten. So wurden die Pharaonen Altägyptens selbst als Götter verehrt und bildeten – wie die Sonnenkönige der Azteken und Inkas – den Musterfall sakral legitimierter Herrschaft, und auch die spätrömischen Principes galten als Götter oder doch als gottgleich (Stichwort: Kaiserkult). Der Cäsaropapismus Ostroms ist ein weiteres Beispiel für die Identifizierung („Symphonie“) von weltlicher und geistlicher Gewalt. Aber auch das im Westen ausgebildete Reichskirchensystem des frühen und hohen Mittelalters verschmolz göttliche und weltliche Herrschaft bis zur Unkenntlichkeit, und die päpstliche Salbung des Kaisers vermittelte eine „ins Sakramentale entrückte Herrschaftslegitimation“ (Christoph Link).

Im Mittelalter und Früher Neuzeit verstanden oder gerierten sich die Könige und Fürsten als von Gott auserwählt. Den französischen Königen (und nicht nur ihnen) wurden lange Zeit übernatürliche Kräfte zur Heilung von Krankheiten zugesprochen, die durch ein Berührungsritual wirksam wurden: das sind die vielzitierten rois thaumaturges (Marc Bloch), die thaumaturgischen (also: heilkräftigen) Könige Frankreichs sowie Englands. Und auch wenn solche Vorstellungen bald Opfer des aufgeklärten Zeitalters wurden, beginnen doch noch in der Epoche des Konstitutionalismus, also im 19. Jahrhundert, die einschlägigen Verfassungsurkunden mit einer Berufung auf das Gottesgnadentum. „Maximilian Joseph, von Gottes Gnaden König von Baiern“, heißt es in der Bayerischen Verfassung von 1818, und ein Jahr später in der Württembergs: „Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Württemberg“. Die Liste ließe sich leicht verlängern. Richtig hat man übrigens gesagt, dass diese Bezugnahmen „weniger dem Lobe Gottes als der Abwehr der Volkssouveränität und der Demokratie“ gedient hätten (Klaus Schlaich). Auch allen Formen des Staatskirchentums einschließlich des landesherrlichen Kirchenregiments, wie es bis 1918 in vielen deutschen Territorien bestand, ist eine mehr oder minder enge institutionelle Verzahnung von Staat und Kirche eigen.

 

Moderne Entwicklung: Der säkulare Staat

 

Mit all diesen Formen einer Identifikation, Vermengung, Verbindung, Verschwisterung, Verknüpfung von Staat und Kirche, Politik und Religion macht der freiheitliche Verfassungsstaat Schluss. Er schließt jede Form institutioneller Verklammerung von Kirche und Staat aus. Auch verzichtet er auf sakrale Legitimation und Abstützung: er klammert die religiöse Wahrheitsfrage aus und weist sie als Rekurs an eine inkompetente Instanz zurück. Er gewährt allen Bürgern gleiche Religionsfreiheit, während er sich selbst zugleich religiös-weltanschauliche Neutralität auferlegt. Er ist mit jeder Form eines Gottesstaates, einer Theokratie, einer sakralen Ordnung oder eines christlichen Staates gänzlich unvereinbar. Der säkulare Staat ist ein innerweltliches Projekt.

Aber er ist kein anti-religiöses Projekt. Denn der säkulare Staat ist keineswegs in dem Sinne gottlos, dass er Religion ablehnen, bekämpfen, für irrational erklären oder überhaupt in irgendeiner Weise bewerten würde. Vielmehr lässt er breiten Raum für die Ausübung und Praktizierung des Glaubens – wie übrigens auch, was immer mitgedacht werden muss, für die Praktizierung von Weltanschauungen. Die eigentliche Pointe des säkularen Staates liegt darin, dass die Ausdifferenzierung der Sphären von Politik und Religion diese keineswegs schwächt, sondern durchaus zu ihrer Stärkung als Glaubensmacht führen kann. Säkularisierung des Staates im verfassungsrechtlichen Sinn ist als Chance für die Religion, nicht als deren Bedrohung zu begreifen. Keinesfalls ist mit dem säkularen Staat ein erster Schritt in Richtung Religionslosigkeit getan.

 

Staat ohne Gott heißt daher

  • nicht, dass Religion in die Privatsphäre abgedrängt wird
  • nicht, dass die Gesellschaft säkular wird oder werden sollte
  • nicht, dass in der politischen Auseinandersetzung religiöse Argumente keine Rolle spielen dürften oder in eine säkulare Sprache übersetzt werden müssten.

Der säkulare Staat versteht sich also nicht als Widerpart des Glaubens, sondern bietet diesem eine Plattform. Er ruht auf zwei Säulen: der Religionsfreiheit, die allen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen zusteht, und der religiös-weltanschaulichen Neutralität, der sich der Staat selbst befleißigen muss. Ihnen sind die zentralen Kapitel II und III meines Buches gewidmet, deren Kernaussagen im folgenden kurz rekapituliert werden.

 

Religionsfreiheit

 

Das zweite Kapitel des Buches lautet: „Eine kurze Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit in Deutschland“. Das ist nun eine stark komprimierte Gipfelwanderung entlang der wichtigsten Dokumente: vom Augsburger Religionsfrieden 1555 über den Westfälischen Frieden 1648 zum Preußischen Allgemeinen Landrecht 1794 und der Paulskirchenverfassung (1848/49) bis hin zur Weimarer Reichsverfassung (1919) und dem Grundgesetz (1949). In einer Rezension des Buches wurde moniert, dass der Kulturkampf unter Bismarck keine Erwähnung gefunden habe. Dazu kann ich nur sagen: auch der Kirchenkampf in der NS-Zeit wird nicht erwähnt, ebenso wenig die Vertreibung der 20.000 Salzburger Protestanten im Jahre 1731 und vieles andere nicht, weil ich keine umfassende Ereignisgeschichte der Entfaltung der Religionsfreiheit, sondern deren strukturelle Verfassungsgeschichte schreiben wollte, und zwar eine kurze, damit der Stoff auch von möglichst vielen Lesern mit annehmbarem Zeitaufwand bewältigt werden kann.

Mit voller Absicht habe ich aber bei dieser Rekonstruktion an mehreren Punkten herausgestellt, dass es durchaus einen spezifisch deutschen Beitrag zur Geschichte der Religionsfreiheit und damit der Grund- und Freiheitsrechte gibt. Dies deswegen, weil man nicht selten der Auffassung begegnet, Deutschland und den Deutschen seien die entsprechenden Vorstellungen erstmals durch die re-education der westlichen Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg als ein Novum nahegebracht worden. Wir seien eben ganz spät auf dem langen Weg nach Westen angekommen. Das aber ist eine arge Verkürzung, um das Geringste zu sagen. Es gibt eine relevante deutsche Grundrechtsgeschichte.

Der erste Punkt betrifft den Augsburger Religionsfrieden von 1555. Dieser brachte zwar keine Glaubensfreiheit, wohl aber „Glaubenszweiheit“ (Gerhard Anschütz). Soll heißen: Es kam (nur) auf der Reichsebene zur Anerkennung von zwei gleichberechtigten Konfessionen: der katholischen und der lutherischen. In den Territorien hingegen herrschte strikte konfessionelle Geschlossenheit. Denn dem Landesherrn stand das ius reformandi und damit das Recht zu, den Glaubensstand für alle Untertanen verbindlich zu bestimmen. Das ist der Sinn der bekannten Wendung cuius regio eius religio, frei übersetzt: wem das Land gehört, der bestimmt die Religion. Andersgläubige durfte der Landesherr vertreiben. Von Religionsfreiheit finden wir hier also nicht die geringste Spur.

Und doch räumte der Augsburger Religionsfrieden als gewissermaßen kompensatorischen Ausgleich für das harte ius reformandi des Landesherrn den Untertanen ein Freiheitsrecht ein, nämlich das Recht zur Auswanderung (ius emigrandi). Diejenigen Untertanen, die sich nicht dem Glauben ihres Landesherrn beugen wollten, durften das Territorium verlassen. Die Auswanderungsfreiheit wurde den konfessionsverschiedenen Landesbewohnern als subjektives Recht garantiert. Da dieses letztlich in einer abweichenden individuellen Konfessionsentscheidung gründete, ist hierin ein „erster und bescheidener Anfang der Anerkennung des Grundrechts der Religionsfreiheit, zunächst im Gewande religiöser Freizügigkeit“ (Axel Freiherr von Campenhausen) erblickt worden – eine „erste, schmale grundrechtliche Verbürgung allgemeiner Religionsfreiheit insofern, als sich nunmehr jeder Protestant und Katholik der obrigkeitlichen Zwangsbekehrung entziehen konnte“ (Martin Heckel).

Der nächste große Schritt ist der Westfälische Frieden von 1648. Auch hier erfolgt noch nicht der Durchbruch zur allgemeinen Religionsfreiheit, aber er bringt mit der Normaljahrsregelung eine deutliche Einschränkung des ius reformandi des Territorialherrn mit sich. Als Normaljahr legte man das Jahr 1624 fest. Wer irgendwann in diesem Jahr in einem katholischen Territorium das evangelische Bekenntnis praktiziert hatte und umgekehrt, der sollte dies auch weiterhin so praktizieren dürfen. Jetzt musste der Landesherr also eine gewisse konfessionelle Mischung seiner Bevölkerung hinnehmen. Eine weitere Neuerung: allen Untertanen wurde zumindest die Möglichkeit der Hausandacht (devotia domestica) gewährleistet, die den glaubensverschiedenen Untertanen zustand, die sich nicht auf die Normaljahrsregelung berufen konnten. Schließlich wurden in den Religionsfrieden jetzt neben den Katholischen und Evangelischen auch die Reformierten einbezogen.

Den dritten Markstein bildet das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794. Ganz entgegen landläufigen Vorstellungen von Preußen als ewigem Hort der Reaktion und machtversessenem Obrigkeitsstaat sind dort als Frucht der Aufklärung bemerkenswert liberale Grundsätze niedergelegt, ja lassen sich hier kräftige „Wurzeln der Religionsfreiheit“ (Gerhard Anschütz) finden.

Die Begriffe „von Gott und den göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein“, heißt es da etwa, und ferner: „Jedem Einwohner im Staate muß eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreyheit gestattet werden.“ Für die Ausbildung der Religionsfreiheit als subjektives Recht des Individuums spielt Preußen eine echte Vorreiterrolle. Auch die Gleichstellung der drei christlichen Konfessionen war vorbildlich und fortschrittlich, wenn man wiederum an die seinerzeitige Lage in England, Frankreich oder Spanien denkt. All das hinderte den spätabsolutistischen preußischen Staat freilich nicht daran, ein strenges Aufsichtsrecht über die Kirchen zu führen, sie ganz offen in den Dienst staatlichen Untertanengeistes zu stellen und ein landesherrliches Kirchenregiment zu etablieren. An eine Trennung von Staat und Kirche war noch nicht gedacht.

Das änderte sich erst mit der Paulskirchenverfassung von 1848/49, die sich auch in puncto Religionsfreiheit als geradezu spektakulär modern erweist. Der qualitative Sprung, der hier getan wird, lässt sich den ebenso schnörkellos wie eindringlich formulierten einschlägigen Bestimmungen entnehmen. So heißt es in § 144: „Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Ueberzeugung zu offenbaren.“ § 145 normiert: „Jeder Deutsche ist unbeschränkt in der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Uebung seiner Religion.“ Schließlich garantiert § 147 Abs. 3 mit der religiösen Vereinigungsfreiheit etwas bis dato nicht Dagewesenes: „Neue Religionsgesellschaften dürfen sich bilden; einer Anerkennung ihres Bekenntnisses durch den Staat bedarf es nicht.“ Hier wird in großer Klarheit der systembildende Dreiklang von Bekenntnis-, Kultus- und Vereinigungsfreiheit entwickelt, der sich als vorbildlich für spätere Verfassungen wie diejenige Weimars oder der Bundesrepublik Deutschland erwies. Gemäß § 146 der Paulskirchenverfassung wird „durch das religiöse Bekenntnis der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt“. § 147 Abs. 2 zieht die Konsequenz für die staatsorganisatorische Seite, indem er normiert: „Keine Religionsgemeinschaft genießt vor andern Vorrechte durch den Staat; es besteht fernerhin keine Staatskirche.“

Im historischen Rückblick lässt sich die Paulskirchenverfassung mit Wolfgang Huber als Ausdruck einer „aufgeklärten Säkularität“ begreifen, weil ihr Ziel die „Gewährleistung der Freiheit unter Einschluß der Religionsfreiheit“ ist, weil sie „dem Staat nicht die Befreiung von Religion zur Aufgabe macht“ und weil sie „dem Staat selbst nicht religiöse oder quasireligiöse Funktionen zuschreibt“.

Nun wissen wir alle, dass die Paulskirchenverfassung niemals in Kraft getreten ist, sondern den wiedererstarkenden restaurativen Kräften zum Opfer fiel. Aber sie strahlte weit und wirkmächtig aus. Endgültig zum positiven Verfassungsrecht wurde ihr Religionsprogramm in der Weimarer Reichsverfassung 1919, von der das Grundgesetz wiederum 1949 zentrale Bausteine übernahm.

Soviel zur Religionsfreiheit. Kommen wir nun zur zweiten Säule des säkularen Staates: der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates.

 

Weltanschaulich-religiöse Neutralität

 

An der überragenden Bedeutung des Neutralitätsgebotes besteht in Judikatur und Literatur kein Zweifel. Es gilt als „verfassungstheoretischer und verfassungsrechtlicher Schlüsselbegriff“ (Stefan Huster), als „tragendes Element der staatskirchenrechtlichen Ordnung der Verfassung“ (Alexander Hollerbach) oder „Zentralbegriff der Staatstheorie und des Verfassungsrechts“ (Martin Morlok). Unschädlich ist dabei, dass sich der Terminus selbst nicht im Grundgesetz findet. Denn auch der Begriff der Repräsentation ist unserer Verfassung fremd, ohne dass dies der zutreffenden Kennzeichnung unseres politischen Gemeinwesens als einer repräsentativen Demokratie Abbruch tun würde.

Für die verfassungsrechtliche Herleitung ist kanonisch geworden eine Sentenz des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1965 (BVerfGE 19, 206 [216]). In dem Urteil heißt es: „Das Grundgesetz legt […] dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse […]“. Das ist über Jahrzehnte hinweg Grundlage der Judikatur gewesen und bis heute geblieben. Das Gericht stützt sich dabei auf nicht weniger als sechs Normen des Grundgesetzes: Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 sowie Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG. Das erscheint auf den ersten Blick etwas viel und wenig übersichtlich. Aber diese Normenkette lässt sich zu drei Teilgehalten verdichten, denen die herangezogenen Normen in sachangemessener Weise zugeordnet werden können. Alle drei finden ihr Zentrum im Gebot der Nicht-Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion.

Das Neutralitätsgebot weist – erster Teilgehalt – eine ganz fundamentale institutionelle Komponente auf, nämlich die Trennung von Staat und Religion, die ihren knappsten Ausdruck in den Worten „Es besteht keine Staatskirche“ (Art. 137 Abs. 1 WRV) gefunden hat. Jede Form institutioneller Verklammerung staatlicher und kirchlicher Einrichtungen ist damit prinzipiell ausgeschlossen. 1919 war damit das landesherrliche Kirchenregiment beendet. Der Staat hat seinen Ort weder in der Kirche (Kirchenregiment) noch über der Kirche (als Staatsaufsicht). Es besteht ein allgemeines Einmischungs- oder Interventionsverbot, was Kooperation nicht ausschließt.

Wichtig ist sodann der zweite, der freiheitliche Aspekt: Religion und Weltanschauung, die man immer dazuzählen muss, sind Grundrechte und als solche Sache der Bürger. Dafür steht der Verweis auf Art. 4 GG und auf Art. 136 Abs. 4 WRV, wonach niemand zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen gezwungen werden darf. Und da hier das Prinzip grundrechtlicher Freiheit herrscht, darf der religiös-weltanschauliche Staat, wie das Bundesverfassungsgericht es formuliert hat, „den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten“ (BVerfGE 12, 1 [4]). Der Staat darf nicht Partei ergreifen, sich nicht inhaltlich mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren. Das hat nicht zuletzt Bedeutung für die staatliche Präsentation religiöser Symbole.

In der Verlängerung dieses Gedankens treten dann drittens die gleichheitsrechtlichen Normen auf den Plan, denen zufolge etwa die Innehabung bestimmter Rechte oder der Zugang zu einem öffentlichen Amt unabhängig vom religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis ist (Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG; Art. 136 Abs. 1 WRV). Freiheits- und Gleichheitsaspekte greifen ineinander. Eng verbunden mit beiden Aspekten ist der Gedanke, dass der Staat Äquidistanz zu den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen halten muss. Räumt er im Unterschied zu strikt laizistischen Systemen den Religionen öffentliche Wirkungsmöglichkeiten ein oder stellt ihnen entsprechende Foren zur Verfügung, so muss er hier wie insbesondere bei direkten Fördermaßnahmen auf strikte Gleichbehandlung achten. Das Neutralitätsgebot ist privilegienfeindlich und dient der Entfaltung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aller Bürger.

Belassen wir es bei dieser knappen Rekonstruktion. In meinem Buch erörtere ich im Anschluss ausführlich einige Einwände, die gegen das Konzept der religiös-weltanschaulichen Neutralität vorgebracht werden, aber im Ergebnis nicht durchschlagen. An dieser Stelle möchte ich abschließend meiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass die Bedeutung des Gebotes religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates in Zukunft zunehmen wird. Warum ist das so?

Lange Zeit bedeutete Religionsfreiheit in Deutschland faktisch kaum mehr als: Bikonfessionalität. In den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik herrschten zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen und dem Staat klare und übersichtliche Verhältnisse, so dass sich auch das Religionsverfassungsrecht „in bemerkenswerter Ruhe“ (Peter Unruh) entwickeln konnte. Noch Mitte der 1960er Jahre gehörten rund 95 Prozent der Bevölkerung den beiden Großkirchen an. Diese wirkten sozial kohäsiv, Religion war aufgrund der kulturellen Harmonie eine integrierende und stabilisierende Größe.

Das hat sich mit der Entwicklung Deutschlands hin zu einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft, in der der Anteil der Konfessionslosen permanent wächst und in der auch dezidiert atheistische Bürger, vor allem aber Millionen Muslime leben, entscheidend verändert. Spürbar sind frühere kulturelle wie soziale Selbstverständlichkeiten weggebrochen und stillschweigende Einverständnisse entfallen. Entsprechend scharf schälen sich Konfliktfelder zwischen den Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen sowie zwischen ihnen und der Staatsgewalt heraus. Hier muss das staatliche Gesetz in zunehmendem Maße Grenzen abstecken und Konflikte schlichten. Die einschlägigen Stichworte sind nur allzu geläufig: Kopftuch der Lehrerin oder gar Richterin, Schächten, Sportunterricht für muslimische Mädchen, Kreuze in Klassenzimmern, Gerichtssälen oder Amtsgebäuden, um nur einige zu nennen.

Der gewachsenen religiös-weltanschaulichen Vielfalt kann und muss das Neutralitätsgebot Rechnung tragen. Es wird umso wichtiger, je mehr sich das religiöse Feld ausdifferenziert und zerklüftet, je heterogener und mannigfaltiger die Gemeinschaften werden, je unterschiedlicher und konfliktreicher sie sich gebärden. Dieser Bedeutungszuwachs wird in der Wissenschaft klar und eindeutig festgehalten: „Staatliche Neutralität wirkt integrativ und ist angesichts einer weitgehenden Pluralisierung in den Überzeugungen der Bürger eine funktionale Voraussetzung dafür geworden, dass der Staat Heimstatt aller Bürger sein kann.“ (Martin Morlok). Ganz auf dieser Linie konstatiert das Bundesverfassungsgericht: „In einem Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gelingen, wenn der Staat selbst in Glauben- und Weltanschauungsfragen Neutralität bewahrt“ (BVerfGE 105, 279 [295]).

In einem einzigen letzten Satz zusammengefasst: Die Beachtung des religiös-weltanschaulichen Neutralitätsgebots ist heute wichtiger denn je. Wenn es eine Botschaft von „Staat ohne Gott“ geben sollte, dann ist es diese.

Weitere Medien vom Autor / Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Juicy Fish_Juicy Studios LTD
Akademiegespräch am Mittag
Gibt es überhaupt ein gerechtes Wahlrecht? Von Tücken und Tricks beim Ankreuzen
Mittwoch, 16.07.2025
Marco Verch_ccnull.de, CC-BY 2.0
Akademiegespräch am Mittag
Zoll- und Wirtschaftspolitik unter Donald Trump. Nationale und globale Auswirkungen
Mittwoch, 23.07.2025
Das Schloss Suresnes wartet auf Sie!
Sonntag, 14.09.2025
Laudato si’ und die ökologische Transformation
Donnerstag, 02.10.2025
Martin Egg/Wikimedia Commons
Glauben, der frei macht?
Freiheitsvorstellungen zur Zeit der Zwölf Artikel und heute
Dienstag, 14.10.2025
Anspruch, Realität, Reformbedarf
Mittwoch, 15.10.2025
Wikimedia Commons
Ludwig I. von Bayern
Prägungen, Konzepte und Politik eines katholischen Herrschers
Donnerstag, 16.10.2025
Bernd Maurer/VG Bildkunst
Ein europäisches Wunder?
Der polnisch-deutsche Bischofsbriefwechsel 1965 als Wegweiser für Frieden und Versöhnung
Donnerstag, 23.10.2025