Ist die Wiederkehr der Religion passé? Eine spannende Frage. In jedem Fall lässt sich sagen, dass der Topos von der „Wiederkehr der Religion“ (Willi Oelmüller) seit 1984 Jahren mit periodischer Regelmäßigkeit wiederkehrt, so dass man jüngst schon von einem „Narrativ der Wiederkehr der Religion“ gesprochen hat. Das wirft die Frage auf, ob das, was hier wiederkehren soll, überhaupt je ganz verschwunden ist.
Religion in der Literatur
Religion, so könnte man ja entgegnen, war immer da, auch in der Literatur, nur hat es niemand bemerkt oder wollte es niemand bemerken! Allerdings würde der Einspruch, dass Religion in modernen Gesellschaften eine erstaunliche Säkularisierungsresistenz an den Tag legt, wohl doch den Umbruch und Gestaltwandel des religiösen Feldes unterschätzen. Ohne eine gesonderte religionssoziologische Expertise mitzubringen, gehe ich davon aus, dass wir uns (1) in einem Übergang von christlich homogenen zu religionspluralen Gesellschaften befinden, und dass dieser Übergang (2) von anhaltenden Säkularisierungsschüben begleitet wird.
Aller Rede von der Wiederkehr der Religion zum Trotz wächst die Zahl der Religions- und Konfessionslosen. Während es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts selbstverständlich war, an Gott zu glauben, ist es heute hierzulande selbstverständlich geworden, nicht mehr an Gott zu glauben. Glaube ist zur begründungspflichtigen Option geworden. Man kann das beklagen und diesen Wandel unter verfallsgeschichtlichem Vorzeichen als Subtraktionsgeschichte erzählen. Man kann diesen Wandel aber auch begrüßen, weil damit die Chance zu bewussterer, entschiedener Religiosität gegeben ist. In jedem Fall sind die Transmissionsriemen der religiösen Überlieferung ausgeleiert. Der Fährmannsdienst der Übersetzung ist gefragt. Wer zu schnell ankommen will, droht kostbare Schätze zu verlieren. In Gesellschaften, deren Funktionsabläufe unter dem Vorzeichen des accelerando stehen, sind Phasen der Entschleunigung im Sinne eines ritardando lebensdienlich. Auch braucht der schleichende Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis Speichermedien, die das, was gewesen ist, gegenwärtig halten für das, was kommt.
Neben Film und Kunst ist vor allem die Literatur ein Medium, das Vergangenes aufbewahrt. Botho Strauß und Thomas Hürlimann sind in der Literatur der Gegenwart Autoren, die auf je eigene Weise Unbehagen am beschleunigten Wandel moderner Gesellschaften geäußert und anamnetische Gegengewichte gesetzt haben, um sich den Moden des Zeitgeschmacks nicht kritiklos zu überlassen. Sie suchen die Anbindung an das Vergangene und sehen so die Gegenwart schärfer. Ein Buchtitel wie Der Fortführer von Botho Strauß zeigt an, dass Fäden der Überlieferung hier nicht einfach abgeschnitten, sondern fortgesponnen werden. Aufzeichnungen weben weiter am Text, den andere vor uns zu weben begonnen haben.
Thomas Hürlimann als Chronist untergegangener Lebenswelten – Quellen seines Schreibens
Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann, 1950 in Zug geboren, ist als raffinierter Dramatiker, begnadeter Erzähler und luzider Essayist in Erscheinung getreten. Sein Schreiben speist sich aus mindestens vier Quellen. Da ist zunächst (1) die katholische Prägung nicht nur durch die Familie, sondern auch durch die Jahre als Stiftszögling in der Klosterschule Einsiedeln – einer Welt mit eigenen Regeln und klaren Grenzen, gegen die der 15-jährige Hürlimann als Mitglied im „Club der Atheisten“ aufbegehrt hat. Vom Dachstuhl der Stiftskirche lässt er durch eine Luke einen Papierflieger heruntersegeln, der mit dem Nietzsche-Diktum beschriftet ist: „Religion ist der Wille zum Winterschlaf“ und gegen hohl gewordene Riten und verblassende Katechismuswahrheiten aufbegehrt.
Als Klosterschüler hat Hürlimann entscheidende Jahre im Resonanzraum der Benediktiner gelebt, er hat täglich die Schwarze Madonna in der Stiftskirche Einsiedeln gegrüßt und die Farben- und Formensprache der lateinischen Liturgie kennengelernt. Er ist mit Autoren wie Platon, Augustinus und Thomas von Aquin vertraut gemacht geworden, hat den Rhythmus der Zeit durch den Glockenschlag und das Stundengebet aufgenommen. Der „ewige Tag“ im Kloster hat ihn sensibel gemacht für die Wandlungen der Zeit, die nach dem Konzil in die Zitadelle des Klosters eingebrochen sind und die Patres in zwei Parteien auseinanderdividiert haben.
Die klare Ordnung der kleinen Welt und ihre Hierarchien hat Hürlimann später die Ordnung der großen Welt und ihre Hierarchien sehen gelehrt – und zugleich den Sinn für die feinen Risse schärfen können, aber auch die Ausnahmen von der Regel, die man kennen muss, um überleben zu können. Diese Herkunftswelt bleibt, auch dann, wenn man ihr den Rücken kehrt, wie Hürlimann dies getan hat, als er zum Studium der Philosophie an die Freie Universität nach Westberlin ging. Dort schätzte er den Zuwachs an Freiheit, registrierte aber bald, dass die metaphysischen Antennen im Leeren zappeln, wenn Gott, Metaphysik und Transzendenz vollmundig als „alte Hüte“ verabschiedet werden.
Nicht weniger wichtig für Hürlimanns Werk ist (2) der Mikrokosmos der eigenen Familie. Die Krebserkrankung und der frühe Tod des Bruders sind einschneidende Erfahrungen. Wer erfahren hat, dass er aus einem Lokal herausgeworfen wird, weil er mit einem Menschen unterwegs ist, dessen Körper wegen Chemotherapie ausgemergelt ist, vergisst das nicht mehr. Die Stunden am Sterbebett des Bruders, die in der Erzählung Die Tessinerin ihren Niederschlag gefunden haben, haben ein Ausdrucksverlangen freigesetzt, welches über das spielerische Experimentieren mit Sprache und Formen hinausging. „Das Sterben meines Bruders hat mich zum Schriftsteller gemacht.“ Weiter ist die Prägung durch den Vater zu nennen, der in der Politik meinungsstark für konservative Positionen eintritt und anpassungsschlau Erwartungen bedient, um seine Karriere voranzutreiben. Eine patriarchale Figur, an der sich jugendliche Rebellion reiben kann. Aber auch die feinsinnige Mutter, die darauf verzichtet, ihren musischen Begabungen Raum zu geben, hat im Werk Spuren hinterlassen. Hinter dem Kokon der eleganten Umgangsformen gähnen Abgründe. Nicht zu vergessen schließlich der Onkel, der als Priester und Theologe der renommierten Stiftsbibliothek von St. Gallen vorsteht. Die Familiengeschichte weist über die mütterliche Linie jüdische Wurzeln auf, die genealogisch nach Galizien zurückreichen und mit den schwarzen Schatten der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, der Shoah, verwoben sind.
Schließlich ist über das Kloster Einsiedeln und die Familie hinaus (3) als Hintergrunderfahrung die Schweiz präsent, das Land, dem das weiße Kreuz ins Wappen eingeschrieben ist und in dem der Vater die politische Karriereleiter bis zum Bundesrat und Präsidenten durchlaufen hat. Die gesellschaftlichen Veränderungen in der Schweiz ab den späten 1950er Jahren, das Abschmelzen der konfessionellen Milieus, das Hohlwerden religiöser Rituale, aber auch die Verlogenheiten im Umgang mit der eigenen Vergangenheit, das alles hat Hürlimann mit wacher Witterung wahrgenommen. Aus dem Abstand Westberlins hat er seine Heimat immer wieder aufs Korn genommen – satirische Kritik als Modus der Verbundenheit!
„Wo die Stunde der Literatur schlägt …“ – aufbewahren, was verschwindet!
Doch ist Literatur anderes und mehr als die Summe biographischer und sozialer Prägungen – und es wäre verfehlt, sie darauf festlegen zu wollen. Das Entscheidende ist die Transformation dieser Erfahrungen in Sprache und Form. Die Literaturwerdung des Lebens, die sich in Büchern wie Das Gartenhaus, Der große Kater, Fräulein Stark, Vierzig Rosen, Heimkehr und zuletzt Der rote Diamant niederschlägt, ist nicht ohne Verwandlung und poetische Kreativität erfolgt. Bei der Wiener Poetikdozentur im Jahr 2017 hat Hürlimann der Literatur die Rolle zugeschrieben, das im Schwinden Begriffene festzuhalten. Chronist der Zeit zu sein, festzuhalten, was wegbricht und vergessen wird, das sei Aufgabe des Schreibens.
Das gilt auch im Blick auf religiöse Themen – und so könnte im Blick auf das Tagungsthema gesagt werden: Literatur registriert einerseits wach die schleichenden Traditionsabbrüche, die nachlassende Bindungskraft der Riten und die Erosion des Glaubens. Andererseits ist sie Statthalter und Chronist des Verlorenen. Was in Theologie und Kirche aus Gründen mangelnder Modernitätsverträglichkeit in den Hintergrund gedrängt oder vergessen wird, kehrt im Medium der Literatur wieder und wird dort aufbewahrt. Das gilt in Hürlimanns Erzählkosmos zumindest für religiöse Sujets wie ‚Limbus‘ und ‚Engel‘, die neben Tod, Theodizee und Kreuz immer wieder vorkommen.
Trauma Limbus: Der Limbus puerorum
Der Limbus puerorum ist in der Topographie des Jenseits zwischen Himmel und Hölle angesiedelt. Es ist der eschatologische Ort für Kinder, die ohne Taufe verstorben sind. Auf das Motiv des Limbus geht Hürlimann zunächst in der Novelle Fräulein Stark (2001) ein. Hier wird gleich zu Beginn aus der Sicht des angehenden Klosterzöglings angedeutet, warum seine Eltern ihn in den Sommerferien zum Onkel, dem Stiftsbibliothekar von St. Gallen, bringen: „[…] hier war es schöner als zu Hause, wo sie wieder einmal die Wickelkommode aufgestellt, die Wiege bezogen, die Geburtsanzeigen entworfen und Puder gekauft hatten, Babypuder. Es geschah zum dritten oder vierten Mal, und alle ahnten wir, dass es auch diesmal schiefgehen würde, nur Totes würde Mama gebären, einen blutig verschleimten Klumpen, den man an der Hintertür der Klinik an die Schweinemäster gab. Damit wollte ich nichts zu tun haben.“ (13) Die Distanz ist deutlich. Für die Nöte, welche die Mutter bei jeder Schwangerschaft neu durchgemacht hat, für den Erwartungsdruck, dem sie ausgesetzt war, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, hat der Sohn keinen Sinn. Wenig empathisch nennt er die totgeborenen Babys „verschleimte Klumpen“, die im Container für die Schweine entsorgt werden.
Noch fehlt jeder theologische Hinweis. Dieser wird an einer späteren Stelle der Novelle nachgetragen. Hier erinnert sich der Protagonist an frühere Aufenthalte in der St. Gallener Stiftsbibliothek und berichtet, wie er sich einmal als Kind „fast den ganzen Tag bei der Mumie im hinteren Teil der Bücherkirche“ aufgehalten hat. „Ja, endlos waren jene Nachmittage, endlos und trostlos, voller Heimweh nach Mama, die schon damals ein Brüderchen auszubrüten versuchte, natürlich vergeblich, was herauskommt, sagte mir eines Abends nach dem Nachtgebet das Fräulein, kann nicht getauft werden, es kommt in den Schweinekübel und dann in den Limbus, den Ort für das ungetaufte Fleisch.“ (112)
Die drastische Kombination: Schweinekübel und Limbus sticht ins Auge. Der Ort für „das ungetaufte Fleisch“ entspringt nun aber keineswegs der Phantasie von Fräulein Stark. Vielmehr hat die resolute Haushälterin des Stiftsbibliothekars, die als madonnenfromm beschrieben wird, ihre Kenntnisse über das Los der ungetauft verstorbenen Kinder aus dem Katechismus. Insofern ist es eine Strategie des leichten Vergessens, wenn am Ende des 20. Jahrhunderts gesagt wurde, der Limbus sei lediglich eine theologische Hypothese gewesen. Er hat viele Mütter traumatisiert – und Hürlimann sperrt sich gegen das leichte Vergessen, wenn er an die bedrückende Erfahrung erinnert, die Frauen machen mussten, die tote Babys zur Welt brachten. Zum Schmerz über den Verlust des Kindes kam der Schmerz über den für immer versperrten Himmel.
Epiphanie in Weiß – oder die Wiederkehr der Engel
Das Thema Limbus, das in Fräulein Stark eher am Rande vorkommt, greift Hürlimann in seinem Roman Vierzig Rosen (2006) wieder auf und verbindet es nun mit dem Erscheinen eines Engels. Die Figurenkonstellation ist ähnlich, nur die Namen sind andere. Marie ist die Mutter, die tote Zwillinge zur Welt gebracht hat, ihr Bruder ist ein strenger, katechismusfrommer Monsignore. Unmittelbar nach der glücklosen Geburt besucht er seine Schwester im Spital, die wegen totaler Erschöpfung nicht in der Lage ist, ihn zu erkennen, geschweige denn mit ihm zu sprechen. Dennoch geschieht durch seinen Besuch und die Rosen, die er zurücklässt, eine atmosphärische Veränderung, die Marie nach dem Erwachen bemerkt und als belastend empfindet. Sie hat niemanden, mit dem sie sprechen könnte. Da geschieht etwas.
Im abendlichen Sonnenlicht, das sich durch die Lamellen der geschlossenen Jalousie schiebt, erscheint ein weißer Flügel, der über den Boden des Krankenzimmers wandert, sich bis zu Maries Bett vortastet und sich wärmend auf ihren leeren Bauch legt. In dieser Licht-Epiphanie erblickt sie einen Engel, den sie ansprechen kann, um zu klären, was vor sich gegangen ist: „Ich ahne, daß mir mein Bruder etwas Schreckliches gesagt hat. Etwas, das mich Tag und Nacht bedroht. Das mich krank macht. Hilf mir! Sei lieb! Lass mich endlich wissen, was mit meinen Kindern geschehen ist.“ Der Engel schweigt. Aber gleißendes Licht und wohlige Wärme sind leise Anzeichen seiner Gegenwart.
Auf Maries dringliche Bitte antwortet er schließlich, und man kann mutmaßen, dass hier ein auf zwei Stimmen verteiltes Selbstgespräch inszeniert wird: „Marie, wir haben zu glauben, auch wenn es uns schmerzt: Wir haben zu glauben. – Ich verstehe, sagte sie dumpf. Wir haben zu glauben, dass meine Zwillinge nie in den Himmel kommen. Dass ihnen die Seligkeit für immer verschlossen bleibt. – Ja, gab er zu, leider konnten sie nicht getauft werden. – Aber dafür können sie doch nichts! – Nein. Dafür können sie nichts. – Sie sind völlig unschuldig, ohne jede Sünde! – Gewiss, das sind sie. Allerdings sollte dir aus dem Katechismus bekannt sein, dass nur Getaufte das Recht haben, das Angesicht Gottes zu schauen. – Eine letzte Frage, flehte Marie, wo hat man sie hingebracht? – In den Limbus. – Weißt du, wo das liegt? – Zwischen Himmel und Hölle, zwischen Seligkeit und Verdammnis, zwischen
Licht und …“ (250f).
Kein Mensch spricht mit Marie über das, was geschehen ist. Mit ihrer Trauer ist sie mutterseelenallein. Von niemandem erfährt sie, dass es Mädchen waren, die sie tot zur Welt gebracht hat. Das Gespräch mit dem Engel ersetzt die Gespräche mit ihrem Mann, ihrem Bruder, dem Arzt oder den Spitalschwestern. Dabei bricht sich Maries Empörung Bahn, dass unmündigen Kindern, die doch ohne Schuld sind, die ewige Seligkeit versperrt bleiben soll, nur weil sie nicht getauft wurden. „Meschugge sind die Herren Theologen, die allen Ernstes behaupten, beim Erschallen der Posaunen kehre jedes Leben zum Schöpfer zurück, jedes Bein, jeder Arm, jede Zunge, außer den totgeborenen Babys natürlich. Die sind für alle Zeiten in den Limbus verbannt“, empört sich Marie Jahre später bei einem weihnachtlichen Gespräch mit ihrem Priesterbruder und ihrem Mann.
Sie stellt sich die Auferstehung nach dem Modell einer physizistischen Restitution vor und beteuert, die Dogmen der Kirche ernst zu nehmen. „Ich glaube an Gott. Er tut mir sogar ein bisschen leid. Unschuldigen Kindern verweigert er die Auferstehung, und was hat er davon? Beim letzten Gericht werden ihm die Hautlampen aus Auschwitz um die Ohren fliegen.“ (299) Das Gespräch stockt, der Bruder, ein Konvertit, der seine jüdischen Wurzeln unter der Soutane versteckt, mutmaßt: „Wenn ich dich richtig verstehe, ist dir der Glaube unseres Vaters sympathischer.“ Die Antwort erfolgt prompt: „Wenigstens haben die Juden keinen Limbus.“ Der Bruder erwidert, dass das Jenseits der Juden aus Geschichten bestehe – und dass man damit bei totgeborenen Kindern auch nicht weiterkomme, weil man über sie ja nichts erzählen könne. Da sei ein Jenseits wie der Limbus, ein „Schattenreich voller Glanz, voller Licht“ doch wohl besser.
Plötzlich lacht Marie und sagt: „Du hast Recht, meine Mädchen lebten nicht eine einzige Sekunde – und trotzdem haben sie eine Geschichte. An ihren Geburtstagen werden sie nicht älter.“ In diesem Satz liegt der hermeneutische Schlüssel zum ganzen Roman: In der Geschichte der Kinder spiegelt sich wie in einem Brennglas die Geschichte der Mutter, die jedes Jahr zu ihrem Geburtstag „vierzig Rosen“ geschenkt bekommt, als würde sie nicht älter. Ihr Mann behandelt sie so, als ob sie keine Geschichte mehr hätte, als ob sie lebendig schon tot sei.
Der Skandal des Kreuzes
Bei der Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion hat Thomas Hürlimann 2017 über das Kreuz in der modernen Literatur gesprochen. Dort hat er gesagt, die Stunde der Literatur schlage, wo etwas dem Bewusstsein entgleite. Die Kreuze seien im Sinken begriffen. Tourismus-Manager würden dafür sorgen, dass es von den Berggipfeln der Schweiz abmontiert werde, es sei anders- und nichtgläubigen Besuchern nicht zumutbar; der Fußballclub Real Madrid hat das Symbol im königlichen Wappen von den Trikots entfernen lassen, um arabischen Sponsoren entgegenzukommen. Auch in Krankenzimmern und Spitalskapellen hat der Patient Hürlimann das Kreuz vermisst. Solcher Selbstamputation im Namen der Toleranz widersteht die Literatur. An Passagen aus Werken von Franz Werfel, Joseph Roth, Michael Bulgakov, Gertrud Fussenegger und Leon Bloy und anderen hat Hürlimann die Präsenz religiöser Symbole in der Literatur näher verdeutlicht und zwei Verfahren unterschieden: Annäherung durch Ent-Fernung oder Identifikation.
Dabei hat er nicht versäumt einen Wunsch an die Adresse der Theologie zu formulieren: Was den Heiden eine Torheit und den Juden ein Skandal ist, das wolle er im Zentrum der christlichen Theologie sehen. „Der Glaube, mit dem Abhängen der Kreuze lasse sich der Tod abhängen, ist ein fataler Irrtum. Nein, den Tod hängen wir nicht ab, auf den laufen wir zu, und genau aus diesem Grund sollten wir das Kreuz als Hoffnungs- und Überlebenszeichen stehen lassen“ (Das Symbol des Kreuzes, in: J.-H. Tück/ T. Mayer (Hg.), Das vermisste Antlitz. Suchbewegungen zwischen Poetik und Religion, Freiburg 2022, 141–149). In diesem Zusammenhang hat Hürlimann eine biographische Erfahrung mitgeteilt. Um sich auf eine Untersuchung im Zürcher Universitätsklinikum vorzubereiten, habe er wiederholt einen Kreuzweg abgeschritten. Er wollte die einzelnen Stationen der via crucis im Gedächtnis durchgehen können, um während der halben Stunde in der Röhre nicht in Panik zu geraten.
„So ein Kunstwerk kann man sich ohne weiteres merken. Jeder passus der passio ergibt sich aus dem anderen. Man durchschreitet ein gestuftes Gefüge und merkt im Durchschreiten, wie gültig, wie schön, wie logisch diese Stufen gebaut sind.“ (Wer könnte heute das Eine nicht lieben? 14 Stationen, in: J.-H. Tück (Hg.), „Der große Niemand“. Religiöse Motive im literarischen Werk von Thomas Hürlimann, Freiburg 2018, 274–286, hier 282). Seine Genesung nach einer schweren Krankheit, die ihn an die Schwelle des Todes führte, hat er im Licht der biblischen Erzählung von der Auferweckung des Lazarus gedeutet. Damit komme ich zu Botho Strauß, dem zweiten Protagonisten, der früh registriert hat, dass die Technik dabei ist, die österliche Hoffnung beerben zu wollen. Pointiert hat er von „Auferstehungs-Technologie“ als der wahren Apokalypse gesprochen.
Botho Strauß – ein transzendenzsensibler Zeitdiagnostiker
Botho Strauß hat einen wachen Sinn für das, was verloren geht. Seine Herkunftswelten sind allerdings anders als die Hürlimanns. Er ist 1944 in Naumburg geboren und hat protestantische Wurzeln. Strauß, der in Köln und München Germanistik, Theaterwissenschaften und Soziologie studiert hat, ist früh als Dramatiker berühmt geworden, er ist ein Meister von Prosaskizzen, die die veränderten, oft fragilen Beziehungswelten einfangen. Wie Rodin mit einem Bleistiftstrich einen Akt in unnachahmlicher Präzision zu Papier bringt, so gelingen Strauß Miniaturen, die in wenigen Sätzen die Physiognomie einer Person, ihre Haltung ins Bild bringen. Auch als Erzähler, Essayist und Aphoristiker ist Strauß hervorgetreten, der in seinen Aufzeichnungen die Anbindung an das Vergangene sucht, um die Gegenwart genauer sehen zu können.
Dabei positioniert er sich oft abseits der ausgetretenen Pfade. So nimmt er einmal das Leitwort der Kommunikation ins Visier: „Dürfte ich das Unwort des Zeitalters bestimmen, so käme nur eines infrage: kommunizieren. Ein Autor kommuniziert nicht mit seinem Leser. Er sucht ihn zu verführen, zu amüsieren, zu provozieren, zu beleben. Welch einen Reichtum an (noch lebendigen) inneren Bewegungen und entsprechenden Ausdrücken verschlingt ein solch brutales Müllschluckerwort! Mann und Frau kommunizieren nicht miteinander. Die vielfältigen Rätsel, die sie einander aufgeben, fänden ihre schalste Lösung, sobald dieser nichtige Begriff zwischen sie tritt. Ein Katholik, der meint, er kommuniziere mit Gott, gehört auf der Stelle exkommuniziert. Zu Gott betet man, und man unterhält nicht, sondern man empfängt die Heilige Kommunion.“ (Der Untenstehende auf Zehenspitzen, München 2004, 41) Das Sensorium für Diskretion und die Wirklichkeit des Heiligen ist verbunden mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.
So hat Strauß die Folgekosten der freien Gesellschaft klar beziffert und von etwas gesprochen, worüber sonst auffällig geschwiegen wird: „Allein die vielen Verbrechen der Intimität, die ungesühnt bleiben! Die vielen trostlosen Falschheiten und Täuschungen des Zusammenlebens, die Verschlagenheiten der Liebe, Gemeinheiten und Verletzungen oft, die in jedem anderen sozialen Bereich undenkbar wären … Ist denn Intimität kein sozialer Bereich? Ich sehe Schuld und Übeltat, doch die Verhältnisse soufflieren mir etwas von Wechselseitigkeit, schwieriger Kindheit, Schwäche der Lebensführung, mangelndem Schuldbewußtsein, Launen und verlorener Beherrschung. Die Verhältnisse plädieren für Verzeihen, wo ich nur Unverzeihliches erkennen kann. Für mich sind die Verbrechen des Gefühls nicht entschuldbar aus übergeordneten sozialen oder psychologischen Gesichtspunkten. Ich bedaure, daß es in der zivilisierten Welt keine Instanz der Gerechtigkeit gibt, die sie ahndet.“ (ebd. 109).
Pseudomorphosen der Eschatologie
Mit der Instanz der Gerechtigkeit ist ein eschatologischer Fluchtpunkt angedeutet, der das undurchsichtige Geflecht menschlicher Geschichten durchleuchten, richten und begradigen könnte. Aber über Tod und Gericht wird wenig gesprochen. Mit Hürlimann kommt Strauß in der Diagnose überein, dass der Tod tabuisiert wird: „Früher fürchteten die Menschen sich vor dem Jenseits, heute vor dem Tod.“ (78) Diese Todesfurcht hat nicht nur eine ganze Industrie von Anti-Aging und Lebensverlängerung angestoßen, sondern auch biotechnische Verheißungen freigesetzt, die Strauß früh als Pseudomorphosen der Eschatologie entlarvt hat. Zunächst ist ihm die Dynamik der Grenzüberschreitung aufgefallen.
Das „trasumanar“, das bei Dante noch Gott vorbehalten ist, nimmt der Mensch nun selbst in die Hand und mimt Gott: „Ein sogenannter Wissenschaftler erklärte vor kurzem: der Mensch habe nun Gottes Status erreicht, und folglich sei es seine moralische Pflicht, sich wie Gott zu verhalten. Die genetischen Tüftler und Bastler können, so scheint es, vor lauter Nanometrie sich selbst nicht mehr ermessen. Und wie sie sich vermessen, werden sie immer kleiner. Der Schöpfergott, auf die Keimbahn reduziert? Prometheus, der nicht die Stirn gegen den Himmel erhöbe, sondern sich auf das Sammeln von Zündhölzern konzentrierte, wäre für Zeus ein Wichtel. Mögen sich also die Ingenieure noch so sehr mit ihrer Selbstvergottung blähen, sie verlassen den Bannkreis des menschlichen Scheiterns nicht. Sie haben Ihm nichts entgegenzusetzen.“ (58)
Transhumanisten sind davon überzeugt, dass wir schon bald die technischen Mittel besitzen, nicht nur länger, sondern ewig zu leben. Auch andere Varianten einer Technognosis verheißen, den leibgebundenen Geist des Menschen in eine technikbasierte Intelligenz überführen zu können. Wenn sie den Körper als sterbliche Hülle für vernachlässigbar halten, unterbieten sie eine integrale Sicht der Vollendung, wie sie für den christlichen Auferstehungsglauben leitend ist. Die Selbstüberschreitung, die den Körper des alten Menschen hinter sich lässt, hat Botho Strauß als gnostische Halbierung des Menschen dechiffriert: „Es gibt ja einen neuen Kult der Körperverächter, sie nennen sich Extropisten und schwärmen davon, den menschlichen Geist in die Maschine zu retten, damit er dem verrotteten Planeten in letzter Minute entkommt. Theology of the ejector seat. Sein Geist, sein Wissenswille soll sich – wohl mit der Antriebkraft des Urfluchs – über den Menschen hinwegheben und wird schließlich ohne ihn, ganz körperlos, eine noetische Ekstase durchs Weltall irren.“ (97)
Die Stimmen der Technognosis sehen den Fortschritt in einer Desinkarnation, in einer Abstreifung der „Krücke“ des Fleisches, um virtuell weiter existieren zu können. Die selbstgemachte, durch biotechnische Innovation hervorgebrachte Unsterblichkeit käme aber nur sehr wenigen zugute. Das wäre Weitergabe im Modus der Preisgabe und des Verrats an einer Hoffnung, die alle einschließt. Ein letztes Notat führt den Gedanken der Entäußerung des Logos, der Kenosis, weiter: „Kenosis, Leerwerdung, Entäußerung, durch die der Menschensohn sich der göttlichen Allmacht begab, Knechtsgestalt annahm.
Kenosis also nun nachgeahmt vom Menschen, dem Maschinensohn, der – auf seine Menschlichkeit verzichtend – sich unter die Dinge begibt. Etwa um sie von ihrer Dinglichkeit zu erlösen? Begibt sich unter das Holz, die Perlenschnur und alle Silicium-verbindungen. Jedoch kann er Menschliches nicht aus den Dingen heimholen. ‚Um euretwillen, ihr Dinge, ist er, der reich war, arm geworden.‘ So nach 2 Kor. 8,9.“ (Lichter des Toren, München 2013, 119).
Wiederkehr der Religion – passé?
Kehrt die Religion in der Literatur wieder? Oder ist diese Fragestellung schon wieder passé? Weder noch, muss man mit Blick auf Thomas Hürlimann sagen. Es gibt bei ihm neben einer wachen Beschreibung des fading ausgehöhlter Formen von Religion auch eine anhaltende Präsenz religiöser, ja spezifisch katholischer Motive. Zunächst den Limbus: Man mag die Frage nach dem Los der ungetauft verstorbenen Kinder als theologiehistorisches Kuriosum abtun, das für eine aufgeklärte und heilsuniversalistische Theologie keine Bedeutung mehr hat. Allerdings hat die Lehre vom Limbus puerorum im Affekthaushalt vieler Eltern traumatische Spuren hinterlassen. Das ist fast vergessen – und es besteht die Gefahr, sich in Sachen Limbus einem leichten Vergessen zu überlassen, ohne das Leid der Mütter totgeborener Kinder in den Blick zu nehmen. Hürlimann hält dem leichten Vergessen die schwierige Erinnerung an die oft jahrzehntelangen Traumata der Mütter entgegen, denen kalt beschieden wurde, dass ihren Kindern der Himmel für immer
versperrt bleibe.
Mit Erleichterung hat er registriert, dass sein Protest gegen „ein im Jenseits gelegenes Embryonen-KZ“ inzwischen eine römische Antwort gefunden hat (Der große Pan ist tot, in: J.-H. Tück/T. Mayer (Hg.), Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion, Freiburg i. Br. 2017, 43–53, hier 46). Benedikt XVI. hat die Lehre vom Limbus 2013 abgeschafft. Auch die Engel, diese flüchtigen Chiffren der Transzendenz, spielen bei Hürlimann eine Rolle. Während der Angelologie-Traktat aus den Handbüchern der Dogmatischen Theologie beinahe verschwunden und in spirituelle Ratgeberliteratur und Esoterik abgewandert ist, kommen sie im Roman Vierzig Rosen, aber auch in Der rote Diamant vor, ohne dass sie gegenständlich eingefangen würden. Leuchtendes Weiß wird hier zu einer Alteritätsmarkierung des Heiligen.
Schließlich findet sich bei Hürlimann lauter Protest gegen das leise Verschwinden der Kreuze aus der säkularen Öffentlichkeit. Was abgehängt wird, weil es als anstößig empfunden wird, bleibt aufbewahrt im Medium der Literatur – und das religiöse Symbol ist solange nicht verschwunden, als es lesende Menschen gibt. Das Kreuz aber ist für Hürlimann das anstößige Zeichen des Todes, an den niemand gerne erinnert wird, der aber unausweichlich kommt. Ein Unschuldiger ist hier gemartert und brutal zu Tode gequält worden. Dieses Zeichen öffentlich zu exponieren, ist ein Skandal, der verstört, aber heilsam ist. Er erinnert an die Verwundbarkeit und Sterblichkeit menschlicher Existenz, er ist Spiegel der Fehlbarkeit und unterbricht das Reizklima des Rechthabenmüssens. Zugleich ist das Kreuz als Lebensbaum Zeichen der österlichen Überwindung des Todes.
Auch Botho Strauß ist ein transzendenzsensibler Schriftsteller, in dessen Aufzeichnungen Spuren des religiösen Erbes präsent sind. Das Schweigen Gottes, die Kenosis, der Vorbehalt gegenüber einer inflationären Kommunikation mit dem Heiligen kommen darin vor. Die metaphysische Abstumpfung und religiöse Schwerhörigkeit des gegenwärtigen Kulturbetriebs hat Strauß wiederholt als Symptom der Verflachung gewertet. In seinen Notaten zum Fortschritt der Biotechnologie hat er die Pseudomorphosen der Eschatologie hellsichtig registriert. Die Verheißung eines integralen Lebens nach dem Tod wird halbiert, wenn im Transhumanismus der Leib als Medium des sinnlichen Ausdrucks auf der Strecke bleibt. Vollendung ohne Gott, so wird zwischen den Zeilen angedeutet, führt nicht in den Himmel, sondern in selbst geschaffene Paradiese, die sich leicht als Dystopien entpuppen könnten.
Denn nur kleine Eliten hätten, wenn überhaupt, darin Platz, auch könnte sich darin schnell – statt Friede und Freude in Fülle – gähnende Langeweile ausbreiten. Die unendliche Verlängerung der Lebenszeit garantiert nicht schon Heil und Erlösung: „Eine überalterte Gesellschaft mag sich eine Menge künstliches Jugendlichkeitsserum zuführen. Doch niemand wird jung ohne junge Zeit“ (Der Untenstehende auf Zehenspitzen, 13). Ein digitales Double oder eine in die Maschine überführte Identität verrät die Hoffnung, die im Apostolischen Glaubensbekenntnis aufbewahrt ist. Dort wird die Auferstehung der Toten verheißen, deren antidoketische Stoßrichtung Tertullian in die schöne Formel gebracht hat: Caro cardo salutis – das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils.