Ambivalenzen der Macht

Im Rahmen der Veranstaltung "Romano Guardini", 30.01.2020

I. Zur Aktualität des Themas Macht in Kirche und Gesellschaft

 

Das Thema Macht ist derzeit in Kirche und Gesellschaft von besonderer Brisanz und ermöglicht einen fokussierten Blick auf zentrale Umbrüche und Debatten der Gegenwart. Drei Aspekte sind dabei besonders virulent.

(a) Macht ist das Querschnittsthema des Synodalen Weges. Es ist dasjenige, das die drei anderen Foren analytisch miteinander verbindet: Bei den Themenfeldern Sexualität/sexueller Missbrauch, priesterliche Existenz/Verhältnis Kleriker und Laien, Frauen in Diensten und Ämtern/Geschlechtergerechtigkeit handelt es sich jeweils um asymmetrische Machtgefälle. Diese haben zu Gewalt, Exklusion oder mangelnder Partizipationsmöglichkeit geführt bzw. werden als Ursache dafür vermutet. Die Analyse der Problemzusammenhänge unter dem Aspekt der Macht ermöglicht eine gewisse Abstraktion und kann hilfreiche Kriterien für ihre Bewältigung bereitstellen. Die bedrängende Frage lautet: Ist die Kirche durch Sakralisierungen der Macht für ihren Missbrauch besonders anfällig?

(b) Auch gesellschaftlich ist das Machtproblem derzeit von besonderer Bedeutung: Seit ca. zehn Jahren breiten sich autoritäre Regime und Herrschaftsformen zulasten der Demokratien weltweit aus. Nicht selten wird die Macht des Rechts durch das Recht der Macht ersetzt. Der „Neorealismus“ hat dies schon früh kommen sehen und den vermeintlich naiven Idealismus kosmopolitischer Ethik ethisch-politisch kritisiert. Als sozial-ethische Frage ergibt sich daraus: Wie kann der nüchterne Blick für die Härte gegenwärtiger und künftig zu erwartender Machtkonflikte in der Weltpolitik mit dem Aufrechterhalten moralischer Standards internationaler Kooperation, Fairness und Friedenssicherung verknüpft werden?

(c) Ein dritter Aspekt der besonderen Aktualität des Themas ergibt sich aus der ökologischen Diagnose der Gegenwart: Die Expansion der Macht des Menschen über die Natur war in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten so erfolgreich, dass sie in ihr Gegenteil umzukippen droht. Der Klimawandel veranschaulicht dies besonders bedrängend. Guardinis Diagnose vom Ende der Neuzeit scheint sich hier in einer Weise zu bestätigen, die er selbst so radikal vermutlich nicht geahnt hat. Jedenfalls ist seine These aktueller denn je: „Für die kommende Epoche geht es im Letzten nicht mehr um die Steigerung der Macht, […], sondern um deren Bändigung. Den Sinnmittelpunkt der Epoche wird die Aufgabe bilden, die Macht so einzuordnen, dass der Mensch in ihrem Gebrauch als Mensch bestehen kann.“ Heute stehen wir am Beginn eines Epochenwandels, dessen humanes Gelingen von einem Paradigmenwechsel im Umgang mit der Macht abhängt. In diesem Sinne postuliert Papst Franziskus (der stark von Guardini geprägt ist) eine „kulturelle Revolution“ und schlägt als Kompass hierfür das Konzept der „ganzheitlichen Ökologie“ vor.

 

II. Ambivalenzen der Macht

 

Leitthese meiner Ausführungen ist, dass eine Bändigung der Macht nur gelingen kann, wenn man ihre Ambivalenzen im Blick hat, also sowohl ihre negativen wie ihre positiven Seiten. Oft wird die konstruktive Seite der Macht vergessen: Medial geprägt durch Negativschlagzeilen von Machtmissbrauch, Gewalt und Korruption, übersehen wir, dass unser Alltag ebenso von zahllosen Beispielen positiver Machtausübung geprägt ist: Sie ermöglicht und strukturiert das gesellschaftliche Zusammenleben. Ohne Macht ist kein Handeln möglich. Jeder, der ein Amt innehat, übt Macht aus.

Um es mit Guardinis Gegensatzlehre zu sagen: Leben spielt sich stets im Spannungsgefüge von Macht und Ohnmacht, im Wechselspiel von herrschen und beherrscht werden, ab. Macht ist ein konstitutiver Teil des Lebendig-Konkreten. Wer nur ihre Zerrbilder wahrnimmt, hat vom Leben ebenso wenig begriffen wie derjenige, der Machtkonflikte idealisierend übersieht. Macht ist Potenzial und Gefährdung zugleich. Macht ist ambivalent. Es gilt, ihre Janusköpfigkeit zu entziffern, ihr Gesicht der Stärke und Handlungsmacht, aber auch ihr Gesicht von Gewalt und Missbrauch. Nur wer die Ambivalenzen der Macht kennt, kann ihre Schattenseiten bändigen. Die Parole der anarchistischen Punkband Ton Steine Scherben „Keine Macht für niemand“ ist also nicht das Motto, dem ich folge. Denn man braucht Macht, um die Macht zu bändigen.

 

III. Begriffsbestimmung

 

Ein relationaler und handlungs­bezogener Begriff

Macht ist ein relationaler Begriff: Sie ist an die Beziehung zwischen der „Quelle“ (der machtausübenden Person) und dem „Ziel“ gebunden. Einige Autoren unterscheiden zwischen Macht und Einfluss. Macht wird meist als Potential, beabsichtigte Wirkungen zu erzielen, gesehen. Einfluss ist dann die Aktualisierung der Macht. Sie ist ein Relationsgefüge, das Akteuren bzw. Systemen einen Dispositionsspielraum gibt, auf andere sowie auf Prozesse Einfluss auszuüben.

Etymologisch ist Macht ein auf Handlungsfähigkeit bezogener und damit positiv besetzter Begriff (der deutsche Begriff leitet sich ab vom gotischen magan, können, mögen, vermögen). Von diesem Wortfeld her meint Macht also wesentlich ein Vermögen, eine Potenz oder die Fähigkeit, ein gesetztes Ziel zu erreichen. Alltagssprachlich wird Macht oft ähnlich verwendet wie Kraft, Stärke, Autorität oder auch Befugnis, Vollmacht, Herrschaft, Einfluss, Gewalt. Sie ist das Vermögen einer Person oder Gruppe, ihre Ziele gegen Widerstände durchzusetzen, etwa äußere Umstände, den Willen Dritter oder Widerstände in der eigenen Person.

Eine hierzu passende recht prägnante Definition der Macht bietet Guardini, wenn er diese als die Fähigkeit, Realität zu bewegen, beschreibt. Sie setzt – so Guardini – einen Willen voraus, der Ziele setzt. Zu ihr gehört Sinngebung. Von daher ist der Begriff nicht sinnvoll auf Naturgewalten anwendbar. Macht ist ein spezifisch menschliches Phänomen.

Macht prägt soziale Gemeinschaften und ordnet das Zusammenleben. Dabei können die Formen, in denen Macht ausgeübt wird, ganz unterschiedlich sein. Macht ist Bestandteil aller menschlichen Beziehungen, prägt unseren Alltag, strukturiert unser Zusammenleben, verleiht Handlungsfähigkeit oder führt zu Abhängigkeiten. Jeder, der Macht besitzt, muss mit ihr umgehen können und Entscheidungen treffen.

Gerade weil die wechselseitige Beeinflussung von Menschen allgegenwärtig ist, bergen Reflexionen zum Begriff der Macht die Gefahr, in einer unbestimmten Weite zu zerfasern und auszufransen. Deshalb gewinnt der Begriff nur dann eine wissenschaftliche Kontur und Aussagekraft, wenn er als Konfliktbegriff verstanden wird: Macht wird dann zum Thema, wenn der Einfluss einer Person oder Institution als ungerecht empfunden wird. Machtprobleme haben in der Regel mit Kompetenzüberschreitungen in asymmetrischen Beziehungen zu tun: Eine Seite nutzt ihre Überlegenheit, um andere zu unterdrücken.

Die Kunst einer angemessenen Handhabung des Begriffs als Analyseinstrument für soziale Beziehungen besteht jedoch darin, in der Auseinandersetzung mit den Problemen von oppressiver Macht nicht den Blick für ihre positive Seite als einem integralen Bestandteil von Handlungsfähigkeit zu verstellen. Erst die Idee einer legitimen und verantwortlichen Handhabung von Macht verleiht der Kritik ihre Kontur. Der Titel meines Vortrags „Ambivalenzen der Macht“ zielt auf die Gleichzeitigkeit von konstruktiver und kritischer Perspektive.

Die philosophische Entdeckung der Macht

Die Macht als philosophisches Problem ist eine sophistische Entdeckung. In Platons Dialogen äußert der Sophist Trasymmachos die These, dass gerecht sei, was den Mächtigen nutzt. Platon setzt dagegen, dass die Macht ihrem Wesen nach vernunftbestimmt sei. Der alte Streit kehrt in der Geschichte in vielfältigen Neuauflagen immer wieder, so z. B. bei Machiavelli, dessen Position derjenigen der Sophisten ähnelt, oder gegenwärtig bei den Neorealisten, deren Deutung der Politik als Ränkespiel der Macht nach dem Muster einer self fulfilling prophecy zugleich zur Ursache dafür wird.

Aristoteles entwickelt als erster eine politische Theorie der Herrschaft (arché). Er definiert diese als Herrschaft von Freien über Freie und grenzt sie von der Sklaverei ab. Dadurch wird die Fähigkeit, im Diskurs Zustimmung zu erringen, zum entscheidenden Mittel der Macht. Diese ist nicht mehr oppressiv konstituiert, sondern konsensual.

Cicero unterscheidet zwischen potestas im Sinne der Amtsgewalt und auctoritas im Sinne personaler Autorität. In seinem Lebensbericht schreibt er, dass er trotz gleicher Amtsgewalt alle Kollegen an Ansehen (auctoritas) weit übertroffen habe. Daran knüpft später die Unterscheidung zwischen weltlicher Macht und geistlicher Macht an, wobei letztere in der Tradition der auctoritas verstanden wird.

Glaube im Zeichen des Macht-Ohnmacht-Gefälles

Religion ist nach Schleiermacher das Bewusstsein, von einer höheren Macht abhängig zu sein. Demnach hat Theologie zentral mit dem Thema Macht zu tun. Der Übermächtigkeit Gottes bzw. der Götter entspricht auf Seiten des Menschen als Kreatur das Gefühl der Abhängigkeit. Im Glauben sind Menschen mit einer Macht konfrontiert, die sie einerseits überschreitet, die sie andererseits als den Grund ihrer eigenen Existenz und damit als schöpferische Lebensmacht erfahren. Religionen ermächtigen, indem sie an den Grenzen des Lebens sinnstiftende Deutungsmodelle bereitstellen. Diese Ermächtigung geschieht aber immer im gleichzeitigen Bewusstsein der eigenen Ohnmacht. Gottesfürchtige Anerkennung der überlegenen Macht Gottes gilt der Bibel als Basis der Weisheit. Zugleich ist sie Grundlage der Freiheit, da die Bindung an das Unendliche Freiheit gegenüber dem Endlichen schafft.

Die Gläubigen suchen Anteil an der göttlichen Macht zu gewinnen. Insofern die Kirche Vermittler zwischen Mensch und Gott ist, geht diese Macht auf sie über. Geistliche Autorität ist das Handeln in der Vollmacht Gottes, nicht als Machtgewinn über Menschen, sondern in der Achtung ihrer Freiheit als Erhöhung ihrer Eigenständigkeit, Selbstwirksamkeit und Liebesfähigkeit. Augustinus postuliert, dass der Mensch nach Gottes Willen eigentlich niemals über den Menschen herrschen solle (non hominem homini dominari). Sklaverei sei keine natürliche Einrichtung, sondern Folge der Sünde. In der Politischen Theologie hat es allerdings sehr lange gedauert, bis man sich konsequent von dem Modell der Berufung auf Gott als Legitimation menschlicher bzw. kirchlicher oder politischer Herrschaft verabschiedet hat. Viele tun sich bis heute schwer, geistliche Macht radikal von der Freiheit her zu denken.

Macht als Fähigkeit, andere dem eigenen Willen zu unterwerfen

Max Weber hat die Analyse sich historisch wandelnder Konstellationen von Macht als soziologische Methode erschlossen. Er definiert Macht als Möglichkeit, andere dem eigenen Willen zu unterwerfen. Dabei geht er von einem teleologischen Handlungsmodell aus: Ein einzelnes Subjekt oder eine Gruppe hat sich einen Zweck gesetzt und wählt geeignete Mittel, um ihn zu realisieren. Soweit der Handlungserfolg vom Verhalten eines anderen Subjektes abhängt, muss der Akteur über Mittel verfügen, die den anderen zum gewünschten Verhalten veranlassen. Macht ist die Verfügungsgewalt über Mittel, den Willen eines anderen zu beeinflussen.

In seiner historischen Analyse der Transformation von Herrschaftsverhältnissen unterscheidet Weber zwischen der Legitimation von Macht durch Tradition, durch Charisma oder durch formale Verfahren. Charismatische Herrschaft ist durch persönliche Kompetenz legitimiert. Im Feudalismus wurde sie traditionell als gottgegeben betrachtet. In der Neuzeit gilt sie als sozial bedingt und damit hinterfragbar und veränderbar. Der reinste Typus der legalen Herrschaft ist für Max Weber die Bürokratie, die ihre behördlichen Vertreter – oft Beamte – durch Wahl oder Berufung einsetzt.

Macht durch kommunikatives Handeln

Ein Machtverständnis, das sich deutlich von Max Webers Konzept der Unterwerfung unter den eigenen Willen unterscheidet, hat Hannah Arendt entwickelt. Für sie ist Macht etwas, das in Kommunikation und Verständigung entsteht. So geschieht es in der Demokratie, wo Menschen einer Idee folgen, weil sie gemeinsam von dieser Idee überzeugt sind. Um diese Idee durchzusetzen, wählen sie Vertreter, die für eine bestimmte Zeit ihre Interessen repräsentieren. Arendt geht von einem kommunikativen Handlungsmodell aus: „Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ Das Grundphänomen der Macht ist nicht die Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke, sondern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation. Die Mobilisierung von Zustimmung erzeugt die Macht, die gesellschaftlich in bindende Entscheidungen transformiert wird.

Versucht man aus der hier nur sehr knapp skizzierten Begriffsgeschichte ein Resümee zu ziehen und einen Bezug zu Guardini herzustellen, sticht als prägendes Element das polare Spannungsgefüge zwischen
idealistischen und realistischen Zugängen ins Auge: Macht durch kommunikatives Handeln versus die Macht durch Gewalt oder formale Legitimation; die Macht liebender Hingabe versus Kampf in harten Machtkonflikten; das paradoxe Ineinander von Macht und Ohnmacht als ein Kern der christlichen und vielleicht jeder Gotteserfahrung. Dies kommt Guardinis Konzeption polarer Spannungsgegensätze als einer Grundstruktur des Lebendig-Konkreten entgegen. So erstaunt es nicht, dass das Thema Macht für sein Denken eine Schlüsselbedeutung hat.

 

IV. Die Macht der Machtlosen

Feindesliebe als weltfremde Ignoranz gegenüber Machtkonflikten?

Für Friedrich Nietzsche ist Feindesliebe ein Ausdruck von Schwäche und feiger Konfliktvermeidung. Sie zu postulieren widerspreche dem Gesetz des Lebens, in dem sich der Stärkere durchsetzt, was zwar oft hart und grausam sei, aber am Ende der evolutionären Höherentwicklung diene. Sigmund Freud greift dies auf und kommt in seinen psychologischen Analysen zu dem Schluss, dass die durch Moralgebote unterdrückte Aggression sich nicht selten unbewusst und unkontrolliert an anderen Stellen, z. B. in Kriegen, entlade. Ist unerbittlicher Machtkampf das Gesetz des Lebens? Ist das Gebot der Feindesliebe naiv und weltfremd?

Es lohnt sich, genauer auf den biblischen Befund zu schauen: Der Versuch einer Entschärfung des Konfliktes dadurch, dass man die Feindesliebe nur als Hochethos für die religiösen „Leistungssportler“ wie Mönche oder Heilige eingrenzt, ist unzureichend. Joachim Gnilka bezeichnet das Gebot der Feindesliebe als Kulmination der Ethik Jesu. Sie begegnet dem Feind nicht in der Form des aggressiven Kräftemessens, sondern in der Bereitschaft zu Versöhnung, Gewaltverzicht und der Schonung. Die Gesinnung der Feindesliebe bleibt jedoch nur solange moralisch qualifiziert, als sie sich von Resignation und passiv-wehrloser Schicksalsergebenheit unterscheidet. Feindesliebe zielt auf Entfeindung und Versöhnung. Sie entspringt einer eigenen Art von Mut und Stärke.

Das aus der Tiefe christlichen Glaubens erwachsende Ethos der Gewaltlosigkeit meint „eine aktiv-wandelnde, das Böse des Menschen in seiner Wurzel angreifende und überwindende Kraft.“ Bedingung für die Vereinbarkeit von kämpferischer und gewaltloser Gesinnung ist die Bereitschaft, dem Unrecht nicht auf Kosten anderer auszuweichen, sich nicht mit den Herrschenden, sondern mit den Leidenden zu solidarisieren. Historische Beispiele hierfür sind die sozialen Kämpfe von Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Berta von Suttner. Auch die Geschwister Scholl sind ein leuchtendes Beispiel für die Macht der Machtlosen, die letztlich auch durch ihre Hinrichtung nicht gebrochen werden konnte. Bis in die Gegenwart erleiden zahllose christliche Märtyrer lieber den Tod, als sich durch Verleugnung ihres Glaubens der Macht zu beugen. Auch wenn dies oft vergeblich und sinnlos erscheint, ist das Martyrium um des Glaubens an Freiheit und Gerechtigkeit willen doch eine Form des geistigen Widerstandes, der in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte.

Strategien des gewaltlosen Widerstandes

Inspiriert u. a. von der Bergpredigt hat Mahatma Gandhi diese Macht der Machtlosen mit seiner Strategie des gewaltlosen Widerstandes sehr erfolgreich angewendet. Hier liegt ein Potential für den versöhnenden Umgang mit Macht, das bisher in der Christlichen Sozialethik kaum systematisch erschlossen ist. Gandhi hat die Methode des gewaltlosen Widerstandes zu einer zivilgesellschaftlichen Strategie entfaltet. Sie durchbricht den Kreislauf der Gewalt durch den konsequenten Verzicht auf bewaffnete Macht und lässt so die Gewalt des Gegners als Unrecht sichtbar werden.

Gandhi war durchaus machtbewusst: Er hat die Macht der Medien entdeckt und zu nutzen gewusst, indem er durch Bilder und Zeitungsberichte von der rohen Gewalt der Besatzungsmacht gegen ihn und seine Mitkämpfer gezielt das Rechtsbewusstsein der Briten ansprach. Gandhi war kämpferisch, aber nicht im Vertrauen auf die Macht der rohen Gewalt, sondern im Vertrauen auf die überlegene Macht des Rechts und des Normbewusstseins. Man kann dies dem Politikverständnis von Hannah Arendt zuordnen: Macht durch kommunikative Verständigung.

Gandhi und seine Mitkämpfer waren bereit, den Preis auf dem Weg dorthin zu zahlen und sich lieber niederknüppeln zu lassen, als zu Waffen zu greifen. Letztlich waren sie erfolgreich. Sie haben das Gewissen der Besatzungsmacht und der Öffentlichkeit herausgefordert und dabei mit großem Geschick strategisch die Medienberichte und -bilder genutzt. Das war keine feige Unterordnung, sondern ein unbeugsamer Mut innerer Freiheit und Friedensbereitschaft im konsequenten Vertrauen auf die Macht des Rechts.

Wer sich im gewaltlosen Kampf der Macht des Feindes ausliefert, braucht ein Höchstmaß an Mut. Er oder sie muss mit Grausamkeit, Folter und Gefangenschaft rechnen. Die Methode des gewaltlosen Widerstandes hat sich jedoch in Indien und seither unzählige Male als revolutionäre und friedensstiftende Kraft bewährt. Aber es ist auch nüchtern zu realisieren, dass dies bei weitem nicht jedes Mal gelingt. So wurden beispielsweise am Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 über zweitausend Demonstranten, die gewaltlos zum Widerstand aufriefen, ermordet. Möglicherweise ist das Scheitern des gewaltfreien Widerstandes häufiger als der Erfolg. Auch der Widerstand der Geschwister Scholl 1943 ist ein Beispiel des Scheiterns. Nicht jedoch der Wirkungslosigkeit: Ohne das Blutzeugnis der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus wäre das Vertrauen der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg, Deutschland als politisches Gefüge nicht zu zerschlagen, sondern ihm beim Wiederaufbau zu helfen, kaum denkbar gewesen.

Ein positives Beispiel für die Macht des gewaltlosen Zeugnisses für die Gerechtigkeit sind die Dissidenten und Märtyrer der ehemaligen Ostblockstaaten, die mit ihrem Widerstand Keimzellen für den Zusammenbruch der totalitären Systeme geschaffen haben. So begründete Václav Havel sein freiwilliges Verbleiben im Land, das für ihn die Inkaufnahme jahrelanger Gefängnisaufenthalte bedeutete, mit dem Willen, von seinem Glauben an die Gerechtigkeit Zeugnis abzulegen. Die totalitären Machthaber fühlten sich davon provoziert und bedroht. Havel selbst spricht vom Sieg in den „Niederlagen mehrjährigen Gefängnisses“ und vergleicht dies mit dem Sieg des Kreuzes. 1989 ist die friedliche Revolution in den osteuropäischen Ländern gelungen.

Auch der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika ist ein erfolgreiches Beispiel für die Macht der Machtlosen: Nelsen Mandela hat nach 27 Jahren Gefängnis ganz ohne Verbitterung die politische Versöhnung zwischen Schwarzen und Weißen zu seinem zentralen politischen Ziel erklärt. Dass der Weg zu einem wirklichen Neuanfang durch „healing of memories“ und Gerechtigkeit gegenüber den Opfern ein langer und steiniger Weg ist, sollte allerdings nicht vergessen werden.

Letztlich sind all diese Beispiele nicht denkbar ohne Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens auf die Kraft der Versöhnung und des kommunikativen Handelns setzen. Dies hat mit dem Kern der biblischen Überlieferung zu tun: Alle Propheten haben aus der Position der Schwäche heraus für das Recht gekämpft. Dem biblisch fundierten Ethos des gewaltlosen Widerstandes liegt ein kommunikatives Verständnis von Macht zugrunde. Das findet sich aber keineswegs nur im Christentum, sondern beispielsweise auch bei Laotse, wenn er formuliert, „Weich besiegt hart“. Politiktheoretisch lässt sich das auf Verständigung hin ­orientierte Handeln in die Linie von
Hannah Arendt einordnen.

Auch Guardini steht in dieser Tradition: Für ihn ist Demut die „erlösende Antwort auf das Problem der Macht, die das Christentum gibt“. „Gott selbst tritt in die Welt und wird Mensch. Jesu ganzes Dasein ist Übersetzung der Macht in Demut.“ Demut ist der Mut zu dienen. Die Grundbewegung des christlichen Glaubens ist nicht der Aufstieg des Menschen zu Macht und Herrschaft, sondern das Herabsteigen Gottes zum Menschen und den Abgründen des Daseins. Demut ist die erlösende Antwort auf das Problem der Macht.

Subsidiarität: Wegweiser für eine Organisation der Macht als Dienst

Aus sozialethischer Sicht genügt es nicht, auf die Tugend der Demut zu verweisen, um den Missbrauch der Macht zu bändigen. Es braucht auch strukturelle Lösungen. Der wichtigste Weg hierzu ist Gewaltenteilung, das heißt die wechselseitige Kontrolle von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Gewaltenteilung ist ein Korrektiv gegen die Zentralisierung von Macht. Hilfreich hierfür ist auch das sozialethische Prinzip der Subsidiarität. Es ist ein wegweisender Kompass gegen die Entmündigung der Vielen durch die Zentren der Macht. Es wird in der Kirche bisher allerdings nur wenig und unvollständig rezipiert. Subsidiarität ist für die Kirche gerade aufgrund ihrer hierarchischen Struktur von besonderer Bedeutung. Sie zielt auf Einheit in Vielfalt, auf einen gesunden Pluralismus und schlanke Hierarchien. Sie schützt Eigenverantwortung und Partizipation der untergeordneten Einheiten. Subsidiarität zielt auf ein mündiges Christentum in einer selbstbewussten Kirche.

Subsidiaritätsprinzip ist ein Kompetenzanmaßungsverbot, das die Intervention und Macht der übergeordneten Instanzen auf das Maß begrenzt, das für die untergeordneten Einheiten zur Erhöhung ihrer Handlungsfähigkeit hilfreich ist. Macht wird in den Dienst der Befähigung zu möglichst eigenständiger Problemlösung in den Dienst genommen. Subsidiarität zielt auf Empowerment, also Vermehrung von Machtressourcen der untergeordneten oder marginalisierten Gesellschaftsmitglieder. Die massive Machtasymmetrie in der Katholischen Kirche zugunsten der Männer wird von vielen als ein Verstoß gegen Subsidiarität und Gerechtigkeit empfunden. Auch die massive Machtasymmetrie zwischen Klerikern und Laien ist oft nicht durch überlegene „auctoritas“ gedeckt.

Subsidiarität zielt darauf, dass solidarische Hilfe nicht paternalistisch zur Erzeugung von Abhängigkeit und damit zur Ausnutzung von Machtpositionen genutzt wird. Sie setzt auf einen kommunikativen Machtbegriff, der diejenigen, die Hilfe brauchen, nicht dominiert, sondern sie so unterstützt, dass ihre eigenen Potenziale aktiviert werden. Sie ist Maßstab und Weg eines freiheitszentrierten Gebrauchs der Macht. Mit dem Postulat einer „heilsamen Dezentralisierung“ hat Papst Franziskus eine zentrale ekklesiologische Umsetzung der Subsidiarität ins Gespräch gebracht. Sie versteht Katholizismus als „Einheit in Vielfalt“ und Partizipation statt Obrigkeitszentrierung. Subsidiarität versteht Amtsmacht konsequent ­
als Dienst.

Die Einheit des polaren Spannungefüges von Macht und Dienst kann – so Guardini – nur dann geistig gelingen, wenn sie „durch die personale Mitte geht“. Das braucht lebendige Aneignung, echte Überzeugung und inneres Einstehen auch für Leitungsverantwortung. Ein verantwortlicher Gebrauch der Macht wird jedoch nur dem gelingen, der sich stets ihrer Ambivalenz und Missbrauchsgefahr bewusst ist und sich täglich neu darum müht, sie menschen- wie sachgerecht auszuüben. Es geht um Macht im Dienst der Sorge. Auch in dem weltweiten Erstarken autoritärer Politikmuster entfernen wir uns derzeit von diesem Ideal.

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