Westbindung 1955

Die politische Koordinatenverschiebung

Im Rahmen der Veranstaltung "Historische Tage 2019", 06.03.2019

akg-images/Tony Vaccaro

Erfolgreiche politische Projekte haben es in der Historiographie manchmal nicht leicht. In ihrer Zeit und in den ersten Jahren danach bestimmt die politische Kontroverse über das Projekt zumeist dessen Wahrnehmung so sehr, dass sich seine Reichweite und Bedeutung oft nicht genau definieren lässt. Aus der langen historischen Distanz wiederum erscheint vieles dann allzu leicht zwangsläufig, geradlinig: Was sich ex ante als unerhört und riskant darstellte und deshalb heftig umstritten war, wird ex post schnell zu einer Zwangsläufigkeit, ja zu einem Punkt unter vielen anderen im langen Strom der Geschichte. Damit verblasst die Zäsur, die Wegmarke leicht.

So scheint es auch mit den politischen Grundfestlegungen zu sein, die in den ersten rund zehn Nachkriegsjahren in Westdeutschland unter dem Stichwort „Westbindung“ getroffen wurden. Die mit dem Deutschlandvertrag und dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik gekrönte feste Verankerung Deutschlands in der Gemeinschaft der demokratischen Staaten Westeuropas und im transatlantischen Sicherheitssystem hat Sebastian Haffner einmal ganz richtig, wie ich meine, als „einleuchtend bis zur Unvermeidlichkeit“ bezeichnet und dabei doch ihre Umstrittenheit und das Wagnis, das sie bedeutete, allzu sehr nivelliert.

Eben deshalb hat Hans-Peter Schwarz gemahnt, nicht zu verkennen, wie oft dieses politische Projekt gefährdet war, und Arnulf Baring hat beklagt, dass gerade die erste Phase der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zwar die „tüchtigsten und optimistischsten Jahre der Republik“ gewesen seien, dass das in dieser Zeit mühsam erarbeitete internationale Ansehen aber von den nachfolgenden Generationen bis heute als viel zu selbstverständlich betrachtet werde.

Im Folgenden sollen zunächst die politischen Rahmenbedingungen rekapituliert werden, von denen das erste Nachkriegsjahrzehnt bestimmt wurde. Sodann sind die politischen Optionen zu erwägen, die in diesem Rahmen denkbar waren. Zu vergessen sind natürlich nicht die wesentlichen Entwicklungsetappen, die die Westbindung konstituierten, ohne dass hier Vollständigkeit anzustreben wäre. Abschließend soll nach den Wurzeln und den Trägern dieses Konzeptes gefragt werden.

 

 

I.

 

Die Politiker, die nach 1945 daran gingen, eine neue deutsche Staatlichkeit aufzubauen und im internationalen Rahmen zu verankern, waren alles andere als zu beneiden: Die vorwaltenden Rahmenbedingungen dafür waren alles andere als günstig.

Deutschland glich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis weit in die 1950er Jahre hinein einer gespenstischen Trümmerwüste. Die Menschen hausten auf der Straße und hungerten. Deutschland war 1945 vollständig besiegt und geschlagen, ohne jede eigene staatliche Ordnung und mit einer erdrückenden moralischen Schuld beladen, die aus dem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß von Menschheitsverbrechen der NS-Diktatur herrührten. Das Land stand unter der Herrschaft von vier Besatzungsarmeen, die es in z.T. hermetisch voneinander abgeschlossenen Zonen ihrer Verwaltung unterworfen hatten.

In der französischen Zone, der z.B. auch das heutige Bundesland Rheinland-Pfalz angehörte, bestimmte die Erinnerung an den dreimal von Deutschen nach Frankreich getragenen Krieg, 1870/71, 1914/18 und 1940/45 sowie eine harte Besatzung durch die deutsche Wehrmacht von 1940 bis 1944 nebst zahlreichen Verbrechen an französischen Staatsbürgern zunächst das Verhältnis zu den Besiegten. Nie wieder wollte man in Frankreich von Deutschen überfallen und beherrscht werden, büßen und zahlen sollten die Deutschen für das Frankreich angetane Unrecht.

Ganz ähnlich waren die Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone, wo sich die Rotarmisten zunächst einmal für die von der Wehrmacht verübten Verbrechen im Russlandfeldzug an der deutschen Bevölkerung schadlos hielten und das besetzte Land sodann zum Nutzen der eigenen Wirtschaft ausbeuten wollten. Im Unterschied zu Frankreich allerdings versuchte der sowjetische Diktator Stalin weit darüber hinaus, die Situation für die Ausdehnung seines kommunistischen Herrschaftsbereichs zu nutzen, und schuf Zug um Zug in Richtung Westen einen Gürtel von kommunistischen Satellitenstaaten um die Sowjetunion: 1947 z.B. erhielt Bulgarien eine Verfassung nach sowjetischem Muster, Rumänien wurde eine Volksrepublik, in Polen setzten sich die Kommunisten, von Moskau gestützt, immer mehr durch, Anfang 1948 fand ein kommunistischer Staatsstreich in der Tschechoslowakei statt, 1949 wurde Ungarn eine kommunistische Volksrepublik und während in Griechenland ein blutiger Bürgerkrieg zwischen bürgerlichen und kommunistischen Kräften um die Macht im Lande tobte, wurde bekannt, dass auch die Russen die Atombombe nun besaßen.

Alles sprach dafür, dass als nächstes Opfer Deutschland dem kommunistischen Machtbereich drohte einverleibt zu werden, denn als im Juni 1948 eine Währungsreform in den Westsektoren eingeführt wurde, um der neuen deutschen Wirtschaft auf die Beine zu helfen, blockierte die UdSSR Berlin, das nun rund ein Jahr von den Westalliierten aus der Luft versorgt werden musste.

Allein dies macht deutlich, wie unmittelbar die sich bald nach Kriegsende entwickelnden Spannungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion auf das deutsche Schicksal durchschlagen mussten, wie sehr der politische Handlungsspielraum eines nur allmählich und zögerlich zugelassenen neuen politischen Lebens in Deutschland eingeengt war.

 

 

II.

 

Mit der ja auch außenpolitisch schwierigen Gründung der Bundesrepublik 1949, die die Vereinigung aller Besatzungszonen in Deutschland erst einmal hintanstellte, war schließlich eine neue Lage herbeigeführt – das Grunddilemma, wie man sich nun außenpolitisch verhalten sollte, blieb aber:

Die alten nationalen, machtstaatlichen Ziele des wilhelminischen Deutschlands – sie schienen nun völlig obsolet, der Machtwahn des Nationalsozialismus und seine Verbrechen hatten jeden Gedanken in diese Richtung endgültig diskreditiert.

Man sollte freilich nicht unterschätzen, dass es auch in der totalen Niederlage immer noch etliche gab, die die Tatsache eines 12-jährigen Weges in den Untergang nicht wahrhaben wollten und trotzig an eingebildeten Rechten einer deutschen Nation festhielten. Doch machte schon die historisch bemerkenswerte, gleichsam offizielle Auflösung des Landes Preußen durch die Alliierten deutlich, dass diesem Denken in traditionellen national- und machtstaatlichen Bahnen der entschiedene Widerstand aller Siegermächte entgegenschlagen würde.

Sollte man es da nicht besser mit einer fein ziselierten Bündnispolitik nach Bismarckschem Strickmuster versuchen, die Deutschland in der Mitte Europas absicherte? Dafür fehlten aber alle Voraussetzungen: Ansprüche konnte Deutschland nun wirklich nicht mehr stellen und Angebote hatte es erst recht nicht zu machen. Sich selbst vielleicht wie Bismarck als „ehrlicher Makler“ zwischen Ost und West zu empfehlen, musste bei einem Land, das soeben unter der NS-Herrschaft einen skrupellosen Expansionismus betrieben und dabei Massenverbrechen zu verantworten hatte, ebenso wenig überzeugend wirken.

Dem widersprach im Übrigen auch das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs, das Deutschland eine solche Rolle wohl kaum freiwillig zugestanden hätte, und vor allem das aggressive kommunistische Ausgreifen, das sich von dem eben erst geschlagenen Deutschland wohl kaum hätte zügeln lassen. Gleichwohl gab es politische Ansätze, die genau diese Politik empfahlen, vor allem um die Reichseinheit zu wahren. Der CDU-Mitbegründer Jakob Kaiser etwa formulierte: „Mir scheint für Deutschland die große Aufgabe gegeben, im Ringen der europäischen Nationen die Synthese zwischen östlichen und westlichen Ideen zu finden. Wir haben Brücke zu sein zwischen Ost und West.“

Der ehemalige Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus unterschätzte damit die Last der Geschichte, die Deutschland zu tragen hatte, und scheiterte schließlich auch geradezu notwendig als CDU-Vorsitzender in der SBZ am rigiden Durchsetzungswillen der Sowjetmacht, die ihn aus dem Land trieb. Wie wenig eine Abweichung von der kommunistischen Linie im Innern akzeptiert wurde, sollte dann ja auch die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 zeigen.

Nicht weit entfernt von dieser Position, aber mit einem zusätzlichen Element versehen, lagen Überlegungen, die die traditionelle Mittellage Deutschlands betonten und auf Lösung des Problemknäuels durch eine strikte Neutralität und womöglich fundamentalen Pazifismus hofften. Der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann etwa dachte in diesen Bahnen und fand in dem Historiker Ulrich Noack einen Weggefährten, der 1948 propagierte: „Wenn die anderen unbedingt schießen wollen, dann machen wir uns klein und lassen sie über uns hinwegschießen“.

Auch dies war allenfalls ein frommer Wunsch und entbehrte allen politischen Realitätssinnes, wie wir heute wissen. Freilich wusste die Sowjetunion um solche Neigungen und nutzte sie für eigene taktische Vorstöße, wie die Stalin-Note von 1952 zeigt, die ein geeintes, aber blockfrei neutralisiertes Deutschland anzubieten schien.

Schließlich wäre auf dem Markt der traditionellen politischen Möglichkeiten deutscher Außenpolitik auch das in der Weimarer Republik erprobte Finassieren zwischen Ost und West zu finden gewesen, dessen Zielstellung die Erlangung von außenpolitischem Handlungsspielraum durch die stets virulente Möglichkeit einer immer auch noch denkbaren, alternativen außenpolitischen Option war. Aber diese Option hätte wohl in der Situation der Jahre 1945 folgende wohl nichts anderes als ein höchstgefährliches Spiel mit dem Feuer bedeutet, ließ der kommunistische Osten doch nicht an seiner expansiven Entschlossenheit zweifeln und andererseits beschwor jedes Einlassen mit den Russen die Gefahr eines Rückzugs der Westmächte hinter den Rhein und damit die Preisgabe Deutschlands an den kommunistischen Machtbereich oder aber eine Einigung der Alliierten über Deutschland, ohne die Deutschen daran zu beteiligen.

Nur wenn man sich diese dramatisch verfahrene, teils unkalkulierbare und unüberschaubare Situation klar macht, wird das Gewicht jener Entscheidung für die Westbindung deutlich, für die vorrangig der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, verantwortlich zeichnete. Nicht zu Unrecht hat Klaus Hildebrand denn auch Adenauers außenpolitischen Entwurf als „revolutionär“ und eine ganz neue Tradition deutscher Außenpolitik begründend bezeichnet.

Ansatzpunkt der Adenauerschen Konzeption war eine sehr frühe Einsicht in die Entwicklung der Ost-West-Konfrontation nach dem Krieg und eine folgerichtige Ableitung der für Deutschland daraus zu bestimmenden außenpolitischen Strategie. Adenauer sah sich, wie Volker Depkat formuliert hat, an einer Zeitenwende: Alles hatten die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg verändert. Was gestern noch Gültigkeit in der Außenpolitik gehabt hatte, das war 1949 längst Vergangenheit. Alles musste neu gedacht werden und dabei waren für ihn verschiedene Punkte zu beachten.

Erstens

Dass die kommunistische Sowjetunion, deren Atheismus und Staatsvergottung Adenauer als höchst gefährlich empfand, einen expansiven Kurs steuerte und in ihrem Machtbereich diktatorische Regime errichtete, die bürgerliche Freiheit nicht zuließen, war für ihn ebenso eine Tatsache wie die Schlussfolgerung, dass dies nur machtstaatlich begrenzt werden konnte. Da kein europäischer Staat allein über diese notwendigen Machtmittel verfügte, war nur eine westeuropäische Einigung unter sowie eine feste Allianz mit den Vereinigten Staaten in der Lage, jenes Machtpotential aufzubauen, das zur Eindämmung der sowjetischen Expansion nötig war.

Der Nationalstaat hatte sich für Adenauer ja ohnehin überlebt, nicht nur wegen der Folgen des Krieges, sondern auch wegen des rasanten technischen Fortschritts, der die nationalen Grenzen einfach überschritt. Daraus aber konnten sich Chancen für die Westdeutschen ergeben, zumal mit dem Beginn des Koreakrieges 1950, der gerne als „Vater aller Dinge“ bezeichnet wird, eine zusätzliche Dynamik in die internationale Politik kam.

Ohne Deutschland war ein solcher Sicherheitsverbund und zudem auch Wohlfahrt in Europa nicht zu schmieden, freilich nur mit einem Deutschland, das sich ganz neu orientierte, das durch im Voraus geleistete Selbstbeschränkung das so wichtige neue Vertrauen erwarb und in den dazu entstehenden Strukturen die Rolle zu spielen bereit war, die die westlichen Siegermächte ihm zuteilten. Um dieses Endziel zu erreichen, war Adenauer auch bereit einen eigenen Wehrbeitrag zu leisten, der nicht nur im Ausland (Frankreich, der Sowjetunion), sondern vor allem im Innern höchst unpopulär war.

Zweitens

Damit Deutschland in diesen Prozess einbezogen werden konnte, waren klare, kalkulierbare außenpolitische Positionen vonnöten, eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West, auch nur das Aufkommen eines Verdachtes, Deutschland könne nicht wie selbstverständlich nach Westen hin orientiert sein, ließ sofort die Gefahr einer dem deutschen Interesse entgegenstehenden Verständigung der Alliierten über Deutschland hinweg, einer Annäherung Frankreichs an die UdSSR oder gar das Desinteresse der Amerikaner an den unkalkulierbaren europäischen Entwicklungen hervortreten. Das musste aus Adenauers Sicht unter allen Umständen vermieden werden. Eben deshalb formulierte er in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler unmissverständlich: „Es besteht für uns kein Zweifel, dass wir nach unserer Herkunft und nach unserer Gesinnung zur westeuropäischen Welt gehören.“

Drittens

Den Preis, der für einen solchen Kurs zu zahlen war, glaubte Adenauer bezahlen zu müssen. Der Preis bestand vor allem in der Zurückstellung der deutschen Wiedervereinigung. Die Hoffnung allerdings war, dass ein deutscher Weststaat, einbezogen in westliche politische Strukturen, viel Anziehungskraft entfalten könnte und bei einer Änderung der politischen Gesamtlage eines Tages doch die Wiedervereinigung möglich sein würde. In diesem Sinne argumentierte damals auch der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter. Dennoch war gerade dieser Punkt in der historischen Forschung lange Zeit intensiv umstritten und der Vorwurf virulent, Adenauer habe den Osten Deutschlands preisgegeben und ausgeliefert.

Viertens

Eine glaubhafte Westorientierung Deutschlands verlangte aber zuallererst unzweideutige Signale des Willens zur Aussöhnung mit Frankreich, wiederum als Voraussetzung einer europäischen Integration. Die Wiedererlangung deutscher Souveränität setzte gleichsam die Bereitschaft zum zumindest partiellen Souveränitätsverzicht zugunsten europäischer Strukturen voraus. Das war politisch damals wie heute nicht leicht zu vermitteln, zumal die Frage des Saargebiets, das Frankreich ja 1945 an seine eigene Wirtschaft angebunden hatte, oder die Frage der von Franzosen schlicht okkupierten Stadt Kehl ungelöste politische Probleme darstellten mit einem hohen politischen Sprengpotential.

Adenauer war hier konsequent bereit, den Franzosen weitestgehend entgegenzukommen, Strittiges im europäischen Rahmen möglichst aufzuheben, um Vertrauen zu schaffen, die Westintegration zu befördern und so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, in deren Rahmen alleine nach Adenauers Ansicht auf einen deutschen Wiederaufstieg wie auf den Wiederaufstieg von ganz Europa zu hoffen war. Oft ist schon – vermutlich zu Recht – festgestellt worden, dass diese Politik nicht zuletzt von der Furcht vor einem Wiederaufleben des Nationalismus in der deutschen Bevölkerung getragen gewesen sei. Tatsächlich misstraute Adenauer den Deutschen und hatte auch keine hohe Meinung von ihrem Verhalten in der Zeit des Dritten Reiches.

Fünftens

Begleitet sein musste diese Politik, wenn sie denn glaubhaft sein sollte,  schließlich auch von einer überzeugenden Abkehr vom nationalsozialistischen Ungeist und der Übernahme der daraus resultierenden Verantwortung. Hier setzte er mit dem Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952 an, das Warenlieferungen im Umfang von 3 Milliarden DM an Israel und eine Globalzahlung von 450 Millionen DM an die Conference on Jewish Material Claims against Germany vereinbarte. Zudem anerkannte die Bundesrepublik im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 Schuldansprüche von 65 Gläubigerstaaten in einer Höhe von 14 Milliarden DM.

 

 

III.

 

Vor dem Hintergrund dieser Prämissen entwickelte sich die deutsche Außenpolitik des ersten Nachkriegsjahrzehnts, freilich nicht im Sinne eines „Masterplanes“, den der Kanzler nun ausführte, sondern vielmehr im Sinne einer Grundorientierung, die auf die Bewältigung der vielfältigen unkalkulierbaren Krisen und außenpolitischen Entscheidungssituationen ziemlich unbeirrbar angewandt wurde. Nur einige wichtige Stationen seien hier angesprochen.

Am 30. Oktober 1949 durfte die eben erst gegründete Bundesrepublik in die OEEC eintreten, eine Planungsbehörde, die die amerikanischen Marshallplanhilfen für die europäischen Wirtschaften organisierte. Am 9. Mai 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman vor, die deutsche und französische Kohle- und Stahlproduktion gemeinsam zu organisieren und auch andere Europäer zu diesem Schritt zu ermuntern. Adenauer griff das Angebot umgehend und gerne auf, weil es seinen alten, in den 1920er Jahren schon entworfenen Plänen entsprach, weil es die Aussöhnung mit Frankreich voranbrachte und eben jenen Wirtschaftsaufschwung zu befördern versprach, dessen das darniederliegende Deutschland unabdingbar bedurfte, um dem Westintegrationskonzept überhaupt zum Erfolg zu verhelfen.

Der ursprünglich von Jean Monnet ausgearbeitete Plan bezweckte natürlich auch die fortwährende Kontrolle über die deutsche Montanindustrie, aber er diente doch eben auch dem Zweck der europäischen Integration und damit einer Sicherung gegen etwaige neue Kriege in Europa. Es dauerte kein Jahr bis zur Unterzeichnung des Vertrages (18. April 1951), in dem Deutschland nun bereits wieder als selbständiger Staat erscheint und ziemlich gleichberechtigter Partner in der inneren Organisation der Montanunion wurde.

Diese Politik lohnte sich ganz offensichtlich: am 6. März 1951 kam es zu einer kleinen Revision des Besatzungsstatuts, indem der Bundesrepublik ein eigenes Außenministerium zugestanden wurde. Am 9. Juni 1951 beendeten die Westmächte ganz offiziell den Kriegszustand mit Deutschland. Am 15. Juni 1950 wurde Deutschland in den Europarat aufgenommen. Am 10. August 1951 trat die BRD dem allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT bei.

Die im Zeichen des Koreakrieges immer präsentere Gefahr der kommunistischen Expansion erhöhte den Druck auf die europäische Integration und ließ bereits kaum fünf Jahre nach Kriegsende die Diskussion um eine deutsche Wiederbewaffnung entstehen. Im Rahmen dieses deutschen Wehrbeitrages entstand ein Plan, der die Europäer vielleicht so nahe an den Wunschtraum einer politischen Europäischen Union heranführte wie seitdem nicht mehr. Als der französische Ministerpräsident René Pleven im Oktober 1950 vorschlug, eine gemeinsame Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) zu schaffen, schien gleichsam alles im Sturmschritt möglich.

Auch hier griff Adenauer begeistert zu und unterzeichnete am 27. Mai 1952 die entsprechenden Verträge, nicht nur weil er einen deutschen Verteidigungsbeitrag zur Abwehr des Kommunismus für nötig erachtete, der sich für ihn ganz selbstverständlich nicht auf nationaler, sondern nur auf europäischer Ebene vollziehen konnte, sondern auch weil dies ein wirklich großer Schritt auf dem Weg zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa gewesen wäre.

Überhaupt war das Jahr 1952, wie Manfred Funke einmal gemeint hat, eine Art „Revolutionsjahr“ auf dem Weg zur Westintegration, weil neben dem Genannten so viele andere einschlägig wichtige Entscheidungen getroffen wurden: In dieses Jahr fällt ja auch die Ablehnung der Stalinnote, der Luxemburger Vertrag mit Israel, auch der Beginn der Aushandlung des Deutschland-Vertrages mit den Alliierten, die Aufnahme in den Internationalen Währungsfonds und die Internationale Bank für Aufbau und Entwicklung etc. etc.

Letztlich allerdings überforderten diese Anläufe, insbesondere das EVG-Projekt, das durch den Krieg noch wunde französische Nationalbewusstsein. Die EVG scheiterte denn auch am 30. August 1954 an der französischen Nationalversammlung, die das Thema von der Tagesordnung nahm.

Das Scheitern von EVG und EPG jedoch sollte sich letztlich nicht negativ auf Adenauers Kurs auswirken. Die Sorge um die transatlantischen Beziehungen und das als unbedingt notwendig erachtete Engagement der USA in Europa zur Abwehr des Kommunismus bewegte die Westeuropäer zu den Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954, in denen der Bundesrepublik die volle Souveränität wieder übertragen und das Tor zur neugeschaffenen WEU wie zur NATO mit einem eigenständigen deutschen Wehrbeitrag geöffnet wurde.

Das hierfür notwendige weitgehende Entgegenkommen Adenauers, etwa in der Saarfrage, war sehr heftig umstritten und dennoch stimmte der Bundestag im Februar 1955 dem Vertrag zu, der mit seinem Inkrafttreten am 5. Mai 1955 die gleichberechtigte Rückkehr Westdeutschlands unter die Mächte der Welt möglich machte. Die Westbindung, so lässt dieser Verlauf erkennen, war also ein Projekt, das die wirtschaftliche, politische und militärische Ebene miteinander verzahnte und die BRD fest im Westen verankerte.

An Adenauers Konzeption änderte das Erreichen des zunächst wichtigsten Zieles, der Wiedererlangung der Souveränität, nichts, wie die fortwährende engagierte europäische Integrations- und Versöhnungsarbeit beweist: 1957 wurde die für alles Weitere so grundlegend wichtige EWG geschaffen und 1963 im Elysee-Vertrag die Aussöhnung mit Frankreich auch vertraglich besiegelt, um nur zwei Beispiele zu nennen.

 

 

IV.

 

Da Konrad Adenauer als erstem Bundeskanzler die Realisierung des Westbindungskurses zufiel und er unbeirrt an diesem Konzept festhielt, erscheint die Westbindung oft ausschließlich als seine genuine Idee, sein Werk und sein Erfolg.

Dies gilt es allerdings, ohne die Bedeutung des Kanzlers auf diesem Gebiet zu schmälern, zu relativieren. Denn zunächst und vor allem: Der Gedanke, das „unruhige Reich“ in der Mitte Europas aus seiner fatalen Rolle durch eine konsequente Einbindung in europäische Strukturen zu bändigen und damit einen dauerhaften europäischen Frieden zu schaffen, war nicht neu. Nicht nur Adenauer selbst hatte dieses Vision schon in den 1920er Jahren propagiert, viele andere dachten in die gleiche Richtung. Die Last der Verbrechen des Nationalsozialismus fügten der europäischen Perspektivierung dann weitere moralische Komponenten hinzu. So entstanden bereits im Widerstand gegen den Nationalsozialismus Konzepte, die Elemente des Westintegrationskurses der Nachkriegszeit enthielten.

Dass ohne eine fundamentale Neuorientierung und moralische Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik keine Zukunft vorstellbar sei, erklärte z.B. 1942 schon Helmuth James Graf von Moltke seinem englischen Freund Lionel Curtis: „Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder Plänen. Europa nach dem Kriege ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden.“

Bemerkenswert konkret analysierte auch die studentische Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ in München neue Maximen außenpolitischen Handelns. Im 4. ihrer Flugblätter z.B. hieß es: „Trennt Euch rechtzeitig von allem, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt. Nachher wird ein schreckliches, aber gerechtes Gericht kommen über die, so sich feig und unentschlossen verborgen hielten. Was lehrt uns der Ausgang dieses Krieges, der nie ein nationaler war? Der imperialistische Machtgedanke muss, von welcher Seite er auch kommen möge, für alle Zeit unschädlich gemacht werden. Ein einseitiger preußischer Militarismus darf nie mehr zur Macht gelangen. Nur in grosszügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird.“

Freilich mussten diese grundlegenden, richtungweisenden Ideen noch in ein pragmatisches, politisches Programm übersetzt werden. Doch auch auf diesem Feld fand Adenauer Mitstreiter, die verwandte Ideen entwickelten. Nicht zufällig wohl findet man bei genauem Hinsehen ähnliche Programme im rheinischen Katholizismus am häufigsten, eher selten in der SPD, die unter ihrem ersten Vorsitzenden Kurt Schumacher national orientiert die deutsche Wiedervereinigung für das vorrangige politische Ziel hielt und – so Schumacher – eher ein sozialistisches deutsches Reich in einem europäischen sozialistischen Staatenverbund anstrebte.

Ganz ähnlich wie Adenauer dachte und handelte z.B. der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier. Schon seine ersten Reden im Jahr 1946 zeigen die entscheidenden Elemente des radikalen Bruchs mit der Außenpolitik der Vergangenheit, die strikte Westorientierung, die Aussöhnung mit Frankreich und als wichtiges Mittel dazu wirtschaftliche Verflechtung mit dem Westen, in dessen Rahmen Sicherheit vor der kommunistischen Bedrohung gefunden werden sollte. So verdeutlichte es Altmeier in einer Rede vom Mai 1946: „Vom Westen gingen einstens in der Blütezeit abendländischer Kultur Impulse für das Reich aus, und so hat er auch jetzt, da wir an die Neuordnung herangehen, wieder seinen Platz in der abendländischen Geschichte und seine große Aufgabe, das schlagende Herz eines friedlich, gedeihlich zusammenwirkenden Europas zu erfüllen.“

Ende 1946 forderte er in der Beratenden Landesversammlung eine „neue konstruktive Ordnung der europäischen Wirtschaft“ und sprach den Wunsch aus, dass die deutsche Wirtschaft in eine „Verbindung […] mit der unserer westeuropäischen Nachbarn“ gebracht werde, denn nur eine „solche Wirtschaftseinheit“ könne die anstehenden Probleme lösen. In der gleichen Rede erklärte er die deutsche Katastrophe recht einseitig, aber in unserem Zusammenhang doch erhellend als die Folge einer Verlagerung des politischen Schwerpunktes nach Preußen, die unbedingt rückgängig gemacht werden müsse. „Wir stehen nunmehr vor der Notwendigkeit […] einer völligen Neuorientierung unserer deutschen Politik. […] Als Menschen von Rhein und Pfalz, die niemals das abendländische Geisteserbe und die traditionelle Verbindung mit den Völkern Westeuropas verleugnet haben, bekennen wir uns auch heute wieder aus innerster Überzeugung zu unserer Verpflichtung, den geistigen und politischen Kern der deutschen Neuordnung zu bilden und damit zugleich die Eingliederung Deutschlands in die Gemeinschaft der europäischen Völkerfamilien zu vollziehen.“

Die besondere Aufgabe des Bundeslandes Rheinland-Pfalz sah er in diesem Konzept in der Herstellung „einer Vertrauensatmosphäre“, insbesondere zu dem westlichen Nachbarn Frankreich wie er beim ersten CDU-Landesparteitag 1947 formulierte. Und in der Frage der deutschen Einheit legte er ein Bekenntnis ab, das Konrad Adenauer wohl nicht anders formuliert hätte: „Wir bewundern den heroischen Kampf, den insbesondere unsere Freunde der CDU der russischen Zone gegen den Terror eines doktrinären Marxismus mit vorbildlichem Mut und unter großen Wagnissen führen. Wir wünschen, daß dieser Kampf erfolgreich sein möge […]. Aber wir lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß wir uns jeder politischen Lösung widersetzen, die in ihrer praktischen Konsequenz dazu führen würde, die Herrschaft des kollektivistischen Marxismus auf unser Land auszudehnen und so die christlichen Lebensgrundlagen unserer Kultur zu untergraben. Es gibt für uns auch in der Politik eine Rangordnung der Werte, und an der Spitze dieser Werteordnung steht für uns der Gedanke von der Freiheit des Christenmenschen“.

Vor diesem Hintergrund ist es schließlich nicht verwunderlich, dass Altmeier im Kreise der Ministerpräsidenten in der Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik mitverantwortlich zeichnete für Entscheidungen, die praktisch Adenauers Westbindungspolitik bereits vorbereiteten und dabei wiederum abhängig waren von Festlegungen, die die Besatzungsmächte getroffen hatten.

Gleichwohl: Westbindung und Westintegration in der außerordentlich scharfen innenpolitischen Kontroverse durch- und umgesetzt zu haben, bleibt das Verdienst des ersten Bundeskanzlers.

Und nicht zu unterschätzen ist auch die Totalität der Westbindungsansätze, die Adenauers umsetzte – ganz gleich ob es die Sicherheits- oder Wirtschaftspolitik anbelangt, ob Kultur oder Rechtswesen: in jeder Hinsicht wurde das neue Westdeutschland mit wechselnden Partnern in immer neuen Konstellationen im Westen verankert. Am Ende galt den Deutschen sogar in ihrem Lebensstil, in Musik und Kunst bis hin in das Alltagsleben nur das modern, was aus dem Westen kam. So wurden aus den Westdeutschen Westeuropäer. Und damit bezeichnen gerade die 1950er Jahre eine entscheidende Zäsur in der politischen Geschichte Deutschlands.

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