“Prüft alles!”

Erste Gedanken zur künftigen Arbeit

Im Rahmen der Veranstaltung "Amtseinführung Dr. Achim Budde", 08.02.2019

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Die 1920er: Abschottung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wenn man in den 1920er Jahren einem überzeugten Durchschnittskatholiken gesagt hätte, er solle von der Welt lernen, dann hätte er wahrscheinlich am liebsten vorsichtshalber die Inquisition, das „Heilige Offizium“, eingeschaltet. Damals war das vorherrschende Kirchenbild durch ein striktes, oft feindseliges Gegenüber zur Außenwelt geprägt: hier die heilige Kirche, und drumherum die böse Welt; hier das Haus voll Glorie aus ewigem Stein, drumherum die Anfeindungen düsterer Mächte. Der Blockkatholizismus des 19. Jahrhunderts hatte die Schotten dicht gemacht, die Kommunikationsgrenzen geschlossen, und eine mehr oder weniger hermetisch abgeriegelte Lebenswelt geschaffen, in der man von der Wiege bis zur Bahre gelangen konnte, ohne jemals die Fühler aus der Gruppe herausstrecken zu müssen. Damit verbunden war eine weitgehende Abkopplung von der geistigen und kulturellen Entwicklung der übrigen Gesellschaft, und in deren Folge auch eine von evangelischen Christen gern belächelte intellektuelle Inferiorität. Selber denken war verdächtig. Es konnte dem Heil nicht förderlich, wohl aber hinderlich sein. Man durfte es jedenfalls getrost den Fachleuten überlassen. Der Bonner Patrologe Ernst Dassmann, den ich in meinen ersten Semestern noch gehört habe, wusste aus seiner Kaplanszeit im Münsterland zu berichten, wie ein Gläubiger ihn nach seiner Predigt einmal ansprach mit den Worten: „Ich glaub das ja alles – ob es stimmt oder nicht!“ Der Glaube musste nicht verstanden, nicht innerlich mitvollzogen werden. Und die Spätausläufer dieser intellektuellen Kapitulation habe ich selbst noch mitbekommen, als mir im Ökumenischen Studienjahr in Jerusalem, also im Jahr 1992, ein evangelischer Kommilitone schmunzelnd eröffnete, er habe bislang noch gar nicht gewusst, dass es Katholiken gibt, die man intellektuell ernst nehmen müsse.

 

Die 1920er: Aufbruch

 

In den 1920er Jahren gab es aber nicht nur Durchschnittskatholiken. Es gab auch „Ausnahmekatholiken“, die diese Kommunikationsblase verlassen wollten, die die geistige Auseinandersetzung mit der Welt da draußen suchten – und zwar nicht etwa, um die irrige Welt besser missionieren zu können, sondern um für sich selbst weiterzukommen und zu einer immer tieferen Welt-Anschauung aus der Sicht des Glaubens zu gelangen.

Ich habe jetzt über zehn Jahre auf Burg Rothenfels gearbeitet. Dort ist natürlich Romano Guardini das naheliegende Vorbild einer solchen Auseinandersetzung auf Augenhöhe mit den geistig-kulturellen Strömungen der Gegenwart.

Vielleicht kennen Sie ja das weltberühmte Raum-Ensemble, in dem diese Haltung in zeitloser Form Gestalt angenommen hat: Rudolf Schwarz und Romano Guardini schufen auf der Burg mit weiteren Künstlern den ersten katholischen Sakralraum in der Formensprache der Moderne – der heute „klassischen“, aber damals eben völlig „revolutionären“ Moderne: statt Nazarener-Kitsch ein Gotteshaus ohne gegenständliche Kunst. Die Fenster von Anton Wendling: Das ist „Mondrian auf Katholisch“, und zwar zur gleichen Zeit wie Mondrian.

Dass der Glaube diese Auseinandersetzung auf der Höhe der Zeit braucht, damit er in den Ausdrucksformen der Zeit Gestalt annehmen kann, ist die Grundüberzeugung der damals vollzogenen „Wende zum Subjekt“. Denn anders kann die Kirche ihren großen heilsgeschichtlichen Auftrag nicht erfüllen: Wie soll sie die ganze Schöpfung für die Verehrung Gottes gewinnen − an den Geschöpfen vorbei, an den Köpfen vorbei?

Auf dieser Grundlage „erwachte die Kirche in den Seelen“, wie Guardini es formulierte, und sie lernte, von der Welt zu lernen. Und ihre Gläubigen zu bilden.

Die Bildungsarbeit, die man in den 20er Jahren auf Burg Rothenfels entwickelte, wurde nach dem Krieg zu einem der Vorbilder für zahlreiche kirchlich getragene Akademien.

Die Burg feiert übrigens morgen in vierzehn Tagen ihr hundertjähriges Jubiläum.

 

Glauben mit Verstand

 

Ich bin von meiner Ausbildung her Kirchenhistoriker und Liturgiewissenschaftler und habe mich schwerpunktmäßig mit den Prinzipien liturgischer Überlieferung befasst. Und dort kommt genau das zum Tragen, was die Reformbewegungen des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt haben: Liturgische Texte sind keine „Literatur“, deren Original möglichst unverändert überliefert werden muss, sondern sie sind lebendige Texte. Sie gehen davon aus, dass immer genau jene Menschen, die aktuell zum Gottesdienst versammelt sind, aus Überzeugung zu ihnen Ja und Amen sagen können – durch die Jahrhunderte, bzw. „bis du kommst in Herrlichkeit“. Deshalb verändert sich die Liturgie von Generation zu Generation. In alten Handschriften kann man das sehen: Jeder der Skriptoren trägt Dinge nach, oft Kleinigkeiten, die zur Liturgie seiner Gegenwart hinzugehören. Und wenn in den liturgischen Büchern etwas nicht mehr der liturgischen Wirklichkeit entspricht, dann wird es angepasst. Denn die Liturgie setzt voraus, dass der Glaube, wie sie ihn zur Sprache bringt, sich mit den geistlichen Realitäten in den Herzen und Köpfen der Feiernden in Übereinstimmung bringen lässt.

Schon Paulus bevorzugt daher lieber „fünf Worte mit Verstand“ als einen langen Sermon unverständliches Zeug. Und er sucht auf dem Areopag den Dialog mit anderen Religionen und Philosophien, um seine Botschaft für den Verstand seiner Zeitgenossen erfassbar, zugänglich zu machen. Zugleich ruft er seine Gemeinde auf, „alles zu prüfen“ und „das Gute zu behalten“, um die Funken der Wahrheit aufzuspüren, die der „lógos spermatikós“ auch außerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft verstreut hatte. Im Kern ist damit die fruchtbare Wechselbeziehung bereits beschrieben, die unserer Kirche zwischenzeitlich verloren gegangen war.

Vor meiner Rothenfelser Zeit wurde ich am Bonner Institut für Kirchengeschichte stark von der Methodik Franz-Joseph Dölgers geprägt − auch einer jener Wissenschaftler, die sich von der Macht der Fakten überzeugen ließen, selbst wenn er dadurch in Konflikt mit dem römischen Lehramt geriet. Als tiefgläubiger Priester tat er sich schwer damit, dass sein nüchternes Forschungsprogramm damals im Zuge des Kampfes gegen „den Modernismus“ von seiner Kirche diskreditiert wurde.

Es ist nicht auszudenken, wo wir heute stünden, wenn alle, die damals den Anti-Modernisten-Eid schwören mussten, sich auch daran gehalten hätten. Das Zweite Vatikanische Konzil hätte es niemals gegeben. Ich selbst bin 1969 geboren und somit „nachvatikanisch sozialisiert“. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich: In einer Katholischen Kirche ohne die Errungenschaften des Konzils könnte ich persönlich keine spirituelle und auch keine intellektuelle Heimat finden.

 

Gründung und Auftrag der Akademie

 

Aber es ist ja gut gegangen. Das Konzil hat die Anliegen der Liturgischen Bewegung – wie auch der Ökumenischen und der Biblischen Bewegung – auf breiter Front rezipiert.

Die Katholische Kirche hat in den 50er und 60er Jahren den Mut aufgebracht, ihre Beziehungen zur Welt völlig neu aufzustellen. Die Katholische Akademie in Bayern wurde bereits einige Jahre vor dem Konzil − aber schon ganz aus dessen Geist heraus gegründet. Ihr wurde es geradezu zur Daseinsberechtigung gemacht, die Beziehungen zur Welt zu klären und zu fördern – und zwar in einem Maßstab, den ein Bistum allein gar nicht stemmen könnte:

  • Man wollte zur Klärung der virulenten Fragen die Besten aus allen Fächern hinzuziehen können, damit nur ja kein intellektuelles Potential übersehen würde.
  • Man wollte die Kräfte bündeln – von den vielen Bildungseinrichtungen in den Gemeinden über die Universitäten bis hinein in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
  • Man wollte einen Raum schaffen, in dem die Kraft der Argumente zählt, und nicht formale Autorität.
  • Man wollte keine vorgefertigten Katechismus-Wahrheiten an das Kirchenvolk durchreichen, sondern Dialog führen, debattieren, damit die mündigen Gläubigen befähigt würden, sich selbst zu positionieren.

Dass die Kirche sich das leistet, ist souverän. Dass sie es sich leisten kann, ist ein Zeichen innerer Stärke. Es ist ja so eine Faustregel in der Kultur- und Geistesgeschichte, dass starke, innerlich gefestigte Gesellschaften sich für kulturelle und geistige Einflüsse offen zeigen können; dass Abschottung hingegen ein Zeichen innerer Schwäche ist. Wer fest in sich steht, kann Fremdes in sich aufsaugen, kann sich kulturell und intellektuell anreichern. Wer hingegen Probleme mit der eigenen Identität hat, versucht gerne, seinen Stand durch Abschottung zu stabilisieren.

Deshalb ist es ein Zeichen großer innerer Souveränität der Katholischen Kirche in Bayern, dass sie Bildung auf höchstem Niveau als überdiözesane Aufgabe so ernst nimmt. Und da wären die Uni Eichstätt und die Stiftungshochschule noch vor der Akademie zu nennen.

 

Neuanfang und neue Herausforderungen

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, nun soll also ich die Verantwortung für dieses Haus übernehmen – eine Aufgabe, die gleichermaßen Faszination und Respekt in mir auslöst. Faszination, weil diese Einrichtung mit ihrer Infrastruktur und ihrer Unabhängigkeit Möglichkeiten bietet, die ganz einzigartig sind. Respekt vor allem deshalb, weil es angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen nicht so einfach ist, diese Möglichkeiten auch zu nutzen. Die Welt wird in den 20er Jahren anders ticken, als in den zurückliegenden Jahrzehnten:

  • Nehmen Sie nur die Langzeitstatistik, in der der Bevölkerungsanteil der Kirchen in Deutschland seit dem Krieg von über 90% auf rund die Hälfte zusammengeschrumpft ist.
  • Nehmen Sie dazu die überproportional schwindende gesellschaftliche Relevanz der Kirche, die man in Oberbayern noch mit einer gewissen Gelassenheit wahrnehmen kann, die aber über kurz oder lang auch hier an die Substanz gehen wird.
  • Nehmen Sie die aktuelle Umfrage, die belegt, dass 40% der Katholiken und 50% unserer Jugendlichen nicht sagen können, wie lange sie noch dazugehören möchten.
  • Daran sieht man, dass die Gegenüberstellung der beiden Größen „Kirche“ und „Welt“ die heutigen Realitäten gar nicht mehr präzise abbilden kann: Inzwischen geht doch der Riss zwischen Kirche und Welt im Grunde durch jeden einzelnen von uns mitten hindurch. Wir sind doch alle im Denken, in der Mentalität, in den medialen Informationsstrukturen Teil ein- und derselben Welt. Und manchmal schauen wir wie von außen kopfschüttelnd auf unsere eigene Kirche.

Die skizzierten Tendenzen sind so gewaltig, so fundamental und so unerbittlich stabil, dass es illusorisch wäre, an eine Trendumkehr zu glauben. Die Aufgabe, „die Beziehungen zwischen Kirche und Welt zu klären und zu fördern“, ist deshalb künftig schwieriger, subtiler und vielschichtiger als früher. So wird die Arbeit der Akademie gewiss nicht leichter werden. Aber in ihrer relativen Unabhängigkeit birgt sie doch auch die Chance, sich ein wenig frei zu machen von der allgemeinen Großwetterlage und sich auf die veränderte und weiterhin veränderliche Situation einzulassen. Und, das muss man auch sagen: Die Katholische Akademie in Bayern ist für schwierige Aufgaben gut gerüstet. Denn Sie, lieber Herr Dr. Schuller, haben dieses Haus in einem dermaßen guten Zustand hinterlassen, dass mir bisher kaum etwas einfällt, was ich besser machen könnte.

Aber es geht natürlich auch überhaupt nicht darum, etwas „besser zu machen“. Sondern darum, auch in zehn Jahren noch unter veränderten Rahmenbedingungen genauso gut zu sein wie heute. Zunächst einmal muss es ja gelingen, über die Vakanz und den Wechsel in der Leitung hinweg das hohe Niveau ohne größere Einbrüche zu halten. Dafür muss ich die Perspektiven aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennenlernen und die betrieblichen Abläufe von innen her verstehen. Schon das ist etwas komplizierter, als ich es mir vorgestellt hatte. Und dann ist es sicher sinnvoll, vor allen Neuerungen erst einmal sehr genau hinzuschauen. Und gründlich mit den Gremien, mit den Bereichs- und Studienleitern und auch mit Ihnen, liebe Gäste, über die Zielvorstellungen nachzudenken, Konzepte zu entwickeln, Wollen und Können abzugleichen und, und, und …

Das Jahr 2019 wird ein Jahr des Nachdenkens werden. Ich beantrage Welpenschutz für dieses Jahr. In den „20er Jahren“ kann es dann losgehen – peu à peu, projektbezogen und in kleinen, behutsamen Schritten.

 

Blick nach vorne

 

Ich werde mir also nicht anmaßen, Ihnen heute Abend ein Reformprogramm oder schlaue Patentrezepte zu präsentieren. Was ich tun kann, ist: zu benennen, wo ich Herausforderungen sehe, und Richtungen für die Suche nach Lösungen anzudeuten. Dazu neun Punkte in neun Minuten:

  • Punkt 1: Natürlich muss es unser Ziel sein, dass die Akademie sich verjüngt. Ich sage mal: In manchen Alterssegmenten sind wir besser aufgestellt als in anderen. Wie kann es gelingen, dass das etwas ausgewogener wird? Könnten uns vielleicht die Hochschulkreise mit Studierenden in Kontakt bringen? Wollen wir es jungen Eltern durch Kinderbetreuung erleichtern, sich bei uns einmal ganz entspannt intellektuellen Herausforderungen hinzugeben? Müssten wir nicht der Stilistik unserer Formate ein wenig mehr Coolness verleihen? Und akzeptieren, dass Junge Leute heute vor allem zusammen mit ihren Freunden etwas erleben möchten? Wie können Gruppen befreundeter junger Menschen hier in unserem genial schönen Gelände – in dieser Lage! – zugleich Bildung und Freundschaft erfahren?
  • Punkt 2: Natürlich muss es unser Ziel sein, die Verzahnung der Akademie mit allen Bistümern Bayerns zu intensivieren. Wie können alle Trägerbistümer noch stärker von der Arbeit und der Infrastruktur unseres Hauses profitieren? Lässt sich vielleicht manche zeitintensive Recherche so dokumentieren, dass auch andere Einrichtungen diese Ergebnisse verwenden können? Kann unsere aufwändige Medienarbeit unsere landesweite Aufstellung noch breiter abbilden? Solange ich wöchentlich aus dem nordwestlichsten Zipfel Bayerns nach München pendle, werde ich mir meine fränkische Perspektive ja ein Stück weit bewahren. Wöchentlich touchiere ich vier oder fünf der sieben bayerischen Diözesen und kann die Reise jederzeit zur Kontaktpflege unterbrechen. Vielleicht lässt sich das ja für unsere Vernetzung fruchtbar machen.
  • Punkt 3: Natürlich muss es auch unser Ziel sein, zur Finanzierung unserer Arbeit einen höheren Eigenanteil zu erwirtschaften. Dafür birgt wohl der Übernachtungsbetrieb die größten Chancen, wie es auch Dr. Schuller schon im Rahmen seiner Verabschiedung skizzierte. Natürlich wäre es besonders schön, wenn sich diese Übernachtungen verstärkt auch wieder mit eigenen Veranstaltungen generieren ließen. Aus Rothenfels kenne ich die Chancen sehr gut, die darin liegen, dass Menschen über mehrere Tage hinweg einen Erkenntnisprozess miteinander durchleben. Denn Bildungsarbeit ist Beziehungsarbeit. Lässt sich der Negativtrend bei den mehrtägigen Veranstaltungen umkehren? Wir sollten es jedenfalls versuchen.
  • Punkt 4: Natürlich muss es unser Ziel sein, die Chancen zu nutzen, die darin liegen, dass die Landesarbeitsgemeinschaft der Katholischen Erwachsenenbildung in unserem Haus angesiedelt ist: Können wir mehr von den Einzeleinrichtungen lernen? Welche Trends und Erfahrungen mit innovativen Formaten gibt es vor Ort? Viele Akteure in der Fläche sind da sicher näher dran am Puls der Zeit, als wir hier in Alt-Schwabing. Und umgekehrt die Frage direkt an die Vertreterinnen und Vertreter der KEB auf allen Ebenen heute Abend hier im Saal: Können wir mehr für Sie tun? Wie kann die Infrastruktur dieser „Landesstelle mit angeschlossener Akademie“ noch stärker für Ihre Arbeit fruchtbar werden?
  • Punkt 5: Natürlich muss es unser Ziel sein, mit allen bildungsaffinen Kreisen in Kontakt zu bleiben. Richtig gut aufgestellt ist die Kirche heute nur noch in Milieus, die es bei den heute 14- bis 17-Jährigen so schon gar nicht mehr gibt. In den derzeit wachsenden Milieus sind „Beziehungen“ zur Kirche hingegen bestenfalls uninteressant. Welche Brücken lassen sich bauen? Vielleicht auf dem Gebiet der Kultur? Kann unsere Ästhetik das leisten? Haben wir Bildung im Programm, die zum Bildungshunger dieses selbstbewussten, pragmatischen und autoritätskritischen Leit-Milieus passt? Da gibt es für uns noch viel zu lernen.
  • Punkt 6 wendet dieselbe Logik auf das Spektrum der Meinungen in unserer Gesellschaft an: Die Akademie soll eine „gute Adresse für alle“ sein, in der Akteure jedweder Couleur sich blicken lassen können, ohne dass es ihnen (oder uns) als Parteinahme angelastet wird. Ich habe mit Freude beobachtet, dass nicht nur viele Unions- und SPD-Politiker zu den treuen Gästen zählen, sondern zum Beispiel auch die Landtagsfraktion der Grünen ihre konstituierende Sitzung in unseren Räumlichkeiten abgehalten hat. Sogar „Rote Socken“ geben in diesen Mauern schon mal den Ton an – ich danke dem „Red Socks Brass Quintett“ für die wunderbare Musik an diesem Abend …

Auch Vertreter aller Religionen sind hier willkommen als Gäste und Gesprächspartner; und mit den anderen christlichen Kirchen und vielen ihrer Einrichtungen bestehen teils sehr enge und teils sehr alte ökumenische Kontakte und Kooperationen.

Das meine ich damit: Unsere Akademie hat Freunde und hat ein Ansehen in allen Richtungen. Es ist wichtig, dass wir durch Seriosität und Neutralität eine „gute Adresse“ für alle bleiben. Neutralität in Einzelfragen, aber Haltung und ein klarer Comment, was eine respektvolle Streitkultur betrifft.

  • Damit zu Punkt 7: Ich denke, wir sollten nach Wegen suchen, um diskursiver und partizipativer zu werden. Worin liegen denn die besonderen Chancen, wenn viele, manchmal hunderte Menschen sich physisch in einem Raum versammeln? Was kann man daraus machen, was online und virtuell eben nicht geht? Vergessen wir nicht: Genau das ist das Alleinstellungsmerkmal analoger Bildungsarbeit gegenüber den vielfältigen virtuellen Angeboten: direktes menschliches Miteinander. Auf frontalen Bühnenveranstaltungen, die man sich genauso gut auf YouTube anschauen könnte, bleiben viele Chancen ungenutzt.
  • Punkt 8 hängt damit eng zusammen: Unsere Stärke ist die „Debatte“, das geistige Ringen, die Kontroverse! Deshalb trägt unsere Zeitschrift dieses Wort im Titel. In einer Gesellschaft des „Anything Goes“ kann man sich leicht in seine Nische zurückziehen und findet dort Anerkennung durch Gleichgesinnte, ohne über seine Überzeugungen Rechenschaft ablegen zu müssen. Peter Neuner sagte einmal, er habe den Eindruck, die Ökumeniker seien heutzutage die einzigen, die sich noch für die Wahrheitsfrage interessieren. Immer breitere Kreise auf allen Seiten setzen dagegen auf einen neuen Rückzug in die Blase der nur noch von Likes getragenen sozialen Vernetzung und meiden die argumentative Auseinandersetzung mit Andersdenkenden. Ich meine: Das ist ein Rückfall in das 19. Jahrhundert mit den Mitteln des 21. Dagegen hilft es nur, die Kultur der Debatte zu pflegen. Und klarzumachen: Wer die Debatte scheut, dem fehlen offenbar die Argumente. Und dem ist die Wahrheit egal.
  • Punkt 9: Wenn wir als Kirche in der Debatte ernst genommen werden möchten, dann tun wir gut daran, nicht auf formale Autorität, sondern auf die Kraft der Argumente zu vertrauen, und in kontroversen Fragen, auch in innerkirchlichen Kontroversen, einen „einigermaßen herrschaftsfreien“ Dialog anzustreben. Heute lassen sich ja auch unsere „eigenen“ Gläubigen – Gott sei Dank − nicht mehr befehligen. Sie wollen gewonnen werden. Da braucht es gute Argumente. Und zwar Argumente, die auch jene verstehen, die unsere gläubigen Voraussetzungen nicht teilen. Und es braucht Vertrauen in die Urteilskraft der Menschen. In einem solchen Prozess wird nicht vorher festgelegt, welche Einsichten in die Köpfe sollen, sondern es wird ein Spektrum möglicher Deutungen eröffnet, innerhalb dessen sich jeder einzelne eine eigene Meinung bilden kann. Wir müssen nicht immer ein versöhnliches Schlusswort finden. Manche Wertung und manche Auslese kann man auch getrost dem unkontrollierbaren Prozess der Rezeption überlassen – wenn, ja wenn man dieses Zutrauen zu den Menschen hat. Die zentrale Aufgabe einer Akademie ist vielleicht diese: Wir sollen Menschen, die gerne nachdenken und schwierigen Problemen auf den Grund gehen möchten, jene Informationen und Interpretationen auf dem Silbertablett servieren, die sie brauchen, um sich selbst zu positionieren.

Natürlich vertreten wir als Kirche dabei unsere Überzeugungen. Und natürlich wollen wir auch einen überzeugenden Eindruck hinterlassen. Was aber im Einzelnen an uns für die anderen attraktiv ist, das müssen diese nun einmal selbst entscheiden. So, wie die Kunst im Auge des Betrachters entsteht, so klärt sich unser Wert im Dialog mit der Welt im Bewusstsein der Dialogpartner, nicht in unserer eigenen Programmatik. Insofern ist jeder missionarische Impetus abzulegen. Er ginge in diesem Kontext auf Kosten unserer Glaubwürdigkeit.

 

Unsere „20er Jahre“ – „Golden Twenties“?

 

Liebe Gäste des heutigen Abends, vielleicht ist es ja trotz aller Widrigkeiten gar nicht ausgeschlossen, dass es „goldene“ 20er Jahre werden.

  • Zwanziger Jahre, in denen dieses Haus von allen Seiten als Dialograum geschätzt und genutzt wird, weil hier sichtbar wird, was es bewirken kann, wenn trotz unter­schied­lichster Standpunkte doch über die Regeln einer guten Streitkultur Konsens herrscht.
  • Zwanziger Jahre, in denen sich die Kirche hier auch selbst offen und nachdenklich kritischen Anfragen stellt. Und in denen die Kirche aber gerade dadurch deutlich macht, dass sie innerlich die nötige Stärke hat, sich einer solchen offenen − und ergebnis-offenen − Debatte auszusetzen.
  • Zwanziger Jahre, in denen die Akademie vielleicht sogar ein wenig mithelfen kann, Lösungen für die drängenden Probleme der Gesellschaft, für die „Sorgen und Nöte der Menschen“ zu finden. Im eigenen Laden können wir dabei – von der CO2-Bilanz über den Umgang mit den Mitarbeitern bis zur Bio-Küche − auch mit gutem Beispiel vorangehen.

Wenn ich sehe, von welch einem dichten Netzwerk an gutem Willen, Unterstützung und Mithilfe unsere Akademie getragen ist … wenn ich allein in diesen Saal schaue und Ihre Gesichter sehe, wenn ich auf die vielen treuen Gäste und Freunde und Gönner schaue, die ihre klugen Gedanken einbringen oder uns finanziell unterstützen, auf die Gremien und die in ihnen geballt versammelte Kompetenz, auf das gigantische Netzwerk der Katholischen Erwachsenenbildung, auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre hohe Motivation, auf die Bayerischen Diözesen, ihre treue Förderung und ihre „Coolness“, ein solches Projekt zu ermöglichen …, dann kann ich mir schon vorstellen, dass das klappen könnte. Wer, wenn nicht wir, hätte das Zeug dazu?!

Ich wünsche mir und uns allen, dass es uns miteinander gelingt, sechs reichen und kostbaren Jahrzehnten noch weitere folgen zu lassen, in denen die Katholische Akademie in Bayern ihren Auftrag erfüllt, „alles zu prüfen“ und jene Debatten zu forcieren, die der Katholischen Kirche in Bayern gut tun. Ich denke, das sind wir denen schuldig, die vor uns waren. Und erst recht natürlich denen, die nach uns kommen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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