Irrationalität und psychische Erkrankungen

Im Rahmen der Veranstaltung "Philosophische Tage 2018", 11.10.2018

Dieser Artikel hat zum Ziel, aus der Perspektive von Psychiatrie und Psychotherapie einen Beitrag zum Verständnis von Irrationalität zu leisten. Das ist durchaus eine interessante Aufgabe. Denn in der Psychiatrie kommt der Begriff „Irrationalität“ praktisch nicht vor. Schlägt man Stichwortverzeichnisse gängiger Lehrbücher und Wörterbücher der Psychiatrie auf, so wird man kurioserweise kaum Einträge zu „Irrationalität“ oder „irrational“ finden.

Dies liegt meiner Einschätzung nach nicht daran, dass Irrationalität in Psychiatrie und Psychotherapie keine Rolle spielt. Eher habe ich den Eindruck, dass Irrationalität eine so große Rolle spielt, dass verschiedene Alternativkonzepte benutzt werden, die vielleicht besser geeignet sind, verschiedene Aspekte von Irrationalität zu beschreiben.

Der Begriff „Irrationalität“ bezeichnet das Fehlen von Rationalität, ohne zu sagen, was stattdessen vorliegt. In meinem Beitrag möchte ich verschiedene psychiatrische Konzepte vorstellen, die positive Bestimmungen von Aspekten von Irrationalität vornehmen. Jedes dieser Alternativkonzepte werde ich im Kontext des Störungsmodells vorstellen, in dem dieses Konzept jeweils verwendet wird.

 

Einführung: Die Doppelnatur des Menschen

 

Bevor wir mit Freud und dem Unbewussten starten, möchte ich einen Schritt zurücktreten und die Vorstellung von der Doppelnatur des Menschen als geistesgeschichtlichen Hintergrund zumindest der ersten Hälfte dieses Beitrags benennen. Aristoteles hat diese Doppelnatur in der Formel vom Menschen als „ζῷον λόγον ἔχον“, als animal rationale, als Lebewesen, das eine Vernunft hat, beschrieben. Danach ist der Mensch einerseits ein Lebewesen wie die Tiere, andererseits aber durch seine Rationalität grundsätzlich von ihnen verschieden.

Diese Vorstellung von der Doppelnatur des Menschen bringt eine Dichotomie, „Rationalität versus Irrationalität“, mit sich. Zugleich bringt sie eine Hierarchie mit sich: Die Rationalität ist der Irrationalität in Rang und Herkunft übergeordnet.

Die Vorstellung von der Doppelnatur des Menschen hat in verschiedenen Variationen Eingang in unser abendländisches Denken gefunden. Dabei gab es Optimisten, wie Sokrates, der in seiner These vom Tugendwissen sagt: „Oὐδεὶς ἑκὼν ἁμαρτάνει.“ „Keiner tut wissentlich Übles.“ Wenn wir nur genug philosophieren, d.h. „unsere Rationalität anwenden“, dann handeln wir richtig.

Auf der anderen Seite gab es Skeptiker wie Sigmund Freud, die dem Irrationalen einen viel größeren Raum zuschrieben. Freud stellte die Doppelnatur des Menschen nicht in Frage. Bei ihm wurde aber die Irrationalität, d.h. „das Unbewusste“, das Triebhafte, zur bestimmenden Kraft.

 

Unbewusste Triebimpulse: Ein Defizitmodell der narzisstischen Störung

 

Das Drei-Instanzen-Modell von Freud unterscheidet „Über-Ich“, „Ich“ und „Es“. Das „Es“ wird verstanden als ein unorganisiertes Triebenergiereservoir, in dem die Libido angesiedelt ist. Das „Es“ steht im Gegensatz zu der organisierenden Ich-Instanz, welche die Ansprüche der Realität gegenüber den Triebimpulsen vertritt. Das „Über-Ich“ stellt eine Unterstruktur des „Ich“ dar und besteht aus der Summe der internalisierten Verbote.

Die größte Leistung von Freud bestand vielleicht darin, dass er die große Rolle des Unbewussten erkannt hat. Bemerkenswert ist, dass nicht nur Prozesse des „Es“, sondern auch des „Ich“ und des „Über-Ich“ zu großen Teilen unbewusst sind. Ein weiteres Verdienst Freuds liegt darin, dass er die Bedeutung der kindlichen Erfahrungen für die Entwicklung der Persönlichkeit und für die Entstehung von psychischen Störungen erkannt hat.

Im Kontext des Themas „Irrationalität“ möchte ich vorschlagen, dass es sich bei den unbewussten Triebimpulsen, die vom „Es“ ausgehen, um ein Alternativkonzept für das Irrationale handelt. Im Drei-Instanzen-Modell wäre dann die Ratio im „Ich“ anzusiedeln.

Freud hat postuliert, dass psychische Störungen auf unbewusste intrapsychische Konflikte zurückzuführen sind, in denen zum Beispiel Triebimpulse in Konflikt stehen mit moralischen Forderungen. Neben solchen Konfliktmodellen haben sich in der Tiefenpsychologie Defizitmodelle entwickelt. Diese verstehen psychische Störungen nicht als Ergebnis von Konflikten, sondern als Ergebnis von Ich- und Über-Ich-Defiziten. Im Rahmen eines solchen Defizitmodells wird zum Beispiel vorgeschlagen, dass sich bei Personen mit Narzisstischer Persönlichkeitsstörung infolge ungünstiger Einflüsse in der früheren Kindheit ein reifes „Ich“ und „Über-Ich“ nicht ausbilden konnte.

Für das Defizit-Modell, bei dem ich mich an Hoffmann und Hochapfel (2009) orientiere, ist die von Freud stammende Vorstellung grundlegend, dass eine Person im Laufe der Entwicklung einen Übergang vom Primärvorgang zum Sekundärvorgang vollzieht. Wenn man so möchte, ist dies der Übergang von Irrationalität zu Rationalität.

Der Primärvorgang ist dadurch charakterisiert, dass die unmittelbaren Bedürfnisse das Individuum steuern, dass Triebimpulse unreguliert ausgelebt werden und dass infantile Allmachtsphantasien vorliegen. Diese Allmachtsphantasien schützen gegen Ohnmachtserlebnisse des jungen, hilflosen Kindes. Zusammengefasst gilt im Primärvorgang das Lustprinzip. Der Sekundärvorgang dagegen ist dadurch charakterisiert, dass das Individuum durch Logik gesteuert ist, dass ein reifes Ich und Über-Ich die Triebimpulse regulieren, dass sich ein realitätsbezogenes Selbstbild entwickelt hat und dass zusammengefasst das Realitätsprinzip gilt.

Auch für Personen, die diese Entwicklung vom Primär- zum Sekundärvorgang ungehindert durchlaufen, gilt, dass sich Primär- und Sekundärvorgang ergänzen. Der Primärvorgang verschwindet nicht, sondern findet „im Hintergrund“ weiter statt, um in bestimmten Situationen, z.B. in Träumen, zum Vorschein zu kommen.

Bei Personen mit Narzisstischer Persönlichkeitsstörung, so besagt das Defizit-Modell, ist dieser Übergang vom Primär- zum Sekundärvorgang nicht gelungen. Bei diesen Personen konnten sich ein reifes Ich und Über-Ich nicht ausbilden, so dass auch im Erwachsenenleben noch die unmittelbaren Bedürfnisse das Handeln steuern, Triebimpulse nicht reguliert werden, Allmachtsphantasien bestehen und nach dem Lustprinzip verfahren wird.

Im Kontext des Themas „Irrationalität“ könnte man also zusammenfassen, dass bei Personen mit Narzisstischer Persönlichkeit eine Störung beim Übergang vom irrationalen Primärvorgang zum rationalen Sekundärvorgang vorliegt.

 

Dysfunktionale Kognitionen: Ein kognitives Modell der Depression

 

Nach den unbewussten Triebimpulsen wollen wir uns als zweites Alternativkonzept die dysfunktionalen Kognitionen ansehen, die in der kognitiven Theorie der Depression von Aaron Beck eine wesentliche Rolle einnehmen. Eine Grundannahme dieser Theorie ist, dass unsere Gedanken (Kognitionen) bestimmen, was wir fühlen. Das möchte ich an einem einfachen Beispiel illustrieren: Stellen Sie sich vor, es ist Abend, und Sie verlassen das Haus. Es ist dunkel, und Sie treten ins Freie. Plötzlich nehmen Sie neben sich eine dunkle Gestalt wahr. Im ersten Moment denken Sie, dass Ihnen eine fremde Person auflauert. Sie zucken zusammen, spannen Ihre Muskeln an; Ihr Puls schießt in die Höhe, Sie erschrecken und erleben Angst. Sie wenden sich der dunklen Gestalt zu und realisieren, dass es sich nur um einen Busch handelt, d.h. dass Sie einer illusionären Verkennung unterlegen sind. Muskelspannung und Herzschlag werden sich rasch normalisieren, Angst und Schrecken werden sich sogleich legen, vielleicht werden Sie sogar über sich selbst schmunzeln.

Das Beispiel macht deutlich, wie unsere Gedanken unsere Gefühle bestimmen. Auf Gehirnebene korrespondieren diese kognitiven und emotionalen Prozesse mit neuralen Prozessen, die einem dorsalen und einem ventralen System der Emotionsverarbeitung zugeschrieben werden. Unsere emotionsregulierenden Gedanken werden u.a. in Zusammenhang mit dorsalen präfrontalen Gehirnregionen gebracht, welche über sog. Top-Down-Signale die Funktion von ventral, d.h. tiefer gelegenen Arealen, wie dem ventralen präfrontalen Cortex, der Amygdala und dem ventralen Striatum kontrollieren, die mit der affektiven Reaktion assoziiert werden.

Übertragen auf das Thema „Irrationalität“ besagt die kognitive Theorie, dass rationale Prozesse einen regulierenden Einfluss auf irrationale Prozesse ausüben.

Gemäß der kognitiven Theorie von Aaron Beck sind bei der Depression die Kognitionen „negativ“ verändert. Sie sind dysfunktional, nicht hilfreich, hinderlich. Nach Beck sind die Kognitionen des depressiven Menschen verzerrt, unlogisch und nicht gerechtfertigt. Sie sind, wenn Sie so wollen, irrational. Depressive Kognitionen sind durch systematische Denkfehler charakterisiert, wie zum Beispiel willkürliche Schlussfolgerungen, Übergeneralisierung, Personalisierung, emotionale Beweisführung, dichotomes Denken und Katastrophisieren.

Unter willkürlichen Schlussfolgerungen versteht man, dass eine Person ohne sichtbaren Beweis oder sogar trotz Gegenbeweisen willkürlich negative Schlussfolgerungen zieht. Unter Übergeneralisierung versteht man, dass eine Person aufgrund eines Vorfalls eine allgemeine Regel aufstellt. (Zum Beispiel: Ich verpasse den Bus und habe in der Folge den Gedanken, dass ich nichts im Leben zuwege bringe.) Personalisierung bedeutet, dass eine Person negative Ereignisse und Entwicklungen der eigenen Person zuschreibt. Emotionale Beweisführung beinhaltet, dass eine Person ein Gefühl als Beweis für die Richtigkeit eines Gedanken heranzieht. (Zum Beispiel: Ich fühle mich wertlos und leite daraus ab, dass ich tatsächlich wertlos bin.) Dichotomes Denken ist Schwarz-Weiß-Denken. Katastrophisieren bedeutet, dass eine Person immer den denkbar ungünstigsten Ausgang einer Entwicklung annimmt.

Diese dysfunktionalen Kognitionen haben negative Gefühle zur Folge. Denn die zentrale Annahme der Kognitiven Theorie besagt ja, dass unsere Gedanken unsere Gefühle bestimmen. Zu den negativen Gefühlen, die für die Depression charakteristisch sind, gehören gedrückte Stimmung, Traurigkeit, Angst, Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühle.

Aufgabe der kognitiven Psychotherapie ist es, den Betroffenen zu helfen, diese irrationalen Kognitionen zu durchschauen und zu modifizieren, um auf diese Weise indirekt die negativen Gefühle zu lindern. Dieses therapeutische Vorgehen ist durchaus in Einklang mit Sokrates zu sehen, der ja der Erkenntnis einen großen Wert beimaß. Ebenfalls in Übereinstimmung mit Sokrates gehen die kognitiven Therapeuten davon aus, dass die betreffende Person die Dinge selbst verstehen muss. Der Patient muss „selbst drauf kommen“, unterstützt vom Therapeuten. Sokrates sprach von der Philosophie als „Hebammenkunst“. Die kognitiven Verhaltenstherapeuten sprechen von „Sokratischem Dialog“.

Der Zusammenhang zum Thema „Irrationalität“ ergibt sich in diesem kognitiven Modell der Depression an zwei Stellen, zum einen bei den Emotionen im Gegensatz zu den Kognitionen, und zum anderen bei den dysfunktionalen Kognitionen im Gegensatz zu den funktionalen Kognitionen.

 

Automatische Prozesse: Ein neurobiologisches Modell der Sucht

 

Wir kommen zu unserem dritten Alternativkonzept, den automatischen Prozessen in einem neurobiologischen Modell der Alkoholabhängigkeit.

Die Alkoholabhängigkeit ist – wie andere Süchte auch – durch ein Paradox charakterisiert: Obwohl sich die betreffende Person fest vornimmt, keinen Alkohol zu konsumieren, tut sie es doch. Obwohl eine Person um die langfristig schädlichen Folgen, wie z.B. Lebererkrankungen oder Verlust von Arbeitsplatz und Partnerschaft, weiß, setzt sie den Konsum fort. Die sokratische These vom Tugendwissen scheint außer Kraft gesetzt zu sein.

Eine Erklärung für dieses irrationale Verhalten könnte darin liegen, dass die Sucht aufrechterhalten wird durch automatische Prozesse, die unabhängig von unseren rationalen Überlegungen stattfinden und die man als irrational bezeichnen könnte. Wenn ich hier von automatischen Prozessen spreche, meine ich damit schnelle, implizite, subkortikal im Gehirn ablaufende Prozesse, die von den Betroffenen nicht wahrgenommen werden. Ein Beispiel für automatische Prozesse ist ein Annäherungsbias, d.h. die Tendenz, sich Alkohol-bezogenen Reizen anzunähern.

Ein solcher Annäherungsbias kann experimentell mit der Approach Avoidance Task (Rinck & Becker, 2007), der Annäherungs-Vermeidungs-Aufgabe, untersucht werden. Die Studienteilnehmer sitzen bei dieser Aufgabe an einem Computer, auf dem ihnen Fotos von alkoholischen und nichtalkoholischen Getränken präsentiert werden. Sie werden gebeten, mit einem Joystick auf die Fotos zu reagieren. Sie sollen den Joystick drücken, wenn ein Bild im Querformat präsentiert wird, und ziehen, wenn ein Bild im Hochformat präsentiert wird. Ob man drückt oder zieht, hängt also nicht davon ab, was auf dem Foto gezeigt wird, sondern vielmehr davon, welches Format das gezeigte Foto hat.

Ein besonderer Trick der Approach Avoidance Task ist, dass die Fotos kleiner werden, wenn man den Joystick drückt, und dass die Fotos größer werden, wenn man ihn zieht. Dadurch entsteht bei dem Studienteilnehmer der Eindruck, dass er das Getränk tatsächlich an sich heranzieht oder von sich wegdrückt.

Die Studienteilnehmer werden gebeten, so schnell wie möglich zu reagieren. Die Reaktionszeiten werden gemessen. Der durchschnittliche Unterschied in den Reaktionszeiten zwischen Drücken und Ziehen wird berechnet. Wenn eine Person im Durchschnitt schneller zieht als sie drückt, hat sie einen Annäherungsbias. Bei Personen mit Alkoholabhängigkeit zeigt sich in der Approach Avoidance Task ein solcher Annäherungsbias bei Alkohol-bezogenen Fotos (R. Wiers et al., 2010). Ein solcher Annäherungsbias findet sich dagegen nicht bei Fotos von nicht-alkoholischen Getränken. Auch zeigen Personen ohne Alkoholabhängigkeit keinen Annäherungsbias für Alkohol-bezogene Fotos.

Man kann diese automatischen Prozesse, für die der Annäherungsbias ein Beispiel darstellt, im Kontext eines Zwei-System-Modells der Alkoholabhängigkeit interpretieren (Bechara, 2005). Dieses Modell unterscheidet ein impulsives und ein reflexives System. Die automatischen Prozesse, wie z.B. die implizite Annäherung an Alkohol-bezogene Stimuli, betreffen das impulsive System, man könnte sie als „irrational“ bezeichnen. Kognitive (rationale) Prozesse, wie das Nachdenken über die schädlichen Langzeitfolgen des Alkoholkonsums, betreffen das reflexive System.

Diesen beiden Systemen entsprechen auf neuraler Ebene zwei interagierende Gehirnsysteme. Dem automatischen, impulsiven, irrationalen System werden das ventrale Striatum, der ventromediale präfrontale Cortex und die Amygdala zugeordnet. Dem reflexiven, rationalen System wird z.B. der dorsolaterale präfrontale Cortex zugeordnet.

Wenn eine Person nun vor der Wahl steht, ein alkoholisches Getränk zu sich zu nehmen oder zu verzichten, kommt es gewissermaßen zu einem Wettstreit zwischen impulsivem und reflexivem System, d.h. zu einem Wettstreit zwischen der automatischen, impulsiven, irrationalen Annäherung und dem reflektierten, rationalen Verzicht, zu einem Wettstreit zwischen Gehirnarealen des impulsiven Systems und Gehirnarealen des reflexiven Systems. Diesen Wettstreit hat sich Heiner Stuke im Rahmen seiner Doktorarbeit mit der Methode der funktionellen Magnetresonanztomographie angesehen. Während die Studienteilnehmer im Kernspintomographen lagen und ihre Gehirnfunktion aufgezeichnet wurde, konnten sie per Knopfdruck zwischen einem alkoholischen und einem nicht-alkoholischen Getränk wählen. Eine ganze Serie von solchen Getränkepaaren wurde den Probanden präsentiert und während der Entscheidung die Gehirnfunktion aufgezeichnet. Die Probanden wussten, dass im Anschluss an die Untersuchung eine der Entscheidungen realisiert würde. Sie wussten also, dass ihnen eines der Getränke tatsächlich serviert werden würde.

Heiner Stuke fand, dass Personen mit schädlichem Gebrauch von Alkohol oder Alkoholabhängigkeit sich öfter für den Alkohol entschieden. Diese Entscheidungen waren mit vermehrter Aktivierung in Arealen des impulsiven Systems verbunden, nämlich in ventralem Striatum, Amygdala und ventromedialem präfrontalem Cortex. Dagegen zeigte sich keine verminderte Aktivierung in Arealen des reflexiven Systems (Stuke et al., 2016).

Das heißt, die Entscheidung für den Alkohol war mit einer vermehrten Aktivierung im impulsiven System und nicht etwa mit einer verminderten Aktivierung im reflexiven System verbunden. Diese Daten legen somit nahe, dass weniger eine fehlende Selbstkontrolle als vielmehr automatische Prozesse im impulsiven System, vielleicht der plötzliche starke Drang, sich Alkohol anzunähern und Alkohol zu trinken, das zentrale Problem der Alkoholabhängigkeit darstellen.

Die große Frage ist nun, wie man diese automatischen, impliziten, irrationalen Prozesse therapeutisch beeinflussen kann. Reflektion im Gespräch (z.B. über die schädlichen Langzeitfolgen des Konsums), wie wir sie üblicherweise in der Psychotherapie anbieten, betrifft ja eher das reflexive System und scheint somit an der falschen Stelle anzusetzen.

Eine Möglichkeit, automatische Prozesse zu modifizieren, stellt vielleicht das Approach Bias Modification Training dar, das Reinout Wiers in Amsterdam entwickelt und Corinde Wiers im Rahmen einer Doktorarbeit wissenschaftlich untersucht hat. Bei diesem Approach Bias Modification Training führen die Patienten die vorhin bereits vorgestellte Approach Avoidance Task durch. Bei dieser Aufgabe werden den Personen ja Fotos von Getränken im Quer- und Hochformat präsentiert, die Probanden sind gebeten, querformatige Fotos mit dem Joystick von sich wegzudrücken und hochformatige Fotos an sich heranzuziehen.

Das Besondere beim Bias Modification Training ist nun, dass die Fotos so präsentiert werden, dass die Studienteilnehmer die Alkohol-bezogenen Fotos in 90% der Fälle von sich wegdrücken und nicht-alkoholische Getränke in 90% der Fälle zu sich heranziehen. Dem Verfahren liegt die Vorstellung zugrunde, dass die automatischen Prozesse modifiziert werden können, d.h. dass der automatische Annäherungsbias wegtrainiert werden kann, wenn diese Übung über einen längeren Zeitraum täglich wiederholt wird. Und tatsächlich konnten zwei unabhängige Studien zeigen, dass sich mit Hilfe dieses Trainings die Rückfallquoten innerhalb des ersten Jahres von 55 auf 45% reduzieren ließen (z.B. R. Wiers, Eberl et al. 2011). Dieser Effekt wurde nicht gefunden in einer Kontrollgruppe, in der 50% der Alkohol-bezogenen Fotos herangezogen und 50% weggedrückt wurden.

Corinde Wiers konnte mit funktioneller Magnetresonanztomographie zeigen (C. Wiers et al. 2015), dass das Approach Bias Modification Training zu einer Normalisierung der Funktion des impulsiven Systems führt.

Zusammengefasst spielen bei der Alkoholabhängigkeit offenbar automatische Prozesse eine Rolle, die man als irrational bezeichnen könnte.

 

Exkurs: Hierarchische Modelle

 

Wir haben uns nun drei Alternativkonzepte für „Irrationalität“ angesehen: unbewusste Triebimpulse, dysfunktionale Kognitionen und automatische Prozesse. Wenn wir für eine Zwischenbilanz kurz einen Schritt zurücktreten, fällt auf, dass alle drei vorgestellten Alternativkonzepte im Kontext von hierarischen Modellen zu verstehen sind, bei denen das Rationale dem Irrationalen übergeordnet ist und gegenüber dem Irrationalen eine regulierende, kontrollierende Funktion ausübt: „Ich“ und „Über-Ich“ kontrollieren die Triebimpulse, die vom „Es“ ausgehen, Kognitionen bestimmen die Emotionen, und reflexive Kontrollprozesse stehen im Wettstreit mit automatischen Prozessen. Die rationalen Prozesse werden mit höheren kortikalen Gehirnstrukturen in Zusammenhang gebracht und die irrationalen Prozesse mit subkortikalen.

Alle drei präsentierten Modelle haben die Entstehung von psychischen Störungen damit erklärt, dass die regulierende, kontrollierende Funktion der Rationalität ausfällt. Psychische Störung wurde gesehen als Folge einer Disinhibition, einer „Entfesselung“ des Irrationalen. Alle drei Modelle finde ich plausibel, sie können meiner Meinung nach einen wertvollen Beitrag zum Verständnis psychischer Störungen leisten. Dennoch macht es mich stutzig, dass alle drei Modelle diesem hierarchischen Prinzip unterliegen. Stutzig macht es mich vor allem deshalb, weil auch zur Erklärung anderer psychischer Störungen derartige hierarchische Modelle sehr verbreitet sind. Somit stellt sich die Frage, ob wir bei der Entwicklung von psychiatrischen Störungsmodellen möglicherweise einem „Hierarchie-Bias“ unterliegen, ob wir also dazu neigen, psychische Störungen in hierarchischen Modellen zu erklären. Andreas Heinz (Anthropologische und evolutionäre Modelle in der Schizophrenieforschung, 2002) hat die These aufgestellt, dass hierarchische Modelle unser Denken auch jenseits der Psychiatrie prägen und in zahlreichen Bereichen unseres Lebens beeinflussen, z.B. auch in Gesellschaft, Ethik und Religion.

Die Vorstellung von der Doppelnatur des Menschen mag so prägend für unser abendländisches Denken sein, dass uns bei der Erklärung von psychischen Störungen fast ausschließlich hierarchische Modelle einfallen. Es stellt sich die Frage, ob uns dies nicht in unserem Verständnis von psychischen Störungen behindert. Wenn es uns gelingt, diesen Hierarchie-Bias abzulegen, gelangen wir vielleicht zu Modellen, die noch andere Aspekte von psychischen Störungen – und von Irrationalität – erhellen.

Die vorgestellten hierarchischen Modelle gingen auch mit einer negativen Bewertung einher: Das Irrationale wurde als untergeordnet, als krankheitsverursachend, als dysfunktional angesehen. Ich möchte fragen: Hat das Irrationale denn auch „etwas Gutes“, hat es einen Sinn, einen Zweck, ein Ziel? In Medizin und Neurowissenschaften stellen wir gemeinhin nicht die Frage nach Sinn und Zweck. Teleologisches Denken gilt als unwissenschaftlich. Kausale Erklärungen sind gefragt. Jedoch nehmen wir, wenn uns die Frage nach dem Zweck drängt, gerne eine evolutionäre Perspektive ein und fragen, welche Funktion ein Phänomen hat. Aus der evolutionären Perspektive hat „alles“ – auch die Symptome einer psychischen Erkrankung oder Irrationalität – zu einer bestimmten Zeit in der Phylo- oder Ontogenese eine Funktion erfüllt, die für das Überleben der Spezies oder des Individuums hilfreich war.

Im zweiten Teil meines Beitrags möchte ich Ihnen drei Alternativkonzepte vorstellen, die in parallelen Modellen zu verorten sind. In diesen parallelen Modellen wird das Irrationale neben dem Rationalen stehen, statt ihm untergeordnet zu sein. Und das Irrationale wird nicht negativ bewertet. Vielmehr deutet sich an, dass dem Irrationalen auch eine Funktion zukommen könnte.

Florian Schuller hat vorgeschlagen, die Bezeichnung „a-rational“ zu verwenden, wenn wir wertfrei über das sprechen möchten, was sich unserer Vernunft entzieht und doch vielleicht eine Berechtigung hat. Diesen Vorschlag aufgreifend, werde ich im Folgenden vom A-rationalen sprechen, wenn ich das Irrationale wertfrei bezeichnen möchte.

 

Empathie & Compassion: Ein sozial-kognitives Modell antisozialen Verhaltens

 

Jede psychische Störung betrifft auch sehr wesentlich die soziale Interaktion mit anderen Menschen. In einem sozial-kognitiven Modell psychischer Störungen kann man psychische Störungen als Störungen des sozialen Verstehens ansehen. Mit sozialem Verstehen meine ich hier die Prozesse, die dazu beitragen, dass wir einen Zugang zu den Gefühlen und Gedanken anderer Personen finden. Tania Singer hat vorgeschlagen, eine affektive und eine kognitive Route sozialen Verstehens zu unterscheiden. In der kognitiven Route (Theory of Mind) erschließen wir durch Reflektieren, durch logisches Schließen, durch rationale Überlegungen, welche Gefühle und Gedanken eine andere Person hat. Innerhalb der affektiven Route, die ich hier auch als „a-rationale Route“ bezeichnen möchte, werden Empathie und Compassion unterschieden. Empathie bedeutet, dass wir den affektiven Zustand des anderen teilen. Ein eindrückliches Beispiel ist vielleicht, wenn eine Mutter zusieht, wie ihr Kind eine Spritze erhält; sie teilt den Schmerz mit dem Kind. Compassion könnte man mit Gefühl der liebenden Güte, Caritas, ἀγάπη oder – im christlichen Kontext – Nächstenliebe übersetzen.

Es fällt auf, dass wir es mit einer ähnlichen Dichotomie zu tun haben wie in früheren Modellen. Es werden auch ähnliche Gehirnareale mit der rationalen und der a-rationalen Domäne in Zusammenhang gebracht (Kanske et al. 2015). Im Unterschied zu früher besprochenen Modellen stehen hier die beiden Domänen jedoch gleichberechtigt nebeneinander und ergänzen einander.

Die verschiedenen Aspekte sozialen Verstehens kann man empirisch untersuchen, zum Beispiel mit einer Aufgabe namens EmpaToM, die Philipp Kanske und Tania Singer entwickelt haben (Kanske et al., 2015). Bei dieser Aufgabe werden den Studienteilnehmern kurze Filmausschnitte gezeigt (neutrale und emotionale Filmausschnitte) und die Studienteilnehmer gebeten, im Anschluss anzugeben, wie sie sich fühlen, wie viel Compassion sie erlebt haben und was die in dem Film gezeigte Person wohl gefühlt und gedacht hat. Auf diese Weise werden Empathie, Compassion und Theory of Mind erfasst.

Korina Winter hat in ihrer Doktorarbeit den EmpaToM bei Männern eingesetzt, die durch Gewaltdelikte auffällig geworden waren. Unter Gewalt verstehen wir hier eine beabsichtigte schwere Körperverletzung. Korina Winter fand bei den untersuchten Männern einen Mangel an Empathie und Compassion während der Betrachtung von Filmausschnitten, in denen die dargestellte Person litt. Die Theory-of-Mind-Fähigkeiten waren jedoch unbeeinträchtigt (Winter et al., 2017). Das heißt, die Männer zeigten Defizite in der affektiven (a-rationalen), nicht aber in der kognitiven (rationalen) Route sozialen Verstehens.

Bemerkenswerterweise findet sich ein ähnliches Defizit-Muster bei Personen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, deren zwischenmenschliches Verhalten gekennzeichnet ist durch Mangel an Empathie, Anspruchsdenken, ausbeuterisches Verhalten, Neid und arrogante Verhaltensweisen.

Im Kontext des Themas „Irrationalität“ bzw. „A-Rationalität“ könnte man auf Grundlage dieser Ergebnisse diskutieren, dass Defizite in der affektiven (a-rationalen) Route sozialen Verstehens zu Störungen des Sozialverhaltens beitragen. Umgekehrt legen die Befunde nahe, dass die affektive (a-rationale) Route sozialen Verstehens prosoziales Verhalten fördert. Somit hätten wir es hier erstmals in diesem Beitrag mit einer hilfreichen Funktion des A-rationalen zu tun.

Wir könnten nun diesen Gedankenfaden weiterführen zu Jonathan Haidt von der University of Virginia, der die Auffassung vertritt, dass moralisches Urteilen ein intuitiver Prozess sei, bei dem rationale Begründungen nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Jedoch möchte ich mich lieber als Nächstes einem daseinsanalytischen Modell zuwenden, bei dem das A-rationale eine Rolle spielt, nämlich bei existenziellen Erfahrungen. In den vorgetragenen Gedanken orientiere ich mich an Thomas Fuchs (Existenzielle Vulnerabilität, 2008), der sich seinerseits auf Karl Jaspers (Existenzerhellung; Psychologie der Weltanschauungen) und Alice Holzhey-Kunz (Daseinsanalyse, 2008) bezieht.

 

Existenzielle Erfahrungen: Ein daseinsanalytisches Modell der Hypochondrie

 

Gemäß diesem daseinsanalytischen Modell lässt sich die existenzielle Grundsituation des Menschen als „Zerrissenheit im Sein“ beschreiben. Die vermeintliche, im Alltag oft erlebte, jedoch trügerische Geschlossenheit des Daseins zerbricht, wenn wir bestimmte Grenzen erfahren, die allen Menschen gemein sind. Zu diesen Grenzen gehört, dass wir kämpfen, leiden und sterben müssen, dass wir dem Zufall ausgeliefert sind und nicht alles unter Kontrolle haben, dass wir unausweichlich schuldig werden, dass wir in unserem Leben nicht alle Möglichkeiten verwirklichen können und dass wir der letztlichen Einsamkeit des Daseins ausgesetzt sind.

Diese Grenzen sind in der Regel nicht im Fokus unserer Aufmerksamkeit. Wir verfügen nur über ein abstraktes, rationales Wissen über diese Grenzen; schon kleine Kinder wissen, dass jeder Mensch sterben muss. Es handelt sich aber um ein rationales Wissen, das nicht existenziell erfahren wird. Dies liegt daran, dass es Sicherungssysteme gibt, die Jaspers „Gehäuse“ nennt. Dabei handelt es sich um selbstverständliche Grundeinstellungen (wie z.B. „es wird immer so weiter gehen“), die uns vor existenziellen Infragestellungen schützen und ein trügerisches Gefühl von Geborgenheit in der Welt vermitteln. Ein „Schleier der Alltäglichkeit“ verdeckt unseren Blick auf diese Grenzen und schützt uns davor, die menschliche Grundsituation existenziell zu erfahren.

Aus diesem Gefühl von Geborgenheit werden wir in Grenzsituationen herausgerissen. Solche Grenzsituationen können durch kritische Lebensereignisse angestoßen werden, z.B. die Erfahrung von eigener Krankheit oder der Tod eines nahestehenden Menschen. Manchmal genügen aber auch kleine Anlässe.

In Grenzsituationen wird uns plötzlich die Wahrheit über unsere menschliche Existenz gewahr. Unsere Sicherungssysteme brechen zusammen, uns wird gewissermaßen der Boden unter den Füßen weggezogen. Solche Grenzsituationen gehen mit einer tiefen seelischen Erschütterung einher und sind eigentlich nicht zu ertragen. Charakteristisch für diese existenzielle Erschütterung ist, dass neben das abstrakte rationale Wissen um die menschlichen Grenzen nun eine konkrete, existenzielle Erfahrung tritt. Diese existenzielle Erfahrung ist durch rationale Überlegungen allein nicht zu erklären und nicht herbeizuführen; es gibt eine a-rationale Komponente, die hier hinzutritt.

Nicht zu ertragen sind diese Grenzsituationen auch deshalb, weil es keine Lösung gibt. Die Brüche der Existenz lassen sich nicht beseitigen. Es gibt keine rationalen Strategien, um Grenzsituationen zu bewältigen. Sie müssen ausgehalten, akzeptiert werden.

Aus psychiatrischer Perspektive ist es nun hilfreich, wenn wir drei Arten, auf Grenzsituationen zu reagieren, unterscheiden.

Die erste Art der Reaktion ist das Ausweichen, die Abwehr. Dies ist die Art der Reaktion, die ich beschrieben habe, als ich von intakten Sicherungssystemen gesprochen habe. Hier sind Abwehrmechanismen wirksam, wie wir sie aus der Tiefenpsychologie kennen: Verdrängung, Intellektualisierung, Verallgemeinerung, Rationalisierung und Isolierung vom Affekt. Bei der Isolierung vom Affekt werden rationale Erkenntnis und affektive Reaktion getrennt, so dass eine Erkenntnis nicht die eigentlich nahe liegende affektive Reaktion auslöst.

Die zweite Art der Reaktion nennt Karl Jaspers Sprung zur Existenz. In diesem Fall nutzt die Person die Grenzsituation als Möglichkeit zur Freiheit, als Widerlager für den Aufschwung zur eigenen Existenz. Die Person befreit sich vom „Schleier des Alltags“ und fasst den existenziellen Entschluss, den Brüchen der menschlichen Existenz ins Auge zu schauen und in der Welt zu handeln, obwohl wir nicht alle Möglichkeiten verwirklichen können und obwohl wir schuldig werden. Bei dieser zweiten Art der Reaktion würde ich auch Sören Kierkegaards „Sprung in den Glauben“ ansiedeln.

Die dritte Art der Reaktion ist, dass man an der Grenzsituation gewissermaßen „verrückt“ wird. In diesen Fällen gelingt den Betroffenen weder eine Abwehr mit Hilfe von Sicherungssystemen noch die Bewältigung durch den Sprung zur Existenz. Die Betroffenen können die Grenzsituation nicht als Möglichkeit zur Freiheit nutzen. Sie entwickeln in Reaktion auf die Grenzsituation eine psychische Störung. Zu beachten ist: In diesen Fällen bleibt die Grenzsituation in der Regel in ihrer existenziellen Dimension unbegriffen. Die betreffenden Personen können nicht sehen und artikulieren, dass hinter ihrem Leiden die Konfrontation mit der Grundsituation des Menschen steht.

Wenn einer Person nun der Sprung zur Existenz oder in den Glauben gelingt, ist dies nicht allein Ergebnis rationaler Überlegungen. Der Sprung zur Existenz kann, wie der Sprung in den Glauben, nicht auf andere übertragen, nicht durch andere vertreten oder wie Wissen gelehrt werden. Wir haben es hier mit einer existenziellen Erfahrung und einer existenziellen Entscheidung zu tun, die jenseits von rationalen Argumenten erfolgt. Wie oben schon festgestellt, gibt es eine a-rationale Komponente, die hier hinzukommt.

Wenn wir uns die erste Art der Reaktion ansehen, die Abwehr, gewinnt man sogar den Eindruck, dass Rationalität, sofern sie falsch eingesetzt wird, hinderlich sein kann für den Sprung zur Existenz bzw. in den Glauben, weil sie in Form von rationalen Abwehrmechanismen dazu beiträgt, dass wir der existenziellen Infragestellung ausweichen.

Wenn wir diesem daseinsanalytischen Modell folgen, sind psychische Störungen ein „Leiden am eigenen Sein“. Psychisch kranke Menschen besitzen dann eine besondere Sensibilität („Hellhörigkeit“) für die existenziellen Implikationen bestimmter Lebenssituationen. Thomas Fuchs hat (auch unter Bezugnahme auf Alice Holzhey-Kunz) eine Psychopathologie der Grenzsituationen vorgeschlagen. In einer solchen Psychopathologie der Grenzsituationen kann man verschiedene psychische Störungen als Formen der unbewussten Reaktion auf die existenzielle Grundsituation des Menschen verstehen.

Am Beispiel der hypochondrischen Störung möchte ich dies verdeutlichen. Im Zentrum der hypochondrischen Störung steht die dauernde Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer schweren körperlichen Krankheit zu leiden. Die Betroffenen beschäftigen sich permanent mit ihren körperlichen Phänomenen. Normale Körperwahrnehmungen werden als abnorm interpretiert. Aus einer daseinsanalytischen Perspektive lässt sich die hypochondrische Störung verstehen als eine „Hellhörigkeit“ für die Krankheitsanfälligkeit und Hinfälligkeit unseres Körpers. Alltägliche körperliche Erscheinungen (wie z.B. Kopfschmerzen) werden zur Grenzsituation, in der die hypochondrische Person sich der beunruhigenden Tatsache gewahr wird, dass sie in einer Abhängigkeit von ihrem Körper steht, dass sie seinen verborgenen Prozessen ausgeliefert ist, ohne sie kontrollieren zu können, und dass sie sterblich ist.

Das Gewahrwerden dieser Abhängigkeit vom Körper ist unerträglich. In Reaktion darauf versucht die hypochondrische Person, die Gefahr von Krankheit und Tod durch ständiges Beobachten aller körperlichen Vorgänge und wiederholt angestrebte medizinische Untersuchungen zu bannen – als ließe sich auf diese Weise die grundlegende Tatsache der Hinfälligkeit des Körpers aufheben. Die hypochondrische Störung ließe sich somit verstehen als Kampf gegen eine Grundsituation des Menschen, die nicht anerkannt und verleugnet wird.

Worin könnte nun die Rolle des Therapeuten aus daseinsanalytischer Perspektive bestehen? Sie könnte zunächst darin bestehen, die existenzielle Dimension des Leidens seines Patienten zu erkennen. Der Therapeut mag außerdem dem hypochondrischen Menschen helfen, seine Sicherungssysteme wieder aufzubauen. Im Idealfall würde der Therapeut dem hypochondrischen Menschen helfen, die Grenzsituation zu bewältigen, d.h. den Sprung zur Existenz (oder vielleicht auch in Sinne Kierkegaards in den Glauben) zu vollziehen. Wir haben aber oben schon festgehalten, dass die existenzielle Entscheidung nicht wie rationales Wissen gelehrt und dass sie nicht auf eine andere Person übertragen werden kann, weil hier eine a-rationale, uns nicht verfügbare Komponente mitspielt. Viele Patienten werden den Sprung zur Existenz nicht vollziehen. Die Aufgabe des Therapeuten könnte dann darin bestehen, dem Betroffenen zu helfen, die Krise als Ausdruck der menschlichen Grundsituation zu verstehen, an der wir alle teilnehmen und leiden, und nicht als Ausdruck seines eigenen Versagens oder seiner eigenen Schuld oder Schwäche. Diese Einsicht könnte dem Betroffenen helfen, die Situation zu ertragen.

 

Mystische Erfahrungen: Ein anthropologisches Modell der Psychose

 

Neben der hypochondrischen Störung kann auch die Psychose als unbewusste Reaktion eines „hellhörigen“, man könnte auch sagen „dünnhäutigen“, Menschen auf die existenzielle Grundsituation des Menschen gesehen werden. Für Menschen in der Psychose wird das selbstverständliche In-der-Welt-Sein zur Grenzsituation. Bei Menschen in der Psychose ist die natürliche Selbstverständlichkeit des Erlebens erschüttert.

Neben der daseinsanalytischen Perspektive möchte ich hier auch eine anthropologische Perspektive einnehmen und auf mystische Erfahrungen eingehen, die im Rahmen einer Psychose auftreten können. Zum Einstieg aber wollen wir uns die klassischen Symptome einer häufigen Form der Psychose, der paranoiden Schizophrenie, ansehen. Wir unterscheiden Positiv- und Negativ-Symptome. Zu den Positiv-Symptomen gehören Wahn, Halluzination, Ich-Störungen und zerfahrenes Denken. Zu den Negativ-Symptomen zählen Affektverflachung, Apathie, Alogie (Sprachverarmung), Anhedonie (Freudlosigkeit) und sozialer Rückzug.

Die Positiv-Symptome möchte ich noch etwas genauer erläutern. Eine typische Wahnform ist der Beziehungswahn. Dabei bezieht eine Person Ereignisse in ihrer Umgebung auf sich, die nach rationalen Kriterien gar nichts mit ihr zu tun haben können; die Person glaubt beispielsweise, dass Fernsehnachrichten versteckte Botschaften an sie persönlich enthalten. Im Bedeutungswahn erlebt der Mensch in der Psychose, dass Dinge eine besondere Bedeutung haben, denen man gemeinhin keine Bedeutung gibt. Zum Beispiel kann das rote Auto, das vor der Tür parkt, bedeuten, dass heute noch etwas ganz Besonderes passieren wird. Beim paranoiden Wahn fühlt sich eine Person verfolgt, z.B. durch die Nachbarn; der paranoide Wahn ist häufig mit Bedrohungsgefühlen verbunden. Beim religiösen Wahn ist eine Person z.B. der Überzeugung, mit Gott in direkter Kommunikation zu stehen.

Halluzinationen sind z.B. dialogisierende oder kommentierende Stimmen. Ich-Störungen sind Störungen der Meinhaftigkeit des Erlebens; eine Person hat das Gefühl, dass ihr Wille von außen beeinflusst wird, dass ihr die Gedanken von außen entzogen werden oder dass sich die eigenen Gedanken unwillkürlich und, ohne ausgesprochen zu werden, ausbreiten, so dass andere sie wahrnehmen können. Im zerfahrenen Denken geht der logische und grammatikalische Zusammenhang verloren, bis hin zu unverständlichem Wortgemisch.

Insbesondere bei den Positiv-Symptomen haben wir es, wenn Sie so wollen, mit „irrationalen“ Symptomen zu tun. Was Menschen in der Psychose erleben, ist rational nicht begründbar. Im Gespräch mit Menschen in der Psychose ist es immer wieder frappierend, wie wenig sich ein aus der Sicht der Außenwelt abwegiger Wahn durch rationale Gründe modifizieren lässt.

Die anthropologische Sicht auf die Psychose, die von Thomas Bock und Andreas Heinz (Psychosen: Ringen um Selbstverständlichkeit, 2016) vertreten wird, versucht in der Psychose nicht nur das Fremdartige, das Absonderliche und Pathologische, sondern auch das allen Menschen Gemeinsame, zutiefst Menschliche zu sehen. Die anthropologische Perspektive geht von einer Unterschiedlichkeit und Subjektivität der Weltkonstruktionen aus und erkennt an, dass es auch a-rationale Zugänge zur Wirklichkeit gibt. Die anthropologische Perspektive sieht einen fließenden Übergang, ein Kontinuum von „gesund“ zu „psychotisch“ und versteht die Psychose unter Bezugnahme auf daseinsanalytische Betrachtungen als unbewusste Reaktion auf Grenzsituationen des Menschseins. Die anthropologische Perspektive geht davon aus, dass die Möglichkeit, psychotisch zu sein, prinzipiell in jedem Menschen steckt. Durch Einnahme von Psilocybin (Pilzen) lassen sich in vielen Menschen Modell-Psychosen auslösen. Aber auch schon durch Fasten, ausgedehntes Schweigen, Reizabschirmung und Schlafentzug, wie sie in manchen Exerzitien eingesetzt werden, lässt sich bei manchen von uns eine Dünnhäutigkeit und Durchlässigkeit befördern, die uns auf dem beschriebenen Kontinuum ein bisschen auf die Seite der Psychose bringt und uns vielleicht eine winzige Ahnung davon geben kann, was ein Mensch in der Psychose – natürlich in viel ausgeprägterer Form! – erlebt.

Als Beispiel dafür, dass die Psychose zum menschlichen Repertoire gehört, weist Thomas Bock darauf hin, dass sich bei Kindern regelhaft eine Paranoia findet: Ein Kind nimmt die Welt so wahr, dass es alles auf sich bezieht, weil es überfordert wäre, die Vielfalt der Welt anders zu begreifen. Diese „Paranoia“ schützt vor Überforderung, hat die Funktion, die überbordende Vielfalt zu reduzieren. Diese Funktion der Paranoia, uns vor der Vielfalt von Reizen zu schützen, kann auch jenseits der Kindheit wichtig und richtig sein. In der Psychose greift ein Mensch in der Krise auf Muster zurück, die er abgelegt hat, die uns aber allen zu eigen sind.

Auch wenn wir in der anthropologischen Sicht auf die Psychose das zutiefst Menschliche sehen, soll die Psychose hier nicht verharmlost, normalisiert oder gar idealisiert werden; die Psychose bleibt ein Ausnahmezustand, ein leidvolles Geschehen, eine tiefe Not. In Psychosen können intensive Emotionen, außergewöhnliche Sinneswahrnehmungen und Bedeutungserleben auftreten, die man als mystische Erfahrung deuten kann. Unter mystischer Erfahrung verstehe ich hier die Erfahrung einer göttlichen oder absoluten Wirklichkeit. Dabei wird die irdische Welt in bewusster Abgrenzung zu rationaler Welterschließung überschritten.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Gabriele hat ihre Erfahrungen im Rückblick aufgeschrieben:

„Ich bin seit 1994 schizophren erkrankt. Ich war insgesamt 8 x in einer psychiatrischen Klinik. Ich habe mich in der Endphase meiner psychotischen Schübe wirklich immer sehr seltsam und auffällig benommen. Ich habe wirres Zeug geredet und das Essgeschirr zum Lüften auf den Balkon gestellt. Einmal war sogar die Feuerwehr da, weil Grund zu der Annahme bestand, ich könnte aus dem Fenster springen. Meinen Fernseher habe ich aus dem Fenster geworfen. Ich habe mit Holundergelee magische Bannkreise um die Lichtschalter gemalt und meinen sämtlichen Schmuck in der Badewanne eingeweicht. Und dergleichen indiskutable Verrücktheiten mehr. Ich war wirklich reif für die Klinik.

Vor jedem psychotischen „Ausrutscher“ ereignete sich jedoch eine Phase geistigen Wachseins, in der ich für Inspirationen sehr empfänglich war. Vielleicht war dieser Zustand bereits Bestandteil des psychotischen Schubes, ich kann es nicht genau sagen, weil ich die Grenze zwischen Normalsein und Psychotischsein nicht klar umreißen kann. Das geht so fließend ineinander über und am Ende steht dann ein merkwürdiges Verhalten, das mich in die Klinik bringt. Vorher aber kommt ein weites Feld geistiger Inspiration, in dem ich glaube, dass mir fundamentale Erkenntnisse über den kosmischen Gesamtzusammenhang und die göttliche Vorsehung offenbart werden.

Meist begann es mit einem intensiven, überwältigenden Glücksgefühl. In meinem Kopf offenbarte sich ein Bilder- und Gedankenreichtum unbeschreiblichen Ausmaßes, auch der Körper fühlte sich kraftgeladen und vital an. Es war, wie wenn man frisch verliebt ist und die ganze Welt umarmen könnte. Ich lief den ganzen Tag in einem Zustand ekstatischer Glückseligkeit herum und war davon völlig vereinnahmt, so dass ich den alltäglichen Dingen kaum noch Aufmerksamkeit schenkte.

Meine ganze, über Jahrzehnte hinweg angesammelte Bildung zu Themen wie Psychologie, Philosophie, Soziologie, Politik, Religion und Astrologie war in vollem Umfange verfügbar und ergab ein in sich stimmiges Gesamtbild: Fundamentale Lehrsätze aus Buddhismus, Hinduismus und christlicher Mystik fügten sich nahtlos in Goethes Farbenlehre, ergänzten die tiefenpsychologischen Erkenntnisse C.G. Jungs und bildeten zusammen mit astrologischen Bildern ein umfassendes Instrumentarium zum Begreifen menschlichen Verhaltens und menschlicher Motivationen. Ich verstand plötzlich ALLES. Für jede Frage, die ich mir stellte, tauchte aus der Tiefe meines Bewusstseins eine schlüssige und einleuchtende Antwort auf, ganz ohne angestrengtes Nachdenken oder irgendeine Art von [rationalem] Bemühen. Es ging ganz leicht. Mir war, als säße ich mitten in einem Großen, kostbaren Schatz von allumfassendem Wissen und könne beliebig herausgreifen, was ich nur wollte. Ich wurde durchflutet von Gefühlen tiefster Dankbarkeit gegenüber meinem Schicksal, das mir diesen Gedanken- und Ideenreichtum zuteilwerden ließ.

So verbrachte ich Stunde um Stunde, auch die ganze Nacht hindurch, fassungslos und fasziniert von diesem Überangebot an Wissen. Gleichzeitig war mir aber bewusst, dass die synaptischen Verbindungen meines Gehirns, die zeiträumliche Begrenztheit meines Bewusstseins niemals ausreichen würden, die Komplexität und den Umfang dieses Wissens zu erfassen. In Anbetracht der universellen Wahrheit, der ich mich sehr nahe fühlte, war alles, was ich zu erfassen in der Lage war, nur ein winziges Bruchstück. In diesem Zusammenhang hatte ich auch eine Art Gotteserfahrung, indem ich nämlich immer wieder, von Ehrfurcht ergriffen, dachte: GOTT IST GROSS!“

Ich habe den Eindruck, dass Gabriele am Übergang zur Psychose mystische Erfahrungen macht. Gabriele erkennt an, dass sie zu bestimmten Zeiten psychotisch war, und sie kann gut reflektieren, dass sie in der Psychose absonderliche Dinge tut. Die absonderlichen Verhaltensweisen unterscheidet Gabriele jedoch klar von den mystischen Erfahrungen, die für sie auch außerhalb der Psychose eine besondere subjektive Bedeutung haben.

Gabriele besitzt eine besondere Fähigkeit, diese Erfahrungen in Sprache zu fassen. In Hinblick auf ihre mystischen Erfahrungen ist Gabriele aber keine Rarität. Gar nicht selten berichten Menschen, die eine Psychose erlebt haben, vergleichbare mystische Erfahrungen.

Für uns Psychiater droht an dieser Stelle eine „Konkurrenz der Modelle“, wie es Hans-Peter Kapfhammer genannt hat. Unsere psychiatrischen Modelle drohen an dieser Stelle in Konkurrenz mit theologischen oder spirituellen Modellen zu geraten. Wenn wir uns die eingangs erläuterten Positiv-Symptome vor Augen halten, könnten wir geneigt sein, die Erfahrungen von Gabriele als Positiv-Symptome zu deuten und als Wahn, Ich-Störungen oder Halluzinationen einzuordnen. Sie können sich vorstellen, dass Gabriele mit einer solchen Einordnung nicht einverstanden wäre.

Aus der anthropologischen Perspektive, wie ich sie hier einnehme, erkenne ich an, dass es auch a-rationale Zugänge zur Welt gibt. Ich muss die Sichtweisen von Gabriele nicht teilen. Und ich kann sie eigentlich auch gar nicht teilen, weil mystische Erfahrungen nicht mitteilbar sind. Aber ich erkenne sie erst einmal als Möglichkeit des Zugangs zur Welt an.

Was ist dann die Aufgabe des Therapeuten? Sie könnte darin bestehen, der Patientin zu helfen, die Psychose nicht als Fremdes zu erleben, das von außen über sie kommt, sondern als Erfahrung, die mit ihrem persönlichen Leben in Zusammenhang steht. Der Therapeut unterstützte dann die Patientin bei der Suche nach dem subjektiven Sinn dieser Erfahrungen, auch der mystischen Erfahrungen. Dabei würde der Therapeut sich durchaus nicht der Sicht der Patientin unterwerfen, sondern seine eigene Weltkonstruktion behutsam „daneben stellen“.

Psychotische Erfahrungen sind nicht immer nur mit Gefühlen von Glückseligkeit verbunden, wie sie Gabriele beschrieben hat. Psychotische Erfahrungen können auch, und das ist leider häufiger der Fall, zutiefst bedrohlich und qualvoll sein. Indem ich diese Höllenqualen anspreche, die viele Menschen in der Psychose durchleiden, möchte ich noch einmal betonen, dass das Erleben in der Psychose nicht beschönigt, verharmlost oder idealisiert werden soll. Aufgabe des Therapeuten ist auch, dieses Leid zu linden. Das beinhaltet auch medikamentöse Behandlung.

Auch ist mir wichtig zu betonen, dass ich hier nicht mystische Erfahrung und Psychose gleichsetze: Nur ein Teil der Psychosen geht mit mystischen Erfahrungen einher, und mystische Erfahrungen treten häufiger in psychischer Gesundheit als in Psychosen auf. Mystische Erfahrungen sind also in keiner Weise an das Vorliegen einer Psychose gebunden. Mystische Erfahrungen sind vielleicht häufiger, als wir gemeinhin annehmen. Wenn wir beispielsweise in einer klaren Nacht den Blick in den Himmel richten, dann haben wir einerseits die Möglichkeit eines rationalen Zugangs. Wählen wir diesen, so benennen wir die Sterne, identifizieren Sternzeichen, vermessen den Himmel und berechnen mit Hilfe der Newton’schen Gesetze den Lauf der Himmelskörper, wie Harald Lesch in seinem Beitrag ausgeführt hat. Es mag aber auch vorkommen, dass wir einen a-rationalen Zugang wählen. Dann halten wir inne und werden still, dann verweilen wir ganz ruhig in der Gegenwart, „stellen die Ratio für einen Moment ab“ und lassen den Himmel auf uns wirken. Dann mag es sich ereignen, dass wir ergriffen sind von der Größe und Schönheit des Universums und, wenn Sie so möchten, eine Erfahrung des Absoluten machen, die uns demütig und ehrfürchtig macht. Dies würde ich als mystische Erfahrung begreifen.

 

Der Gewinn subjektiver Wirklichkeitserschließung

 

In einer abschließenden Bemerkung möchte ich die Perspektive des Psychiaters verlassen und eine persönliche Perspektive einnehmen. Wenn ich als Mensch anerkenne, dass es auch a-rationale Zugänge zur Wirklichkeit gibt, und wenn mir selbst solche mystischen Erfahrungen nicht gänzlich fremd sind, stellt sich die Frage, was ich mit den Berichten von mystischen Erfahrungen anderer Menschen anfange. Ich beziehe mich hier zunächst nicht speziell auf die Berichte von Menschen in Psychose, sondern auch auf die Berichte von Menschen ohne Psychose. Es stellt sich die Frage, ob die mystischen Erfahrungen anderer Menschen für mich mehr sein können als nur deren subjektive, von mir nicht geteilte Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Auch wenn mystische Erfahrungen nicht mitteilbar sind, können mir die Berichte dieser möglicherweise spirituell besonders sensiblen Menschen vielleicht doch ein Beispiel sein, eine Ahnung vermitteln, eine Richtung weisen, einen Hinweis geben auf meinem eigenen Weg, einen Zugang zur Wirklichkeit zu finden. Wenn es darum geht, einen rationalen, z.B. wissenschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit zu finden, sind wir gewohnt, von besonders begabten und erfahrenen Personen zu lernen. In ähnlicher Weise mag es auch hilfreich sein, sich bei dem Versuch, einen a-rationalen Zugang zur Wirklichkeit zu gewinnen, mit den Berichten von besonders erfahrenen Personen zu befassen.

Wenn ich nun in Betracht ziehe, dass mystische Erfahrungen anderer für mich eine Bedeutung haben können, stellt sich die Frage, wie ich es mit den mystischen Erfahrungen von Menschen halte, die psychotisch waren. Aus der anthropologischen Perspektive, die ich hier dargelegt habe, verstehen wir die Psychose als eine Möglichkeit des Menschseins, als Extremform eines a-rationalen Zugangs zur Wirklichkeit. Aus dieser Perspektive brauche ich die mystische Erfahrung, die in der Psychose gemacht wird, nicht sogleich als pathologisch abzutun und macht die Unterscheidung zwischen Psychose-bezogener und Nicht-Psychose-bezogener mystischer Erfahrung hinfällig. Aus dieser Perspektive ist die Diskussion darüber, ob große Mystiker der Bibel, der Kirchengeschichte oder auch anderer Religionen an psychischen Störungen erkrankt waren oder nicht, irrelevant.

Zusammengefasst haben wir gesehen, dass das Konzept „Irrationalität“ in der Psychiatrie praktisch nicht vorkommt. Jedoch gibt es Alternativkonzepte, die Aspekte von Irrationalität bzw. A-rationalität beschreiben. Wir haben uns sechs solche Alternativkonzepte angesehen. Die ersten drei Alternativkonzepte waren eingebettet in hierarchische Modelle, in denen das Irrationale eine untergeordnete Rolle einnimmt und psychische Störungen als Folge einer Disinhibition des Irrationalen gesehen werden. Die Alternativkonzepte der zweiten Hälfte meines Beitrags waren eingebettet in parallele Modelle, in denen dem Irrationalen bzw. A-rationalen, wie ich es explizit nicht-wertend genannt habe, eine besondere Rolle dabei zukommt, wie wir einen Zugang zu anderen Menschen, zu unserer Existenz und zu Gott finden. Mit den letzten beiden Modellen, die sich auf existenzielle und mystische Erfahrungen bezogen, wollte ich auch herausarbeiten, dass a-rationale Erfahrungen von Menschen mit psychischen Störungen zentrale Fragen des Menschseins betreffen und als Extremformen zutiefst menschlicher Erfahrungen begriffen werden können. Diese Sichtweise kann zur Entstigmatisierung psychischer Störungen beitragen. Sie kann den Patienten helfen, ihr Leiden anders einzuordnen. Sie kann Angehörigen und Therapeuten helfen, eine offene Haltung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen einzunehmen. Und sie stellt uns alle vor die Frage, was die a-rationalen Erfahrungen dieser „hellhörigen“, „dünnhäutigen“, „durchlässigen“ Menschen für uns bedeuten und was wir daraus vielleicht für unseren eigenen Zugang zur Wirklichkeit lernen können.

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