Ein Buch mit sieben Siegeln

Eine Einführung in die Johannesapokalypse

Im Rahmen der Veranstaltung "Die Johannesapokalypse", 25.03.2024

Eduard Jakob von Steinle (1838) / Wikimedia Commons, Public Domain

Wer die Johannesapokalypse liest, mutet sich einiges zu. Leserinnen und Leser waten knöchelhoch durch Blut. Angsteinflößende Gestalten säumen den Weg. Schlachten kosmischen Ausmaßes wollen schier kein Ende nehmen. Immer wieder kommt es – obwohl der Sieg schon nahe scheint – zu einem Aufbäumen der dunklen Mächte und erschrecklichen Kreaturen. Zornesschale um Zornesschale regnet auf die Erde hernieder.

Die Johannesapokalypse schockiert und entsetzt Leserinnen und Leser. Sie wirft Fragen auf: Von welcher Zeit spricht die Apokalypse eigentlich? Passt sie in den Kanon des Neuen Testaments? Was beinhaltet, was enthüllt sie: einen Weltuntergangs-Fahrplan oder – nicht auch doch – eine gute Botschaft?

Das ist die eine – dunkle – Seite der Schrift. Zugleich aber beschreibt die Johannesapokalypse auch Sonnenaufgänge von gigantischer Schönheit. Sie erzählt von Glückszuständen, die – menschlich gesprochen – keine Worte, sondern nur Bilder einfangen können. Wieder und wieder erklingen die schönsten und gehaltvollsten Gottesprädikationen aus dem Mund von Engeln und himmlischen Chören. Am Ende angekommen, atmen Leserinnen und Leser auf in der kristallklaren Luft jener himmlischen Gottesstadt, die aus Edelsteinen erbaut ist und golden glänzt.

So gegensätzlich und widersprüchlich ist die Johannesapokalypse. Sie ist das bei weitem schönste und hässlichste, trostvollste und erschrecklichste Buch des gesamten Neuen Testaments. Vielen Leserinnen und Lesern aber dürfte die Schrift so verschlossen vorkommen wie ein siebenfach versiegeltes Buch. Im Folgenden soll es deshalb um eine erste Einführung in die rätselvolle Welt der Johannesapokalypse gehen. Wer sie liest, braucht Leseschlüssel, denn – auch das ist wahr – im Lauf der Geschichte wurde die Johannesapokalypse oft missverstanden und missbraucht. Sie wurde als Droh- und Druckkulisse benutzt und zum Schüren von Ängsten verwendet. Zunächst einmal ist und bleibt sie aber eine Schrift des ausgehenden 1. Jh. n. Chr., die aus ihrer Zeit heraus verstanden und als Teil einer literarischen Gattung wahrgenommen werden will.

Apokalyptik und Apokalypsen

Ihrer Vorstellungswelt – ihrem Denken und Empfinden – nach ist die Johannesapokalypse der frühjüdischen Apokalyptik zuzuordnen. Erste Spuren dieser geistesgeschichtlichen Strömung lassen sich im 2. Jh. v. Chr. und – auf die biblischen Schriften geblickt – im Buch Daniel nachweisen. Die Situation in Jerusalem ist katastrophal. Antiochus IV. Epiphanes treibt die Hellenisierung Jerusalems und des jüdischen Volkes voran: ein Gräuel in den Augen der gläubigen Juden. Die Situation ist ausweglos. Weder die Politik noch eine militante Gegenwehr versprechen die Lösung. Eine Wende kann nur mehr Gott bringen. So schiebt sich die Grenze der Hoffnung immer weiter hinaus: bis ins Jenseits! Allein von Gott erhofft man sich die Rettung: die Beseitigung des Unrechts und Gerechtigkeit für die Opfer. Das Buch Daniel ist ein beredeter Zeuge jener apokalyptischen Flamme, die sich in Krisenzeiten entzündet und in den Herzen thoratreuer Juden lodert. Kennzeichen der Apokalyptik und ihrer literarischen Niederschläge – der Apokalypsen – sind eine dualistische Vorstellung, der schroffe Gegensatz von Gut und Böse, jetzt und dann. Visionen und Auditionen schenken inmitten der bedrückten Lage eine hoffnungsfrohe Aussicht auf die von Gott bewerkstelligte Zäsur und Wende. Die Apokalyptik ist kein flächendeckendes Phänomen: Ihre Trägerkreise sind in der Schrift unterwiesene Zirkel und Gruppierungen. Dem entspricht auch die besondere Sprache der Apokalyptik und die Symbolik der Apokalypsen: Die Bedeutung geheimnisvoller Bilder und Zahlen erschließt sich nur Eingeweihten. Die Anregungsfrequenz der Apokalyptik ist die Krise. Angesichts des drohenden Untergangs fordert die Apokalyptik Gott zum Eingreifen auf!

Unser zeitgenössisches Verständnis von Apokalyptik und Apokalypsen unterscheidet sich deutlich vom biblischen Verständnis. Unter einer Apokalypse verstehen wir heutzutage gemeinhin die größtmögliche Katastrophe, den Untergang und das Grauen schlechthin. Ersichtlich mag dies etwa am Titel des Films Apocalypse now werden, der zu Zeiten des Vietnamkriegs spielt. „Apokalypse“ heißt – im Sinne des Films – Vernichtung, Untergang und Katastrophe. Doch wo die heutige Bedeutung des Worts „Apokalypse“ mit dem Untergang endet, ist der Untergang für die biblische Apokalyptik nur Anfang und Nährboden.

Der jüdische Theologe Pinchas Lapide nannte die biblische Apokalyptik eine „endemische Krankheit“, im Zuge derer sich die jüdischen Hoffnungsorgane entzünden würden. Die Apokalyptik keimt in Krisen auf: Sie ist nicht pandemisch, sondern lokal begrenzt, eben endemisch. Sie erwächst Krisenherden. An ihnen entzündet sich die Hoffnung: Alles, was der biblische Glaube oder das Judentum an Hoffnung beinhalten, schwillt förmlich an. Nicht nur die Krise wird als radikal und endgültig gesehen, auch die Hoffnung wird radikalisiert: Das Böse wird vollends ausgemerzt und die Rettung in den schillerndsten Farben gezeichnet und ersehnt. Zur biblischen Apokalyptik gehört beides: Untergang und Rettung, die Katastrophe und die Aussicht auf eine baldige Wende.

Der Unterschied zwischen unserem zeitgenössischen und dem biblischen Verständnis von Apokalyptik lässt sich treffend anhand einer Kurzgeschichte von Friedrich Dürrenmatt darstellen. In der Erzählung Der Tunnel beschreibt Dürrenmatt einen Zug, der immer schneller und schneller in einen Abgrund rast. Das Ende ist unabwendbar: Die Notbremse funktioniert nicht, der Lokomotivführer ist längst abgesprungen. Der Zug wird zerschellen. Dürrenmatt
beschreibt ein Zwiegespräch im Führerraum des Zuges zwischen dem Zugführer und einem jungen Mitreisenden, der dem drohenden Tod mutig ins Auge blickt: „»Was sollen wir tun?« schrie der Zugführer noch einmal, worauf der Vierundzwanzigjährige, ohne sein Gesicht vom Schauspiel abzuwenden, während die zwei Wattebüschel durch den ungeheuren Luftzug, der nun plötzlich hereinbrach, pfeilschnell nach oben in den Schacht über ihnen fegten, mit einer gespenstischen Heiterkeit antwortete: »Nichts. Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.«“ Genau dies ist auch die Botschaft der biblischen Apokalyptik: Am Ende steht nicht der Untergang, sondern Gott. Die Katastrophe hat nicht das letzte Wort. Zug, Menschen oder Welt mögen fallen, sie fallen auf Gott zu. So steht auch am Ende der Johannesapokalypse nicht das Fallen und Scheitern, sondern die Erwartung eines Neuanfangs, den Gott setzt und schafft: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr.“ (Offb 21,1)

Das Besondere an der Kurzgeschichte Dürrenmatts ist nun, dass Dürrenmatt den Schluss aus dem Jahr 1952 in einer zweiten Fassung aus dem Jahr 1978 ändert. Dieses Ende aber hofft nicht mehr auf einen Gott, der über allem Untergang steht. „»Was sollen wir tun?« schrie der Zugführer noch einmal, worauf der Vierundzwanzigjährige, ohne sein Gesicht vom Schauspiel abzuwenden, (…) mit einer gespenstischen Heiterkeit antwortete: »Nichts.«“ Gott ist gestrichen. Die Katastrophe ist absolut.

Die biblische Apokalyptik dagegen redet nicht dem Untergang das Wort. Der griechischen Wortbedeutung nach meint das Wort „Apokalypse“ Ent-hüllung, Ent-schleierung. Genau dies will die Apokalyptik erreichen: Mitten im Untergang soll der Blick auf eine von Gott her nahende Rettung freigelegt werden. Apokalypsen sind Trostschriften und Hoffnungsreservoire. Sie mögen dem Untergang erwachsen, aber sie finden sich nicht damit ab. Am Ende steht die Hoffnung auf einen Gott, der Neues schafft.

Verfasser

Im Unterschied zu anderen frühjüdischen Apokalypsen, die anonym verfasst oder unter einem Pseudonym geschrieben wurden, nennt die Johannesapokalypse den Namen ihres Autors: Johannes (Offb 1,1.4.9; 22,8). Es besteht kein Grund, an der Korrektheit dieser Autorenangabe zu zweifeln. Den adressierten sieben kleinasiatischen Gemeinden dürfte Johannes bekannt gewesen sein. Womöglich hat er als Wanderprediger in der Region gewirkt. Er kennt Bauwerke und Personen, weiß um die herausfordernde Situation für die Christen und erwähnt Vorfälle und Ereignisse in den Städten.

Zur Zeit des Offenbarungsempfangs befindet sich Johannes auf der Insel Patmos „wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses von Jesus“ (Offb 1,9). Die Formulierung hat in der Forschung Diskussionen ausgelöst. Für eine Verkündigungs- oder Missionstätigkeit „wegen des Wortes Gottes“ ist die Insel wohl zu klein. Die Wendung scheint eher auf einen unfreiwilligen Aufenthalt hinzuweisen: Schon in der Alten Kirche wurde von einer „relegatio in insulam“ ausgegangen. Womöglich geriet Johannes wegen seiner Verkündigungstätigkeit mit den staatlichen Behörden in Konflikt und wurde – befristet und ohne sämtliche Rechte und Güter zu verlieren – auf der Sporadeninsel festgesetzt. Johannes selbst scheint dies anzudeuten, wenn er davon spricht, dass er – wie die Adressaten – bedrängt ist und standhaft ausharren muss (Offb 1,9).

Mit Johannes, einem der Jünger Jesu und Teil der Zwölf, ist der Verfasser der Johannesapokalypse nicht zu verwechseln. Er ist auch nicht mit dem Verfasser des Johannesevangeliums gleichzusetzen, das im Übrigen anonym verfasst ist und auf den „geliebten Jünger“ zurückgeführt wird. Altkirchlicher Tradition entsprechend, wurde der „geliebte Jünger“ mit dem Apostel Johannes identifiziert, was kritisch zu hinterfragen ist und wovon die heutige Forschung kaum mehr ausgeht. Für die Eigenständigkeit der Johannesapokalypse spricht, dass die Apostel als eine Größe der Vergangenheit angesehen werden. Ihre Namen stehen auf „den zwölf Grundsteinen“ (Offb 21,14) der himmlischen Gottesstadt. Johannes blickt auf die Zeit der Apostel zurück. An keiner Stelle nennt er sich selbst „Apostel“, was doch – wenn es denn so gewesen wäre – seine Autorität gesteigert hätte. Zudem sind die verwendeten Begrifflichkeiten und die theologischen Inhalte der Johannesapokalypse sehr verschieden vom Johannesevangelium: Apokalypse und Evangelium wurden nicht von ein und demselben Autor verfasst.

Adressaten

Die Situation in den sieben adressierten Gemeinden, die allesamt im Westen der heutigen Türkei liegen, wird man sich nicht zu dramatisch vorstellen dürfen. Von einer flächendeckenden, akuten Christenverfolgung, die zahlreiche Todesopfer gefordert hätte, ist zur Abfassungszeit der Johannesoffenbarung nicht auszugehen. Dennoch kann die Situation bedrückend und belastend sein: Die Christusgläubigen stehen am Rand der Gesellschaft. Ihr Glaube setzt sie ins Abseits. Insbesondere zwei Konfliktherde werden in den Sendschreiben der Johannesapokalypse (Offb 2–3) deutlich.

Inmitten der reichsrömischen Gesellschaft macht das Bekenntnis zu Jesus die Christen politisch und sozial auffällig. An Spielen und Prozessionen zu Ehren des Kaisers nehmen die Christen nicht teil. Sie verehren nicht den Kaiser als Gott. Gerade in den letzten Regierungsjahren radikalisierte Kaiser Domitian seinen Anspruch, als „unser Herr und Gott“ (Sueton, Domitian 13,2) angeredet und verehrt zu werden. Aber auch die einheitsstiftenden griechischen und römischen Götter, den Besuch der paganen Tempel oder auch das Essen von den Göttern geweihten Speisen lehnen die Christen ab. Sie erleiden das Schicksal einer kognitiven Minderheit. Der soziale Druck wächst. Die wirtschaftlichen Vorteile schwinden. Der politische Druck nimmt zu.

Neben diesem ersten Konfliktherd rekognosziert Johannes ein zweites Spannungsfeld innerhalb der christlichen Gemeinden. Auf den gesellschaftlichen Anpassungsdruck wird in den Gemeinden nicht nur mutig und mit Überzeugung reagiert: Johannes nennt innergemeindliche Splittergruppen, die auf Ausgleich und Anpassung bedacht sind (Offb 2,6.15). Es dürfte sich dabei um Christen handeln, die Kompromisse suchen und auf ein versöhntes Verhältnis zur reichsrömischen Gesellschaft bedacht sind, die – ohne im eigentlichen Sinn an die griechisch-römischen Götter zu glauben – sehr wohl Fleisch aus den tempeleigenen Metzgereien verzehren und an öffentlichen Anlässen und Feiern teilnehmen. Johannes geißelt dieses integrationsgestimmte Verhalten als faulen Kompromiss und als „Unzucht“ (Offb 2,14.20). Er plädiert für die entschiedene Abgrenzung, die Selbstisolation und die gesellschaftliche Verweigerung: „Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel her rufen: Verlass die Stadt, mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihren Plagen mitgetroffen wirst.“ (Offb 18,4) Unmissverständlich und radikal wirbt Johannes für den gesellschaftlichen Exodus der Christen.

In den vergangenen Jahren ist in der Forschung die Diskussion über die Abfassungszeit der Johannesapokalypse neu entbrannt. Ist die Schrift (erst) unter Kaiser Hadrian entstanden oder gar noch früher und (schon) unter Kaiser Nero? Ein breiter Forschungskonsens spricht sich nach wie vor für eine Datierung an das Ende der Regierungszeit von Kaiser Domitian aus. Dazu passen die sich verschärfenden Divinisierungsansprüche von Kaiser Domitian und auch das altkirchliche Zeugnis. So bemerkt etwa Irenäus in seiner Schrift Adversus haereses, dass die Abfassung der Johannesapokalypse noch nicht lange zurückliege: „Das ist aber vor gar nicht langer Zeit geschehen, sondern eben erst am Ende der Regierungszeit des Domitian.“ (V,30,3) Ebenso geht Euseb in seiner Kirchengeschichte – auch wenn er den Verfasser der Offenbarung mit dem Autor des Johannesevangeliums identifiziert – von einer Entstehung der Schrift unter der Regentschaft von Kaiser Domitian aus: „Als nach der 15-jährigen Regierung des Domitian Nerva die Herrschaft übernommen hatte, fasste der römische Senat den Beschluss, dem Domitian seine Ehrentitel zu entziehen und die ungerecht Verbannten nach Hause zurückzurufen unter Zurückerstattung ihres Vermögens. So berichten die Geschichtsbücher der damaligen Zeit. Nach alter christlicher Überlieferung kehrte damals der Apostel Johannes aus seiner Verbannung auf der Insel zurück und nahm wieder seinen Aufenthalt in Ephesus.“ (III,20,8–9)

Zu beachten gilt dabei, dass die – teils durchaus archetypische – Form der Bilder und Metaphern in der Johannesapokalypse eine Polyvalenz bedingt, die – vielleicht bewusst – für verschiedene Rezeptionskontexte und Situationen offen ist. Man entdeckt sich und seine Zeit sehr leicht in den Farben und Formen, Gestalten und Geschehnissen der Apokalypse. Eine Datierung in die Zeit Kaiser Hadrians basiert gerade darauf: Man meint, Personen und Ereignisse aus der Mitte des 2. Jh. n. Chr. im Symbolkosmos der Offenbarung zu entdecken. Hier gilt es zu differenzieren und zwischen der polyvalenten Durchlässigkeit der Bilder und den wirklich belastbaren – textinternen und textexternen – Datierungshinweisen zu unterscheiden. Eine Datierung der Johannesapokalypse ans Ende des 1. Jh. n. Chr. und unter Kaiser Domitian scheint – getragen von einem breiten Forschungskonsens – sehr stichhaltig und überzeugend.

Aufbau

Im Grunde genommen stellt sich die Johannesapokalypse als eine kontinuierliche Folge einzelner Visionen und Auditionen dar. Die Worte „ich sah“ und „ich hörte“ bestimmen den narrativen Verlauf: Johannes sieht und hört. Aus einer Vision ergießt sich die nächste. Der große Spannungsbogen, der von der Erde bis in das himmlische Jerusalem, vom Konflikt bis zur rettenden Lösung reicht, ist entscheidend.

Nach der Bucheinleitung, in der Johannes die Herkunft und Überlieferung der Offenbarung schildert (Offb 1,1–3), und einem brieflich anmutenden – kommunikationsstützenden – Element (Offb 1,4–8) setzt der eigentliche Inhalt des Buchs mit der Eröffnungsvision ein (Offb 1,9–20). Johannes sieht ein Wesen „gleich einem Menschensohn“­
(Offb 1,13). Johannes wird zur Niederschrift des Buchs beauftragt: „Schreib das, was du siehst, in ein Buch, und schick es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus, nach Smyrna, nach Pergamon, nach Thyatira, nach Sardes, nach Philadelphia und nach Laodizea.“ (Offb 1,11) Wenige Verse später wird dieser Schreibbefehl inhaltlich entfaltet: „Schreib auf, was du gesehen hast, was ist und was danach geschehen wird.“ (Offb 1,19) Die Dreigliedrigkeit dürfte auf die drei großen Teile der Johannesapokalypse zu beziehen sein: auf die Eröffnungsvision („was du gesehen hast“), die Sendschreiben (Offb 2,1–3,22) an die sieben Gemeinden („was ist“) und auf den Apokalyptischen Hauptteil in Offb 4,1–22,5 („was danach geschehen wird“).

Die sieben Sendschreiben nehmen das Lieben und Leiden der einzelnen Gemeinden in den Blick. Christus spricht – über den Boten Johannes – die Christen an. Er lobt und tadelt. Er ruft zur Umkehr auf. Was der einzelnen Gemeinde gesagt wird, soll – im Verbund der sieben Schreiben – von allen gehört werden. Gerade die Siebenzahl macht die universale Relevanz der Sendschreiben deutlich: Die sieben Briefe richten sich an die Gesamtheit aller Christusgläubigen.

Der Apokalyptische Hauptteil beginnt mit der Thron­saalvision. Johannes folgt einer Stimme, die ihn – nach den ganz auf die Welt der kleinasiatischen Gemeinden ausgerichteten Sendschreiben – hinaufruft: Er nimmt das Geschehen nun aus einer anderen Perspektive – aus der Perspektive des Himmels – wahr. Vom Thronsaal Gottes aus entspannt sich das Geschehen: Das Lamm empfängt das versiegelte Buch aus der Rechten Gottes, löst Siegel um Siegel und setzt die Endzeitereignisse in Gang. Auf den Siegel-Zyklus folgt der Posaunenzyklus. Unterbrochen wird die Visionsfolge durch einzelne, das Geschehen zusammenfassende Visionen: von den beiden Zeugen und – als Mitte und Herzstück des Ganzen – vom Kampf mit dem Drachen. Die zweite Hälfte des Apokalyptischen Hauptteils widmet sich der Auseinandersetzung zwischen den Heeren des Drachen und den Heeren des Himmels. Wieder und wieder wird – in zusammenfassender Form und das Ergebnis bereits vorwegnehmend – in Hymnen und Liedern der Sieg Gottes gefeiert: „Da hörte ich eine laute Stimme im Himmel rufen: Jetzt ist er da, der rettende Sieg, die Macht und die Herrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten; denn gestürzt wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie bei Tag und bei Nacht vor unserem Gott verklagte.“ (Offb 12,10)

Alles steuert auf die finale Schlacht zwischen den beiden Lagern zu. Doch bevor der Kampf eigentlich beginnt, ist er schon entschieden: „19 Dann sah ich das Tier und die Könige der Erde und ihre Heere versammelt, um mit dem Reiter und seinem Heer Krieg zu führen. 20 Aber das Tier wurde gepackt und mit ihm der falsche Prophet (…). Bei lebendigem Leib wurden beide in den See von brennendem Schwefel geworfen.“ (Offb 19,19–20) Gänzlich ohne Gegenwehr wird das Böse gepackt und vernichtet. Am Ende steht die Herabkunft des himmlischen Jerusalems: Die Stadt kommt von oben, „von Gott her“ (Offb 21,2). Die Rettung ist nicht Leistung des Menschen. Sie wächst nicht evolutiv aus der Erde empor. Sie wird von Gott geschenkt und detailreich beschrieben. Nach einer dramatischen Reise durch Plagen und Gräuel stehen am Ende der Johannesapokalypse befreiende und erlösende Bilder. Lebenswasser rauscht. Bäume spenden Früchte in überirdischer Form und Fülle. Gott wohnt inmitten seines Volkes. Zärtlich und nah trocknet er die Tränen und beseitigt den Tod für immer: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4)

Leseschlüssel

Der große Spannungsbogen der Johannesapokalypse, der durch Konflikte und Bedrängnis hindurchführt und schließlich in den erlösenden Bildern vom himmlischen Jerusalem endet, stellt einen ersten hilfreichen Leseschlüssel dar. Die Johannesapokalypse lässt sich als zeitliche Lese-Arena verstehen: Die Leserinnen und Leser betreten das Buch, werden in den Sendschreiben mit ihrer eigenen Situation konfrontiert, begegnen allen möglichen – auf jede Zeit hin transparenten – Niederungen des Apokalyptischen Hauptteils und erreichen schließlich die ins Bild gesetzte Glaubenshoffnung, das himmlische Jerusalem.

Im Laufe dieses Lese-Dramas erlangen die Leser eine neue Sicht der Dinge. Sie blicken – mit Johannes – hinter die Kulissen. Sie durchschauen die Wirklichkeit. Johannes reißt den politischen Despoten die Maske vom Gesicht: Er lässt Rom in Gestalt der Hure Babylon als ein bluttrunkenes, seine Untertanen ausbeutendes Ungeheuer erkennen. Über allem wölbt sich ein Himmel, der – still und leise im Hintergrund – Heilsgeschichte webt und schlussendlich Erlösung schafft. Am Ende der Schrift werden die Leser verändert wieder in ihre Welt entlassen: in eine Welt, in der immer noch das Unrecht siegt, der aber nun doch eine andere Hoffnungsperspektive geschenkt ist. „Es wird keine Nacht mehr geben, und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit.“ (Offb 22,5) Die Johannesapokalypse beinhaltet und bietet Bilder, die verwandeln, stärken, trösten und zum Durchhalten ermutigen.

Johannes argumentiert nicht. Er malt und installiert einen farbenfrohen Kosmos aus Bildern, Zahlen, Formen, Farben und Symbolen. Allein mit den Mitteln der Logik und des Verstandes lässt sich die Johannesapokalypse nicht vollends begreifen. Sie spricht die Sinne an. Manches erscheint sogar unlogisch und widersinnig: Da wird – im Verlauf der verschiedenen Plagen-Zyklen – vernichtet, was doch eigentlich schon vernichtet wurde. Wie soll man sich Heuschrecken vorstellen, die Helme tragen? Johannes übertreibt und wiederholt, modelliert und karikiert. Was der Kopf nicht fassen kann, mögen Herz und Gefühl verstehen. Johannes schürt Ängste und streichelt zärtlich, er mahnt und tröstet. Sein Ziel ist es, Leserinnen und Leser über die visionäre Imagination und die sinnliche Anteilnahme anzusprechen.

Deutlich wird dies nicht zuletzt durch die Tatsache, dass die Johannesapokalypse vorgelesen werden soll. Bewusst werden am Anfang des Buchs der eine Vorleser (im Singular) und die vielen Zuhörer (im Plural) seliggepriesen (Offb 1,3). Der passende Wahrnehmungsmodus für die Johannesapokalypse sind geschlossene Augen. Die Apokalypse baut auf die Sinne und
setzt Theologie ins Bild.

Im Lauf der Geschichte hat man sich oft an der Apokalypse gestoßen. Wo bleibt die Barmherzigkeit Gottes? Sind das nicht allzu grausame und blutrünstige Bilder? Steht die Apokalypse zurecht im Kanon des Neuen Testaments? In der Ostkirche wird die Johannesapokalypse – so sehr ihr kanonischer Anspruch grundlegend anerkannt wird – noch heute nicht im Gottesdienst verlesen.

Womöglich hilft die Einsicht, dass Johannes für die Opfer der Geschichte schreibt. Das Geschehen wird konsequent aus der Perspektive der Verlierer und Entrechteten beschrieben. Ihnen gilt die Zusage: „Siehe, ich komme bald, und mit mir bringe ich den Lohn, und ich werde jedem geben, was seinem Werk entspricht.“ (Offb 22,12) Sie sind es, die rufen: „Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“ (Offb 6,10) Nicht von ungefähr entwickelte die Johannesapokalypse vor allem in Unterdrückungskontexten ihre Kraft und eine stets eindrückliche Wirkungsgeschichte: in den lateinamerikanischen Basisgemeinden, in den Spirituals und Gospels, in den Gefängnissen und Konzentrationslagern. Die Opfer der Geschichte wissen den Inhalt der Apokalypse zu schätzen. Sie entdeck(t)en – vielleicht leichter als Leserinnen und Leser in behaglicher Sicherheit – das Trostpotential dieser Enthüllung. Theologisch lässt die Johannesapokalypse manche Frage offen. Das Gottesbild wirkt einseitig und fordert zum Widerspruch auf: zu viel Gericht, zu viel Strafe, zu viel Rache… Und doch setzt die Johannesapokalypse – in einer verstörenden Radikalisierung der Wirklichkeit und durch eine diskutable Pointierung der Theologie – die urchristliche Hoffnung ins Bild: Dem Untergang gehört allenfalls das vorletzte Wort. Das letzte Wort Gottes – in der Johannesapokalypse und im gesamten Neuen Testament – lautet: „Seht, ich mache alles neu.“ (Offb 21,5)

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